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Erdbeerernte in SpanienLidl setzt sich stärker für Pflückerinnen ein als Coop und Migros

Marokkanische Erntearbeiterinnen nach der Erdbeersaison auf dem Weg zurück nach Hause.

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Unter der Plastikverpackung leuchten sie bereits saftig rot, nur wenige sind noch etwas grün. Frische Erdbeeren aus Spanien liegen seit einigen Wochen bereits wieder in den Regalen bei Coop, Migros oder Lidl. 500 Gramm kosten aktuell 5.20 Franken. Gepflückt werden sie von marokkanischen Frauen unter misslichen Bedingungen.

Dokumentiert werden diese in der Schweiz von Nora Komposch. 2019 las sie erstmals in spanischen Medien, wie marokkanische Saisonarbeiterinnen in andalusischen Gewächshäusern zu Sex genötigt wurden. Auch von Demütigungen im Alltag wurde berichtet, wie etwa Strafen für Toilettenpausen. Seither hat das Thema die 30-jährige Geografin von der Uni Bern nicht mehr losgelassen. Für ihre Doktorarbeit verbrachte sie in den letzten drei Jahren sieben Monate in Huelva, dem Epizentrum der europäischen Erdbeerproduktion, einer Stadt etwas südlich von Sevilla. Mit Beeren werden dort jährlich bis zu drei Milliarden Euro erwirtschaftet.

«Besonders für die Frauen auf den Plantagen ist die Situation prekär», sagt Komposch, die rund fünfzig Erntearbeiterinnen für ihre Forschung befragte. Anders als etwa in Almeria, wo Gemüse produziert wird, würden auf den Erdbeerplantagen auffallend viele Frauen aus Marokko arbeiten, rund 15’000 jedes Jahr. Der Hauptgrund sei ein spezielles Abkommen zwischen Spanien und dem nordafrikanischen Land. Ein Arbeitsvisum für die Arbeit in den Gewächshäusern erhielten nur Mütter minderjähriger Kinder.

Das belegt eine Ausschreibung, die in einer ländlichen marokkanischen Gemeinde ausgehängt war: «Alter zwischen 25 und 45 Jahren. Sie hat Berufserfahrung in der Landwirtschaft. Sie ist bei guter Gesundheit, arbeitsam und Mutter minderjähriger Kinder.» Komposch sagt, mit dieser Selektion hofften die spanischen Behörden, dass die Frauen nach der Erntesaison das Land wieder verlassen. Um die Auswirkungen dieses Abkommens zu verstehen, reiste Komposch auch nach Marokko und besuchte die Familien mehrerer Erntearbeiterinnen.

«Aktuell spitzt sich die Situation zu», sagt sie. Die Beerenproduktion sei aufgrund des Klimawandels nicht mehr gesichert und damit auch die Arbeit für die marokkanischen Arbeiterinnen gefährdet. Den Frauen werde gesagt: «Wenn es regnet, kannst du kommen, sonst nicht.» Und derzeit macht die Trockenheit in der Region fast wöchentlich internationale Schlagzeilen.

«Andalusien ruft den Dürre-Notstand aus», titelte kürzlich die NZZ. «Seit fünf Jahren fällt in unserer Region nicht mehr genügend Regen, die Trockenheit braucht alle unsere Reserven auf», sagte Ministerpräsident Manuel Moreno Bonilla. Die Einwohner müssten noch vor dem Sommer mit Wasserrationierungen rechnen. Auch weil die Herstellung von einem Kilo Erdbeeren rund 300 Liter Wasser verschlingt.

Das stelle die Erntearbeiterinnen vor existenzielle Probleme, sagt Komposch. Ihre Familien in Marokko sind auf das Einkommen aus der Saisonarbeit angewiesen. Immer mehr Frauen seien darum bereit, ihre Kinder zurückzulassen und illegal in Spanien zu bleiben, um so die Chancen zu erhöhen, wieder Arbeit zu bekommen und nicht auf das Visum angewiesen zu sein. Komposch sagt, dass im vergangenen Jahr aufgrund dieser Wasserproblematik zahlreiche marokkanische Migrantinnen in Huelva geblieben sind. Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Migration liesse sich an diesem Beispiel exemplarisch beobachten.

Schwere körperliche Arbeit: Erdbeerpflückerinnen in einem Gewächshaus in Huelva.

Die Situation der Frauen wird auch in einem neuen Dokumentarfilm des Zürchers Sven Rufer beleuchtet. Diese Redaktion konnte vorab mit dem Material ein Video zu dieser Recherche erstellen. Der Film zeigt, dass die Erntearbeiterinnen in slumähnlichen Hütten leben, wie man sie sonst nur aus Entwicklungsländern kennt, teilweise ohne Strom. Auch den versprochenen Mindestlohn von 37 Euro pro Tag erhalten viele nicht.

Die Missstände dokumentierte auch der deutsche Discounter Lidl. Er hatte nach den Medienberichten über die sexuellen Übergriffe ein «erhöhtes menschenrechtliches Risiko» in seiner Lieferkette festgestellt. Im Auftrag von Lidl nahm die Beratungsfirma Löning die Arbeitsbedingungen genauer unter die Lupe. Im 2020 publizierten Untersuchungsbericht hielt sie fest, dass auch Überstunden nicht bezahlt worden seien. Generell sei das Arbeitsumfeld geprägt von einem Druck, schnell zu ernten, und es gebe eine Kultur der Angst vor Entlassung.

Ein Drittel der Befragten habe zudem angegeben, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sauberen sanitären Anlagen zu haben. Angesichts langer Arbeitszeiten und fehlender Pausen befürchteten viele negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit. Auch die in den Verträgen vorgesehene kostenlose Unterbringung sei nicht gewährleistet.

Der Lidl-Bericht zeigt Wirkung

Etwas Hoffnung verspricht nun, dass in diesem Jahr in Huelva eine unabhängige Beschwerdestelle für die Arbeiterinnen eingerichtet wird. Eine Art Hotline, an die sich die Erntearbeiterinnen wenden können, wenn sie Missstände erleben oder Verträge nicht eingehalten werden. Sie nennt sich Appellando, zu Deutsch Anruf.

Die Hotline ist eine Reaktion auf den Lidl-Bericht. Getragen wird sie vom deutschen EHI Retail Institute, einem von der Handelsbranche finanzierten Forschungs- und Bildungsinstitut. Laut Aussage der Verantwortlichen sollen die Beschwerden anonym und unabhängig aufgenommen, geprüft und gemeinsam mit den Betrieben vor Ort nach Lösungen gesucht werden.

Unternehmen, die dem neuen deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz unterstehen, das Anfang Jahr in Kraft getreten ist, müssen gezwungenermassen bei Appellando mitmachen. Anders als in der Schweiz, wo die Konzernverantwortungsinitiative vom Volk abgelehnt wurde, müssen deutsche Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten garantieren, dass ihre direkten Zulieferer Zwangs- oder Kinderarbeit verhindern, für Sicherheit am Arbeitsplatz sorgen oder die Umwelt nicht schädigen. Bei Verstössen drohen happige Bussen oder weitergehende Sanktionen.

Da die Migros kürzlich die deutsche Supermarktkette Tegut übernommen hat, untersteht sie nun auch der deutschen Gesetzgebung. Coop hingegen bezieht seine Beeren von seiner Tochtergesellschaft Alifresca, die diesem Gesetz nicht untersteht. Und auch freiwillig macht Coop nicht mit. Man unterstütze zwar das Projekt im Grundsatz, noch sei aber unklar, wie es vor Ort umgesetzt werde, heisst es. Sie hätten über ihre Lieferanten zudem «keine Beanstandungen» erhalten. Die Berichte aus der Region seien Coop aber bekannt und «nicht in unserem Sinne». Die Situation erfordere ein genaueres Hinschauen, und man habe sich in den letzten Jahren intensiv mit Verbesserungsmöglichkeiten auseinandergesetzt. «Wir evaluieren derzeit mit einem externen Partner weitergehende Kontrollen, damit die Standards in jedem Fall eingehalten werden.» Auf Anfrage dieser Redaktion wollen weder Migros noch Coop ihre Kontrollberichte offenlegen.

In solchen Hütten leben viele der Saisonarbeitskräfte während der Erdbeersaison rund um die Gewächshäuser in Huelva.

Nora Komposch zeigt eine Frau mit dunklen Haaren auf dem Handybildschirm. Sie ist eine der Erntearbeiterinnen, die nach der Saison in Spanien geblieben sind. In Spanien gebe es wenigstens die Hoffnung auf ein besseres Leben, sagt sie am Telefon. In Marokko reiche ein Arbeitstag in der Landwirtschaft heute nicht mehr, um einen Liter Olivenöl zu kaufen. Und auch Trinkwasser aus dem Grundwasser gebe es kaum noch, sagt die 38-jährige Erntearbeiterin. «In meinem Dorf hat man versucht, tiefer zu bohren, aber man hat kein Wasser mehr gefunden.» Es sei schlimm, dass sie ihre Kinder kaum sehe. Aber lieber drei Jahre leiden als ein Leben lang, sagt sie. Denn nach drei Jahren könne man eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen.

Was wünscht sie sich von Schweizer Konsumenten und Konsumentinnen? Dass man die schwere Arbeit hinter den Früchten wertschätze, sagt sie. Aber eigentlich würde sie gar keine Erdbeeren kaufen. Sie seien voller Pestizide.

Komposch sagt, andere Frauen hätten ihr erzählt, dass wir mehr Beeren essen sollten. Sie brauchen Arbeit und dies auch noch nächstes Jahr. Ein Lösungsansatz wäre es, auf eine ökologische Landwirtschaft umzusteigen, die mehr Arbeitskräfte benötigt, sagt die Forscherin.

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