Debatte über Arbeitspflicht im Bürgergeld „zeigt moralische Verlotterung hierzulande“

Dr. Hans-Jürgen Urban (geb. 3. Juli 1961) ist seit November 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Der promovierte und habilitierte Sozialwissenschaftler ist bei der Gewerkschaft verantwortlich für die Themen Sozialpolitik sowie Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik.
Quelle: IG Metall
Herr Urban, die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise. Wie viel Sozialstaat muss abgebaut werden?
Im Gegenteil. Wir brauchen mehr soziale Investitionen und Sozialschutz. Insbesondere die beitrags- und lohnbasierten Sozialsysteme stehen vor großen Herausforderungen. Ja, diese Systeme müssen grundlegend umgebaut werden. Aber unser Umbau ist Ausbau, nicht Abbau. Nur so sind die Zukunftsaufgaben zu bewältigen – nicht zuletzt die ökologische Transformation.
Der Sozialvorstand
Hans-Jürgen Urban ist seit November 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Der promovierte und habilitierte Sozialwissenschaftler ist bei der IG Metall verantwortlich für die Themen Sozialpolitik sowie Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik.
Können wir uns einen Ausbau überhaupt leisten?
Wir müssen uns das leisten. Und wir müssen die Fehlorientierung beenden, ausschließlich auf die Ausgaben und nicht auf die Leistungen des Sozialstaates zu blicken. Der Wert unseres Sozialsystems ist viel höher als seine Kosten. Gerade in Zeiten des Umbruchs ist soziale Sicherheit unabdingbar. Die Menschen dürfen nicht ins Bodenlose fallen. Nicht bei Arbeitslosigkeit, nicht bei Krankheit und auch nicht im Alter. Nur ein verlässlicher Sozialstaat ermöglicht solidarische Auswege aus der Krise. Der Abbau sozialer Sicherheit führt in Zeiten wie diesen fast zwangsläufig in eine Krise der Demokratie.
Vor allem mittelständische Unternehmen klagen, dass ihnen wegen hoher Lohnnebenkosten das Wasser bis zum Hals steht. Alles nur Propaganda?
Je kleiner die Unternehmen sind, desto höher ist oft der Anteil der Arbeitskosten. Daher treffen steigende Sozialversicherungsbeiträge kleine Unternehmen stärker. Trotzdem, auch für kleinere Firmen gilt vielfach: Geringere Arbeitskosten dringen nicht zu den entscheidenden Problemen vor. Mittelständische Autolieferer etwa verlieren Aufträge durch die Umstellung vom Verbrenner auf Elektroantrieb. Hier sind nicht Lohnkürzungen, sondern Produktinnovationen gefragt.
Je kleiner die Unternehmen sind, desto höher ist oft der Anteil der Arbeitskosten. Daher treffen steigende Sozialversicherungsbeiträge kleine Unternehmen stärker. Trotzdem, auch für kleinere Firmen gilt vielfach: Geringere Arbeitskosten dringen nicht zu den entscheidenden Problemen vor.
Hans-Jürgen Urban, Sozialvorstand der IG Metall
Dennoch lassen sich steigende Arbeitskosten nicht wegdiskutieren.
Das stimmt. Deshalb müssen wir hinterfragen, ob Sozialleistungen notwendig, sinnvoll und am Zweck orientiert sind. Beispiel Gesundheitsversorgung: Eine Strukturdefizit hier ist die fehlende Koordinierung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, aber auch zwischen Allgemein- und Fachärzten. Folge sind etwa unsinnige Doppeluntersuchungen. Da schlummert ein hohes Einsparpotenzial, aber eben auch starker Lobbydruck.
Kann der Vorschlag eines unbezahlten Karenztages bei Krankmeldungen helfen, Belastungen für Unternehmen zu verringern?
Nein! Hier geht es schlicht und einfach um Lohnkürzungen. Mit kranken Beschäftigten gesundet keine kränkelnde Wirtschaft. Die IG Metall hat die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab dem ersten Tag erkämpft und wird sie verteidigen. Der Anstieg der Krankheitstage hat nichts mit Blaumacherei zu tun. Das geht etwa auf die umfassendere Erfassung durch die elektronische Krankschreibung zurück. Gestiegen ist aber auch die Misstrauenskultur in den Betrieben. Um Verdächtigungen zu entgehen, wollen mitunter auch Beschäftigte das ärztliche Attest schon vom ersten Tag und nicht – wie früher – vom dritten Tag an vorlegen.
Urban: Deutschland liegt bei den krankheitsbedingten Fehltagen unter den OECD-Ländern im Mittelfeld
Aber immer wieder wird behauptet, dass die Deutschen die Weltmeister im Krankfeiern sind.
Falsch. Deutschland liegt bei den krankheitsbedingten Fehltagen unter den OECD-Ländern im Mittelfeld. Die Debatte ist ärgerlich, weil sie von den eigentlichen Problemen ablenkt: etwa der eklatanten Zunahme psychischer Gesundheitsschäden. Burnout droht zur Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts zu werden.
Woran liegt das?
Anforderungen und Arbeitsdruck steigen, aber den Beschäftigten werden oftmals die Ressourcen vorenthalten, um die Anforderungen zu erfüllen. Und es gibt zu wenig Weiterbildung. Folge sind erhöhter Leistungsdruck und Überforderungen.
Die Sozialsysteme wie die gesamte Wirtschaft sind auf Zuwanderung angewiesen.
Hans-Jürgen Urban, Sozialvorstand der IG Metall
Zugleich aber weisen Experten immer wieder darauf hin, dass hierzulande die Produktivität sinkt. Wie passt das alles zusammen?
Bitte genau hinschauen: Die Produktivität in der unmittelbaren Produktion steigt. Produktivität wird aber als Output pro Kopf berechnet, und mit der Technisierung der Fertigung steigt die Zahl der Beschäftigten, die nicht direkt in der Fertigung tätig sind. Damit verteilt sich der Output auf mehr Köpfe. Deshalb sinkt rechnerisch die Produktivität pro Stunde, obwohl der eigentliche Produktionsvorgang immer effizienter wird. Das ist in vielen entwickelten kapitalistischen Ländern der Fall. Es hat nichts mit weniger Leistung der Belegschaften zu tun.
Eine andere Debatte dreht sich um die Zukunft der Rente. Funktioniert das System mit den Einzahlungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmer noch?
Ich kenne kein besseres System als unser paritätisch finanziertes Umlagesystem. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen, die in die Rentenkasse einzahlen, gestiegen. Das hat das System stabilisiert. Unter diesen waren es vielfach Migrantinnen und Migranten, die als Beitragszahler in die Sozialsysteme eingewandert sind – ein Riesenglück. So konnten länger als vorhergesagt die Rentenbeiträge konstant gehalten werden. Die Sozialsysteme wie die gesamte Wirtschaft sind auf Zuwanderung angewiesen.
Ich kenne kein besseres System als unser paritätisch finanziertes Umlagesystem
Hans-Jürgen Urban,
Sozialvorstand der IG Metall
Das gilt dann auch für die immer wieder kritisierte Rente mit 63. Ein Geschenk der SPD an ihre Wählerklientel?
„63″ stimmt ja lange nicht mehr. Das Eintrittsalter wurde kontinuierlich erhöht und liegt mittlerweile bei fast 65 Jahren. Die Regelung gilt nur für den Teil der Menschen mit 45 Beitragsjahren. Um mit einem weit verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Wer über diesen Weg vorzeitig in Rente geht, hat durch weniger gesammelte Rentenpunkte eine deutlich niedrigere Rente als jemand, der mit 67 geht. Und diese besonders langjährig versicherten Menschen haben – häufig infolge harter körperlicher Arbeit – eine Rentenbezugsdauer, die weit unter den durchschnittlichen 20 Jahren liegt. Hier geht‘s nicht um Geschenke, sondern um Lebensleistungen!
Hochsymbolisch ist auch die Forderung nach Arbeitspflicht für Bürgergeld-Empfänger?
An dieser Debatte kann man die moralische Verlotterung hierzulande gut erkennen. Schon heute sind erwerbsfähige Bürgergeld-Empfänger aufgefordert, einer Beschäftigung nachzugehen. Wer das nicht tut, wird sanktioniert. Davon waren 16.000 Personen von 3,4 Millionen Bürgergeldbeziehern betroffen, also 0,4 Prozent. Ein Konzernchef, der sich an einem Problem mit dieser Dimension festbeißt, müsste sofort gehen.
Aber CDU-Kanzlerkandidat Merz hat doch Recht, wenn er die hohen Kosten fürs Bürgergeld thematisiert?
Das eigentliche Thema ist: Mit dem Bürgergeld sind die Elemente zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt ausgebaut worden. 800.000 Bürgergeld-Bezieher sind in Vollzeit berufstätig. Die erhalten so wenig, dass sie ihren Lohn mit Bürgergeld aufstocken müssen. Darüber sollte man reden und darüber, wie der Weg in auskömmliche Jobs ermöglicht wird.
Gleichwohl gibt es eine demographische Entwicklung, die Sozialsysteme immer teurer macht. Wie können wir das in den Griff kriegen?
Durch eine gestärkte und erweiterte Solidargemeinschaft. Der Kerngedanke muss sein, die Sozialversicherungssysteme zu allgemeinen Erwerbstätigensystemen auszubauen: Auch alle Selbstständigen, Freiberufler und Beamte rein in ein solidarisches Sicherungssystem! Alle zahlen Beiträge, alle erhalten Leistungen. Die Solidargemeinschaft wird größer. Wir haben Tausende von Berechnungen, die zeigen: Wird dies schrittweise umgesetzt, ist das sozialverträglich machbar, auch für Beamte.
Sind Politiker zu dumm um zu tun, was ökonomisch richtig ist?
Das hat mit Dummheit wenig zu tun. Ich mache beim allgemeinen Politiker-Bashing nicht mit. Das ist unfair und gefährlich, denn es leitet Wasser auf die Mühlen der Rechten. Die teilen die Welt in die „korrupten Eliten da oben“ und das brave Volk hier unten ein. Klar ist: Die Wirtschaft globalisiert sich und Wirtschaftspolitik muss zunehmend transnational koordiniert werden. Und: Der Lobbydruck steigt, und ökonomische Macht wird in politische Macht umgewandelt. Siehe Elon Musk. Und dies geht einher mit der Renaissance eines wirtschaftsliberalen, ideologischen Denkens. All dies macht den Job des Politikers immer schwerer.