Grundsatzurteil des BSG mit ersten Leitplanken zum neuen Recht der Eingliederungshilfe

Am 28.1.2021 hat das Bundessozialgericht entschieden, dass ein Verwaltungsakt, mit dem ein persönliches Budget bewilligt wird, nicht befristet werden kann (BSG, 28.1.2021, B 8 SO 9/19 R). Seit Mitte Juni liegen die Urteilsgründe vor. Die Bedeutung des Urteils geht weit über die Frage nach der Befristung eines persönlichen Budgets hinaus. Der 8. Senat nahm den Fall zum Anlass, um eine Reihe wichtiger Fragen anzusprechen und erste Leitlinien für das durch das Bundesteilhabegesetz geschaffene neue Recht der Eingliederungshilfe (§§ 90 bis 150 SGB IX) zu formulieren. Die wichtigsten Inhalte der Entscheidung im Einzelnen:

1. Keine Befristung der Bewilligung von Eingliederungshilfe

Die Befristung einer Leistung ist eine Nebenbestimmung des bewilligenden Verwaltungsaktes (§ 32 SGB X). Sie ist nur unter den Voraussetzungen, die § 32 SGB X normiert, zulässig. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, „weil durch keine Rechtsvorschrift die Möglichkeit eingeräumt ist, das PB befristet zu bewilligen.” (Rn. 35) Das gilt für die Eingliederungshilfe insgesamt. Auch wenn Eingliederungshilfe nicht als persönliches Budget bewilligt wird, existiert keine Rechtsgrundlage für die Befristung der Bewilligung. Befristungen sind daher in aller Regel rechtswidrig.

Hinweis für die Praxis:

Die Befristung eines Verwaltungsaktes ist eine Nebenbestimmung und kann mit dem Widerspruch angefochten werden. Der Wiederspruch entfaltet aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 S. 1 SGG). Wird die Befristung mit dem Widerspruch angefochten, ist sie daher bis zum Abschluss des Verfahrens, ggf. auch des Klageverfahrens, schwebend unwirksam.

2. Zielvereinbarung keine tatbestandliche Voraussetzung des Anspruchs auf ein persönliches Budget

Der Abschluss einer Zielvereinbarung ist keine materielle (tatbestandliche) Voraussetzung für den Anspruch auf ein persönliches Budget (Rn. 25, 27; gegen LSG Baden-Württemberg, 20.02.2013, L 5 R 3442/11).

Hinweis für die Praxis:

Rehabilitationsträger berufen sich oft auf die o.g. Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 20.2.2013, nach der sie einen Anspruch auf ein persönliches Budget vereiteln können, indem sie keine Zielvereinbarung abschließen. (Diese Entscheidung wurde nicht rechtskräftig, s. Rosenow, Das Verfahren, in dem nicht entschieden wurde, ob der Anspruch auf ein persönliches Budget entfällt, wenn eine Zielvereinbarung nicht zustande kommt.) Diesem Argument ist nun endgültig der Boden entzogen (vgl. a. BVerfG, 12.9.2016, 1 BvR 1630/16; SG Gießen, 29.10.2020, S 18 SO 146/20 ER). Unabhängig davon ist immer zu empfehlen, zugleich mit dem Antrag auf ein persönliches Budget ausdrücklich einen Vorschuss nach § 42 SGB I zu beantragen. Das führt zu einem gebundenen Anspruch auf einen Vorschuss, der einen Monat nach dem Vorschussantrag – nicht nach dem Antrag auf ein persönliches Budget! – entsteht, § 42 Abs. 1 S. 2 SGB I (SG Braunschweig, 13.11.2013, S 31 KR 467/13 ER).

3. Träger der Eingliederungshilfe keine Rechtsnachfolger der Sozialhilfeträger. Bundesteilhabegesetz bedeutet vollständigen Systemwechsel

Die Ablösung der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe durch das neue Recht der Eingliederungshilfe in SGB IX Teil 2 bedeutet einen „vollständigen Systemwechsel”. Der Träger der Eingliederungshilfe nach neuem Recht ist daher nicht Funktionsnachfolger des Sozialhilfeträgers, der bis zum 31.12.2019 für die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zuständig war.

Indem der 8. Senat des BSG betont, dass ein „vollständiger Systemwechsel” stattgefunden hat, erteilt er denjenigen, die die Eingliederungshilfe nach dem SGB IX 2. Teil als eine Art ausgelagerte Sozialhilfe verstehen, eine Absage. Sozialhilferechtliche Grundsätze, z.B. das besondere Verständnis des Vermögensbegriffs (vgl. Fuchs/Ritz/Rosenow, SGB IX-Kommentar, § 139 Rn. 7 ff.), sind damit nicht auf die Eingliederungshilfe nach neuem Recht übertragbar. Die systematische Unterscheidung hat auch Folgen für das Verhältnis der Eingliederungshilfe zur Sozialhilfe (vgl. Fuchs/Ritz/Rosenow, SGB IX-Kommentar, § 91 Rn. 59 ff.).

Hinweis für die Praxis:

Widerspruchs- und Klageverfahren, die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zum Gegenstand haben und die noch anhängig sind, können in der Regel nicht mehr gewonnen werden. Sie werden im Regelfall unzulässig sein, weil in den meisten Fällen kein Rechtsschutzbedürfnis mehr besteht (so nun auch BSG, 24.6.2021, B 8 SO 19/20 B). In solchen Fällen sollte sofort geprüft werden, ob bereits ein Antrag nach § 108 SGB IX gestellt wurde; ggf. sollte der Antrag sofort nachgeholt werden. Wenn Leistungen für den Zeitraum seit 1.1.2020 im Streit stehen, wird jedoch deren Geltendmachung vor Gericht als Antrag i.S.v. § 108 SGB IX auszulegen sein. Dieser Antrag wurde dann zwar beim Sozialhilfeträger gestellt, der nicht Rehabilitationsträger ist (§ 7 SGB IX). Doch auch der Sozialhilfeträger hätte den Antrag an den Träger der Eingliederungshilfe weiterleiten müssen (§ 16 Abs. 2 SGB I). Der Antrag wirkt wegen § 16 SGB I zurück auf den Zeitpunkt, zu dem er beim Sozialhilfeträger eingegangen ist – auch gegen den Träger der Eingliederungshilfe.

4. Keine Bindungswirkung der Zielvereinbarung, soweit gebundene Rechtsansprüche Inhalt sind

Streitgegenstand des Verfahrens war neben der Befristung die Höhe des persönlichen Budgets. Die Höhe war jedoch in der Zielvereinbarung vereinbart worden. Das BSG hat entschieden, dass diese Vereinbarung, die nach § 29 Abs. 4 S. 2 Nr. 4 SGB IX nach neuem Recht immer getroffen werden muss, keine Bindungswirkung entfalten kann. Das heißt, dass die mit Verwaltungsakt bewilligte Höhe des persönlichen Budgets auch dann mit Widerspruch und Klage angefochten werden kann, wenn sie in der Zielvereinbarung vereinbart ist (Rn. 27). Denn der Umfang von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, auf die ein gebundener (= kein Ermessen der Behörde) Rechtsanspruch besteht, kann nicht vertraglich vereinbart werden. Die Vertragsfreiheit ist insoweit eingeschränkt (§§ 53 Abs. 2, 55 Abs. 2 und Abs. 3 SGB X).

Hinweis für die Praxis:

Wenn die Höhe eines persönlichen Budgets im Streit steht, kann die leistungsberechtigte Person ohne Bedenken eine Zielvereinbarung unterschreiben, die eine geringere Höhe des Budgets enthält. Die Höhe des persönlichen Budgets wird durch den Verwaltungsakt bestimmt und kann mit Widerspruch gegen den Verwaltungsakt angefochten werden. Wenn der Verwaltungsakt die Höhe des persönlichen Budgets offenlässt, wäre das ein Bestimmtheitsmangel (§ 33 SGB X), der stets zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes führt. Dasselbe gilt für andere Inhalte der Zielvereinbarung. Allerdings wird eine rechtsprechungsfeste Abgrenzung zwischen Inhalten der Zielvereinbarung, die der Vertragsfreiheit nicht unterliegen und daher keine Bindungswirkung entfalten können, und solchen, die Bindungswirkung entfalten, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich sein (s. Rn. 29). Wenn der Rehabilitationsträger z.B. verlangt, dass die leistungsberechtigte Person sich in der Zielvereinbarung verpflichtet, nur einen bestimmten Leistungserbringer zu beauftragen, könnte dasselbe gelten wie für die Höhe des persönlichen Budgets. Denn das Wunsch- und Wahlrecht unterliegt nicht dem Ermessen des Rehabilitationsträgers. Ein solche Bestimmung dürfte die leistungsberechtigte Person nicht binden, sodass sie ungeachtet der Zielvereinbarung einen anderen Leistungserbringer beauftragen kann.

5. Berücksichtigung der Wünsche der leistungsberechtigten Person bereits im Tatbestand

Das BSG hat die Sache auch deshalb an das LSG zurückverwiesen, weil das LSG den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt hatte. Zur Bedarfsermittlung gibt der 8. Senat folgenden Hinweis:

„Für die abschließenden Ermittlungen zum Eingliederungshilfebedarf im Übrigen gilt ein individueller und personenzentrierter Maßstab: In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein behinderter Mensch am Leben in der Gemeinschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner Wünsche […].” (Rn. 32)

Der Senat bekräftigt damit, dass die persönlichen Teilhabe-Bedürfnisse der leistungsberechtigten Person bereits im Zuge der Bedarfsermittlung und damit im Sachverhalt (und nicht etwa erst auf der Rechtsfolgenseite) zu beachten sind. Das ergibt sich aus § 13 Abs. 2 SGB IX. Die Teilhabeziele, die nur die leistungsberechtigte Person selbst bestimmen kann, sind konstitutive Dimension des Bedarfs (s.a. Fuchs/Ritz/Rosenow, Kommentar zum SGB IX, 7. Aufl. § 118 Rn. 9 ff.).

Die normative Dimension des Begriffs des Bedarfs, die den Anspruch begrenzt, ergibt sich aus dem Vergleich mit dem, was gesellschaftlich üblich ist (gleichberechtigte Teilhabe mit anderen) und nicht etwa aus dem Vergleich mit Empfängern von Sozialhilfe:

„Ziel der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist es, die in seiner Altersgruppe üblichen gesellschaftlichen Kontakte mit Menschen zu ermöglichen und dabei nachvollziehbare soziale Teilhabebedürfnisse zu erfüllen, soweit diese nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen hinausgehen […].” (Rn. 32; siehe auch BSG, 2.2.2012, B 8 SO 9/10 R, Rn. 27)

Hinweis für die Praxis:

Die Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX muss die Ermittlung der Teilhabeziele der leistungsberechtigten Person enthalten. Fehlt dieser Teil, ist die Bedarfsermittlung rechtsfehlerhaft (§ 13 Abs. 2 SGB IX i.V.m. § 20 SGB X). Das Wunsch- und Wahlrecht (§ 8 SGB IX) ist hier noch gar nicht berührt. Es kommt bei der Entscheidung über Art und Ausführung der Leistungen zum Tragen. Der Rehabilitationsträger muss daher sowohl ermitteln, welche Teilhabeziele die leistungsberechtigte Person erreichen will (subjektive Dimension des Bedarfs), als auch, mit welchen Leistungen sie diese Ziele verfolgen will (Wunsch- und Wahlrecht).

6. Kein Nachweis konkret beschaffter Leistungen beim persönlichen Budget

Der 8. Senat macht deutlich, dass sich das persönliche Budget grundsätzlich von einer Kostenerstattung unterscheidet. Eine Kostenerstattung, z.B. nach § 18 Abs. 6 SGB IX, setzt in der Regel voraus, dass die Kosten im Einzelnen belegt werden. Das persönliche Budget dagegen ist „die Zuweisung eines pauschalen monatlichen Betrags, der keinen Bezug zu konkreten einzelnen Leistungen aufweist und der fehlenden Bindung an das System vereinbarungsgebundener Leistungsanbieter Rechnung trägt” (Rn. 30). Es unterscheidet sich von der Kostenerstattung „dadurch, dass keine konkret beschafften Leistungen nachgewiesen werden müssen, sondern es im Zeitpunkt vor der Beschaffung zu berechnen und zu bewilligen ist […].” (Rn. 30) Der Senat spricht hier ausdrücklich von einer „Entkoppelung”.

Hinweis für die Praxis:

Die Bewilligung eines persönlichen Budgets kann nach der Entscheidung nicht mehr an die Bedingung eines detaillierten Verwendungsnachweises geknüpft werden darf. Denn der Natur „eines pauschalen monatlichen Betrags" entspricht es gerade nicht, dass die Verwendung dieses Betrags im Sinne einer Rechnungslegung nachgewiesen werden müsste. Damit dürften z.B. Zielvereinbarungen unwirksam und Bewilligungsbescheide rechtswidrig sein, soweit mit ihnen verlangt wird, dass die Verwendung des persönlichen Budgets nachgewiesen und „nicht verbrauchte” Beträge aufgerechnet oder zurückgezahlt werden sollen.

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