STRAFJUSTIZ Warum musste Julia sterben?
Die Flügeltür zum Saal wird geöffnet. Draußen drängen sich Zuschauer hinter Absperrgittern. Einmal das »Narben-Monster« aus der Nähe sehen, die entstellte Fratze dieses perversen Typs, seine klauenartigen, zerstörten Mörderhände - Gott, wie grausig.
Zwei Johanniter schieben den Krankenstuhl in den Saal, dahinter sieben, acht Justizwachtmeister, die ihn abschirmen. Man sieht weiße Laken. Darunter muss es sitzen, das Monster mit seinen verbrannten Beinen, die es nicht mehr tragen, steif und starr. Hinter der breiten Sonnenbrille sollen weit aufgerissene Augen sein. Hat der Kerl überhaupt noch Ohren? Die riesige Kapuze eines weiten Pullovers lässt nur den Blick auf verkrustete Lippen, einen wulstigen Rest Nase und wie rohes Fleisch glänzende Haut zu.
Das ist die Strafe, wenn man ein Kind verbrennt: Lebenslang wird dieses Monster so aussehen. Haut um Haut, Zahn um Zahn.
Die Szene ist von alttestamentarischer Wucht. Endlich einmal hat es einen erwischt, hat das Schicksal Gleiches mit Gleichem vergolten. Niemand, wenn er ehrlich ist, kann sich dieser Suggestion entziehen. Der von Vergeltung Gezeichnete, der da vermummt in den Saal gerollt wird, diese wie tot scheinende Horrorgestalt - Kinderschänder, Schwein, was denn sonst.
Nur wenige Schritte von dem Krankenstuhl entfernt, flankiert von seinen Anwälten, dagegen der verzweifelte Vater des getöteten Kindes. Lehrer ist er, ausgerechnet Lehrer, und jedes der vielen Kinder, die ihm über den Weg laufen, wird ihn vermutlich an das verlorene eigene erinnern und an die Frage, warum diese Kinder alle leben und das seine nicht mehr. 61 Jahre alt ist er schon, Rektor einer Gesamtschule im mittelhessischen Biebertal, und verheiratet mit einer um 27 Jahre jüngeren Frau. Julia, die achtjährige Tochter, er findet kein stärkeres Wort, sei ein »wahnsinnig fröhliches Kind« gewesen. Ihr Lachen, sagt er, habe ihn motiviert, trotz seines Alters noch einmal ein neues Haus einzurichten, herumzuwerkeln in jeder freien Minute - wie an jenem 29. Juni 2001, dem Tag, der zum Alptraum wurde.
Inzwischen ist Julias Mutter wieder schwanger, im sechsten Monat. Wenn dieses neue Kind geboren sein wird, wird der Prozess um Julias Tod noch lange nicht zu Ende sein. Auch dies ein Bild, das nicht loslässt.
Der 29. Juni vorigen Jahres, der später zum Alptraum wurde: ein heißer Sonnentag, ein Freitag. Thorsten V., damals 33 und Verwaltungsangestellter der Universität Gießen, und sein Kollege verlassen bereits gegen halb elf Uhr ihren Arbeitsplatz. Sie fahren zu Aldi, dann waschen sie ihre Autos. Schließlich suchen sie die Kneipe »Inseltreff« auf. Es ist etwa 13.30 Uhr.
Bier, Radler, Jägermeister, es kommt einiges zusammen. V. war »lustig drauf«, wie sich ein Zeuge vor der 5. Großen Strafkammer des Landgerichts Gießen erinnert. Lustig sei er eigentlich immer gewesen, und geredet habe er auch immer viel. »Ein Typ, der überall mitbabbelt« und Späßchen macht.
Am liebsten habe V. sein Auto gewaschen, selbst wenn das Wetter schlecht war, und in der Freizeit habe er in der Umgebung »Autohäuser abgefahren«, um zu schauen, was es Neues gab. Dienstags, wenn V. »frei hatte von seiner Frau« und nicht, wie versprochen zur Gesangsstunde ging, traf man sich oft an Tankstellen, trank und bretterte dann durch die Gegend. Einmal stand ein Bordellbesuch auf dem Programm, aber dann habe man sich doch nicht hineingetraut.
V. bleibt an jenem 29. Juni bis etwa 16.30 Uhr im »Inseltreff«, und als er geht, hat er wohl einiges zu viel intus. Seine Frau, die vergeblich hinter ihm her telefoniert, ruft er nicht zurück. Etwa eine Stunde später fällt einem Nachbarn in Biebertal auf, wie V. versucht, sein Auto mit quietschenden Reifen in eine Parklücke zu bugsieren. Beim Vorbeigehen sagt er zu V. ein paar freundliche Worte. Der kann nur noch unverständlich »nuscheln oder lallen«.
An jenem Nachmittag hält sich Julia im Haus eines Klassenkameraden in Biebertal zum Spielen auf. Es ist nicht weit nach Hause zur Mutter und auch nicht weit zum neuen Haus, in dem der Vater renoviert. Irgendwann kommen die Kinder auf die Idee, sich mit Wasserpistolen nass zu spritzen. Julia läuft nach Hause, um ihre Kleidung gegen einen pinkfarbenen Badeanzug zu tauschen, über den sie ein weißes T-Shirt zieht.
Sie will zurück zu den Jungen. Auf dem Weg dorthin begegnen ihr die Eltern des Klassenkameraden. Es ist gegen 17.30 Uhr. Sie erfährt, dass es mit dem Spielen nichts mehr wird. Sie solle ihren Roller holen, der noch vor dem Haus stehe.
Kurz vor 18 Uhr wird sie in der Gegend, in der auch V. wohnt, zuletzt gesehen.
Am folgenden Dienstag, dem 3. Juli 2001, geht ein Holzstapel im Wald in der Gemarkung Niddatal-Kaichen, rund 50 Kilometer von Biebertal entfernt, in Flammen auf. Ein Radfahrer informiert die Feuerwehr, die zwischen den verkohlten Stämmen ein totes Kind findet. Julia.
Es ist just der Dienstag, an dem V., wie er dem Kollegen eine Woche zuvor angekündigt hatte, sein Auto »ausfahren« wollte. Und tatsächlich wird er geblitzt - kurz nach 23 Uhr, als er über die Bundesstraße 45 aus Richtung des Waldstücks kommend rast. Fuhr er zufällig dort - oder hatte er gerade Julias Leiche verbrannt?
Es passt manches gut zu dieser Vermutung, fast zu gut - und vieles auch wieder nicht. So rekonstruierten die Ermittler zum Beispiel die Verbrennung. Der Täter müsse sich dabei Brandverletzungen zugezogen habe, meinen sie. Man fragt bei Apotheken nach, ob jemand Brandsalbe oder Spezialpflaster verlangte. Nichts.
Knapp zwei Kilometer von der Fundstelle entfernt findet nicht die Polizei, sondern ein Passant Einweghandschuhe, Stofflappen und eine Wasserpistole, wie Julia sie bei sich hatte. Die Umstände sind befremdend. Die Textilien sollen dem Haus des Angeklagten zuzuordnen sein, die Handschuhe Spuren von ihm aufweisen.
Am 6. August 2001 ereignet sich im Haus V.s im Keller eine Verpuffung, Feuer breitet sich aus. V. wird von Nachbarn beobachtet, wie er sich kurz darauf im Hof mit einem Gartenschlauch abspritzt, nackt. 80 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Noch spürt er die Verletzungen offenbar nicht. Noch kann er sagen: »Ich will doch nicht sterben.«
Hatte er einen Teppich und seine Kleidung verbrennen wollen, um Beweise zu vernichten? Hatte er sich umbringen wollen? Eine Hausdurchsuchung stand bevor. Auf einem Reststück des Teppich findet man DNS von Julia. Also doch?
Es bedeutet nicht, vom Opfer abzulenken, wenn man nach dem Täter fragt und wie es zu der Tat gekommen ist. Das Kind starb an schweren Kopfverletzungen. Wenn V. der Täter war: Hat er Julia ins Auto gelockt? Das Fahrzeug wurde im Lauf des Abends noch einmal bewegt. Hat er sie ins Haus gezerrt? Oder kam sie freiwillig zu ihm? Was geschah dann? Nicht nur Julias Eltern wollen das wissen. Es sollte schon geklärt werden, was der Fall möglicherweise lehrt.
»Im Moment«, sagt V.s Verteidiger Ramazan Schmidt aus Gießen, der das Mandat übernahm, als V. noch im Koma lag, »bestreitet er umfänglich, was ihm die Anklage vorwirft.« Nämlich ein versuchtes Sexualdelikt an einem Kind, Mord zur Verdeckung dieser Straftat und schwere Brandstiftung.
Woher weiß die Anklagebehörde, in Gießen vertreten durch Oberstaatsanwalt Wolfgang Thiele und Staatsanwalt Klaus Bender, von einem Sexualdelikt? Es gibt dafür keine Erkenntnisse, keine Spuren, keine Zeugen, nichts - außer der spekulativen Frage, was ein erwachsener Mann wohl mit einer Achtjährigen will. Ist V. einer, der hinter kleinen Mädchen her war? Nicht den Schatten eines Verdachts gibt es dafür. V.s Biografie ist unauffällig: Abitur, ein angefangenes Studium, eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann, der Arbeitsplatz in der Finanzbuchhaltung der Universität.
Frühere Sexualpartnerinnen V.s hat man über seine Vorlieben befragt - nichts. Er ist interessiert gewesen an hübschen Frauen wie die meisten Männer seines Alters. Dann hat er geheiratet, ist Vater einer bald zwei Jahre alten Tochter. Er hat sich Tausende Pornobilder zum Großteil aus dem Internet geholt, aber nichts Pädophiles.
In einem Haftfortdauerbeschluss der Kammer, damals noch mit dem Vizepräsidenten des Landgerichts Holger Gaßmann als Vorsitzenden, wurde ein dringender Tatverdacht wegen eines Sexualdelikts denn auch verneint und durch Freiheitsberaubung ersetzt. In der Anklageschrift aber heißt es vage: »Der Angeschuldigte bemächtigte sich am 29.6.2001 nach 18 Uhr ... der achtjährigen Julia, um sich an und mit ihrem Körper durch verschiedene Manipulationen geschlechtlich zu erregen ...«
Es mag so gewesen sein. Vielleicht gibt es keine Beweise, weil alle vernichtet sind. Es kann aber auch anders gewesen sein. Irgendetwas hat V. mit Julias Tod zu tun. »Hier kann man nicht emotionslos verteidigen«, sagt V.s Verteidiger. »Natürlich ist man auch als Anwalt ambivalent.«
Sein Mandant fürchte, so Schmidt, dass man ihm nicht glauben würde. Weil er eben wie ein Monster aussieht. Also schweige er. V. befindet sich mitten in der Rekonvaleszenz. Noch ist er ein schwer Kranker, den sein Körper mehr beschäftigt als andere Dinge. Physisch mag er als verhandlungsfähig gelten, für zwei bis drei Stunden je Sitzungstag. Auch mag er bewusstseinsklar sein. Doch psychisch?
Er kann sich nicht aus seinem Spezialbett oder dem Rollstuhl erheben. An die acht Wochen lag er im künstlichen Koma, 15-mal wurde er operiert. Weitere Operationen stehen an. Seine Haut ist noch wie Papier, die Gelenke sind unbeweglich.
»Eine Notwendigkeit für die Hauptverhandlung zum jetzigen Zeitpunkt besteht nicht«, sagt Schmidt. »In einem Jahr hätte man eine andere Situation.« Vielleicht wäre ein genesener V. eher zu einem Geständnis in der Lage oder zu einer Aussage bereit, wie es wirklich war. Vielleicht hätte er dann die Kraft dazu. Vielleicht hätte er dann den Kopf frei, um seine Situation realistisch zu überdenken. »Mit einem Kranken kann man als Verteidiger nicht so umgehen wie mit einem gesunden Mandanten«, sagt sein Anwalt.