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Die Mühle am Kehrenbach, oder: Die Legende von Henner, dem Melsunger Bachmüller


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Der Mensch opfert seine Gesundheit, um Geld zu machen.
Dann opfert er sein Geld, um seine Gesundheit wiederzuerlangen.
Und dann ist er so ängstlich wegen der Zukunft, dass er die Gegenwart nicht genießt.
Das Resultat ist, dass er nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft lebt.
Er lebt, als würde er nie sterben.
Und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.
(Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama)



Es war einst ein Müller namens Heinrich, den alle nur Henner nannten. Seine Mühle stand am murmelnden Kehrenbach, in der Nähe der alten Stadt Melsungen. Dort drehte sich das Mühlrad unermüdlich, und das feine Mehl seiner Mühle erlangte weiten Ruhm. So wie das Rad unaufhörlich kreiste, schuftete Henner Tag und Nacht – gefangen im Rhythmus der Arbeit, als ob darin allein das Versprechen des Lebens lag.

Doch die Mühle gehörte nicht ihm, sondern dem Landesfürsten, dessen Pacht ihm die Bürde des Erfolgs auferlegte. Bereits als Kind hatte er miterlebt, wie ein anderer Müller beinahe alles verlor, weil er den Forderungen des Herrschers nicht nachkam. Diese Erinnerung brannte sich tief in sein Herz ein und wuchs zur Saat einer unstillbaren Angst, die ihm Zuflucht einzig im rastlosen Fleiß versprach. So zählte er Taler um Taler, getäuscht von der Illusion, dass Reichtum die Launen der Macht besänftigen könnte.

Noch bevor das erste Licht des Tages die Felder berührte, eilte Henner zur Mühle. Er prüfte jedes Zahnrad, jedes Korn, als könnte ihm diese Kontrolle fortwährend den drohenden Verlust abwenden. Sein Herz schlug im Takt des Mahlsteins, und das Knirschen des Getreides schien ihm die Melodie der Sicherheit zu liefern.

Nicht weit von ihm arbeiteten in den anderen Mühlen der Stadt Müller, die – obwohl auch sie die Last der Pacht zu tragen hatten – wussten, anders zu leben. Sie schafften sich Zeit, um das Leben zu genießen. Sie vereinten Arbeit und Lachen, aßen gemeinsam Brot und teilten Wein und gaben sich ganz dem Fluss des Lebens hin. Die Weisheit des unaufhörlich drehenden Mühlrads hatte sie gelehrt, dass die vergangene Zeit niemals zurückkehrt.

Henner hingegen lebte in einem Kerker aus Sorge und Misstrauen, den er selbst erbaut hatte. Kein Lachen fand dort Eingang, keine Ruhe durfte verweilen. Den Schlüssel zum Leben trug er bei sich – ohne zu ahnen, dass die Tür längst offenstand.


An einem kalten Novemberabend, als der Nebel den Kehrenbach wie ein stilles Tuch umhüllte, erschien eine alte Frau an der Mühle. In ihren Augen lag die Erinnerung an längst vergangene Herbsttage. Mit einer Hand, die von harter Arbeit zeugte, reichte sie Henner einen kleinen, ledernen Beutel und sprach: „Öffne ihn, wenn du spürst, dass die Zeit dir durch die Finger rinnt und die Angst dir den Atem nimmt. Vielleicht enthüllt er dir das, was im Rausch flüchtiger Sicherheiten verloren ging.“

Henner ergriff den Beutel hastig – nicht aus Neugier, sondern getrieben von dem Wunsch, der seltsamen Erscheinung zu entkommen. So fand der Beutel seinen Platz in einer verstaubten Ecke, unbeachtet, während draußen das Leben in stetigem Fluss an ihm vorbeizog.

Jahre vergingen. Der Schnee schmolz, der Bach trug Blüten davon, doch Henners Angst hielt ihn gefangen. Manchmal meinte er, im Plätschern des Bachs die Stimme der Alten zu hören: „Henner, öffne den Beutel, ehe deine Zeit verrinnt!“ Doch er verjagte diese Worte wie lästige Fliegen und kehrte zurück zu den Mahlsteinen – getrieben von der Furcht, auch nur einen Augenblick zu verlieren.

Mit jeder Umdrehung des Mühlrads schloss sich der Panzer um sein Herz immer fester, bis ihn eines Tages die Kraft verließ. Gebeugt und zitternd sank er zu Boden. Da erinnerte er sich an den Beutel. Mit unsicheren Fingern riss er das Leder auf – und fand nur ein einziges, verwelktes Blatt. In diesem Moment durchzuckte ihn die Erkenntnis: Alles, wovor er sich gefürchtet hatte, war längst geschehen. Nicht die Armut hatte ihn besiegt, sondern das Leben selbst, das er im ständigen Kampf gegen den Verlust nie gelebt hatte.

In jener Nacht schlief Henner ein und wachte nicht mehr auf. Das Mühlrad jedoch drehte sich weiter, angetrieben vom Bach – ohne je Mühe zu kennen. Müller kamen und gingen, lachten und weinten, doch nie wieder wurde jemand so sehr vom Takt der Arbeit gefangen wie Henner, der Bachmüller von Melsungen.

Und noch heute erzählt man sich, dass dort, wo sich der Kehrenbach hinter der alten Mühle in die Fulda ergießt, ein geheimnisvolles Raunen im Wasser liegt. Wer genau hinhört, mag die leise Stimme der alten Frau vernehmen, die sich mit dem Rauschen des Stroms zu einer Melodie vereint: „Sieh, Henner, wie der Bach mutig dem Weiten entgegen fließt. Er fürchtet nicht das Ende seiner Bahn, denn er wird ein Teil von etwas Größerem – so wie der Mensch, der lernt, seine Ängste im Strom des Lebens davon zu spülen. Lass deine Last fallen, ehe sie dich in dunkle Tiefen hinabzieht.“

Mancher Überlieferung zufolge wandelt Henners Geist noch immer am Ufer der Fulda, als suche er den Beutel, den er zu spät öffnete. Doch wer still den Wellen lauscht, vernimmt die Wahrheit, die der Strom verkündet: Alles Fließende findet seine Bestimmung im Loslassen – nicht im Festhalten.

© 2025 - Hans Jürgen Groß


Hinweis: Diese Erzählung ist frei erfunden und erhebt keinen Anspruch auf historische Genauigkeit oder tatsächlich stattgefundene Ereignisse. Sie dient der Unterhaltung und soll die Fantasie anregen.

Der Text ist Bestandteil meines Seminars: Achtsamkeit und Resilienz.

Harnings Mühle - die historische Bachmühle in Melsungen



Anmerkung:
Die Bachmühle in Melsungen, gelegen am Kehrenbach, hat eine lange Geschichte, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Erstmals urkundlich erwähnt wurde sie im Jahr 1293 als "Mole gelegen an dem Kornbache vor der Staid Mylsungen". Der Name Kehrenbach wird auf die germanischen Wörter "qairnus" (Kornmühle) und "quern" (Korn) zurückgeführt1.

Im Laufe der Jahrhunderte wechselten die Besitzer der Mühle mehrfach. So gehörte im Jahr 1384 ein Viertel der Bachmühle Werner von Schlutwinsdorf als landgräfliches Lehen. 
Im 15. Jahrhundert wurde sie häufig als herrschaftliche Einnahmequelle erwähnt. 

Im Jahr 1449 entzog der Landgraf und Schultheiß dem Meier die Mühle, da dieser keine Zinsen gezahlt hatte.

Ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte der Mühle war das 17. Jahrhundert. Im Jahr 1688 verkaufte Landgraf Karl von Hessen das Erbrecht an Christoph Wickmann, wodurch der Müller die Mühle erblich besaß.

Im 19. Jahrhundert erfuhr die Mühle einige bauliche Veränderungen. Um 1800 soll sie im Besitz der Familie Jacob gewesen sein. Auf einem Katasterplan von 1821 ist die Mühlenanlage mit vier oder fünf Mühlrädern verzeichnet. Im Jahr 1822 wurde über dem Eingangstor zur Mühle eine Inschrift mit den Initialen S o. G J(acob)? angebracht. Laut Flurkarte von 1843 war Johann Georg Zilch im Besitz der Mühle.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Mühle eine Modernisierung. Im Jahr 1903 kaufte Müller Hans Harning die Mühle von der städtischen Sparkasse. Es wurde eine Sauggasmotorenanlage installiert. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Bachmühle zu einer Handelsmühle. Im Jahr 1922/23 wurde eine Francis-Turbine eingebaut, die vier Wasserräder ersetzte. Später, im Jahr 1930, kam ein Dieselmotor hinzu.

Die Familie Harning prägte die Mühle über mehrere Generationen. Im Laufe der Zeit erfuhr die Mühle zahlreiche weitere bauliche Veränderungen und Erweiterungen, insbesondere im 20. Jahrhundert.
Im September 1992 wurde die Bachmühle schließlich stillgelegt.

Heute wird die Mühle Harning, die Bachmühle, als Außenstelle der Stadt Melsungen genutzt. Dort befindet sich das Kinder- und Familienbüro der Stadt Melsungen.

Quelle und weitere Informationen: https://is.gd/ZswL0Y


Harnings Mühle - die historische Bachmühle in Melsungen



Interpretation durch Google Gemini:

Die Geschichte von Henner, dem Melsunger Bachmüller, ist eine Parabel über die zerstörerische Kraft der Angst und die Bedeutung des Loslassens. Sie erzählt von einem Müller, der sein Leben der Arbeit und der Angst vor Verlust opfert, nur um am Ende festzustellen, dass er das Leben selbst verpasst hat.

Zentrale Themen:
  • Die Angst vor dem Verlust:
    Henner ist von der Angst getrieben, seinen Besitz und seine Sicherheit zu verlieren. Diese Angst wurzelt in seiner Kindheit und in der Erfahrung eines anderen Müllers, der unter dem Druck des Landesfürsten litt.
    Seine Angst führt zu einem zwanghaften Arbeitsverhalten und einem Leben in Isolation.
  • Die Illusion der Kontrolle:
    Henner glaubt, dass er durch harte Arbeit und Kontrolle sein Schicksal abwenden kann.
    Er klammert sich an materielle Sicherheit und vergisst dabei, dass das Leben unvorhersehbar ist.
  • Das verpasste Leben:
    Henner ist so sehr mit seiner Angst beschäftigt, dass er vergisst, zu leben.
    Er vernachlässigt zwischenmenschliche Beziehungen und die Freude am Leben.
  • Die Weisheit des Loslassens:
    Die alte Frau und das verwelkte Blatt symbolisieren die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung des Loslassens.
    Der Kehrenbach und die Fulda stehen für den Fluss des Lebens und die Notwendigkeit, sich ihm hinzugeben.
    Die anderen Müller in der Stadt zeigen, dass es möglich ist, trotz der Last der Pacht ein erfülltes Leben zu führen.
  • Die Erkenntnis im Angesicht des Todes:
    Erst im Angesicht des Todes erkennt Henner, dass er sein Leben vergeudet hat.
    Er begreift, dass nicht die Armut, sondern seine Angst ihn besiegt hat.
Symbolik:
  • Die Mühle: Symbol für die unaufhörliche Arbeit und den Kreislauf des Lebens.
  • Das Mühlrad: Symbol für die Zeit, die unaufhaltsam vergeht.
  • Der Kehrenbach und die Fulda: Symbole für den Fluss des Lebens und die Notwendigkeit des Loslassens.
  • Der lederne Beutel und das verwelkte Blatt: Symbole für die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung der Gegenwart.
  • Die alte Frau: Eine Art weise Figur, die Henner die Möglichkeit zur Erkenntnis bietet.
Interpretation:

Die Geschichte von Henner ist eine Warnung vor den Gefahren eines Lebens, das von Angst und Kontrolle bestimmt wird. Sie mahnt uns, das Leben in seiner Fülle zu genießen und uns nicht von der Angst vor dem Verlust lähmen zu lassen. Die Geschichte betont die Wichtigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben zu finden und die Weisheit des Loslassens zu erkennen. Die Geschichte will den Leser dazu anregen, sein eigenes Leben zu überdenken und sich zu fragen, ob er nicht auch von Ängsten getrieben wird, die ihn daran hindern, ein erfülltes Leben zu führen.





Alle Sagen und Legenden aus dem Melsunger Land

Audioversion:




Zusammenfassung:

"Die Mühle am Kehrenbach", erzählt die tragische Geschichte von Henner, einem Müller, der sein Leben der Angst vor Verlust und dem Streben nach materieller Sicherheit opfert. Gefangen im Rhythmus seiner Arbeit, verpasst er die Freude und Schönheit des Lebens. Eine alte Frau gibt ihm einen Beutel mit einem verwelkten Blatt, der ihn zur Erkenntnis führen soll. Doch erst im Angesicht des Todes begreift Henner, dass er nicht die Armut, sondern das Leben selbst verloren hat. Die Geschichte ist eine Parabel über die Wichtigkeit des Loslassens und die zerstörerische Kraft der Angst.


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