Die Banalität des Grauens – „Zusammenbruch“

Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts sind die ersten Kriege der Menschheit, die massenhaft fiktionalisiert wurden: Tausende von Romanen, Spielfilmen und auch Comics haben die Kampfhandlungen, die Fluchtgeschichten sowie die Gefangenschaftsberichte mit einer beachtlichen Ausdauer von „der“ Geschichte in eine Vielzahl von Geschichten überführt. In den 1910er und 1920er Jahren war die Literatur das Leitmedium für Kriegsfiktionen, seit den 1950er Jahren übernahm der Film diese Rolle.
 
Daneben hat auch der Comic seinen Beitrag geleistet, die Geschichte aufzuarbeiten, in Deutschland wie auch und vor allem in Frankreich. Jubiläen bieten sich hierfür besonders an, so hat Peter Eickmeyer 2014 den Kriegsbuchklassiker „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque zum hundertjährigen Kriegsausbruchsgedenken in den Comic überführt, ebenso wie in Frankreich Kris und Maël in den vier Alben „Mutter Krieg“ (2009–12), die in Deutschland mit etwas Verspätung im Gedenkjahr erschienen. Jacques Tardi hat vor allem den Ersten Weltkrieg schon seit den 1970er Jahren immer wieder und wieder ins Bild gesetzt. Pascal Rabaté („Der Schwindler“, 2018, „Rein in die Fluten!“, 2016) hat sich mit seinem Comic „Zusammenbruch“ den Zweiten Weltkrieg vorgenommen.
 

Pascal Rabaté (Autor und Zeichner): „Zusammenbruch“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2019. 216 Seiten. 20 Euro

Videgrain ist ein französischer Soldat, stationiert nahe der deutschen Grenze und dazu gezwungen, sein ziviles Lehrerdasein zeitweise zurückzustellen, um sein Vaterland im Zweiten Weltkrieg gegen den Angriff der deutschen Nachbarn zu verteidigen. Sein Beitrag besteht darin, auf ein Loch aufzupassen und Schweine zu beobachten.
 
Er ist eher ein Chronist des Geschehens als ein handelnder Akteur, er steht am Rande und beobachtet mit größtmöglicher Lakonie, wie das Unglück für seine Kameraden und ihn zum alltäglichen Begleiter wird. Als sein Zug von deutschen Fliegern angegriffen wird, bleibt er zwar unverletzt, Opfer gibt es dennoch, und dass man ihn zum Wächter eines Granattrichters abkommandiert, während alle Kameraden weiterziehen, ist das treffende Symbol eines wahnsinnigen Krieges. Wie beiläufig das Grauen beschrieben wird und in dieser Beiläufigkeit noch weiter anschwillt, kommt in der Unterhaltung zweier Soldaten zur Geltung: „Was passiert, wenn wir den Krieg verlieren? – Wird die Tour de France verändern.“ Wirklich schockiert ist Videgrain nur ein einziges Mal, als er in einem verlassenen Dorf Schweine dabei beobachtet, menschliche Leichen zu fressen. Dass jede für natürlich gehaltene Ordnung schwindet, unter den Menschen wie auch im Tierreich, ist ein einschneidender Kontrollverlust für ihn, an dem zwar Videgrain nicht Komisches entdecken kann, Rabaté aber nicht seinen Humor verlieren lässt: „Schweinerei“ lässt er den Protagonisten vor sich hinmurmeln.
 
Rabatés Krieg zeigt keine Schlachten und kaum Schusswechsel, er präsentiert auch keine strahlenden Helden, sondern Soldaten, deren Langeweile nur von ihrem plötzlichen Tod gestört wird. Videgrain ist ein Zeuge der absurden Banalität des Krieges, der weder Heroen kennt noch Superschurken. Auch Videgrain bleibt ein „gemischter Charakter“: Wenn er am Ende vor die Entscheidung gestellt wird, uneigennützig zu handeln oder seine eigene Haut zu retten, dann zeigt seine Wahl, dass er den Krieg zwar äußerlich unbeschadet übersteht, seine sozialen Instinkte aber das schwerste Opfer des Krieges sind.
 
Mit „Zusammenbruch“ ist Pascal Rabaté ein poetisches Werk gelungen, das sich nicht vor der Konkurrenz großer Kriegsliteratur verstecken muss.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Zusammenbruch“ (Reprodukt)