Panorama

Ausweg aus der Pandemie "Durchseuchung darf nicht unser Ziel sein" - oder doch?

Irgendwann werden alle in Kontakt mit dem Virus kommen, sind Virologen sich sicher. Warum dann nicht so bald wie möglich?

Irgendwann werden alle in Kontakt mit dem Virus kommen, sind Virologen sich sicher. Warum dann nicht so bald wie möglich?

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Die Infektionszahlen sind so hoch wie nie. Gleichzeitig lässt Deutschland fast alle Corona-Schutzmaßnahmen fallen. Die neue Strategie im Kampf gegen die Pandemie heißt: Durchseuchung. Doch ist das wirklich eine gute Idee?

Lange Zeit galt die Herdenimmunität als einziger Ausweg aus der Pandemie. Knapp ein Drittel der Bevölkerung müsste immun sein - entweder durch eine Impfung oder eine natürliche Infektion - damit das Coronavirus immer häufiger auf Menschen träfe, die sich nicht mehr anstecken könnten. Dann würde es in eine Sackgasse laufen und könnte sich nicht mehr exponentiell verbreiten. So zumindest die Theorie. Doch die Erfahrung aus zwei Jahren Pandemie lehrt: In der Praxis ist das nicht umsetzbar. Das Virus scheint uns stets einen Schritt voraus zu sein. Jetzt heißt das Mittel der Wahl: Durchseuchung.

Denn mit der nur langsam wachsenden Impfquote und immer neuen, infektiöseren Corona-Varianten ist spätesten seit Omikron klar: "Wir werden alle irgendwann Kontakt mit dem Virus haben", wie Virologe Hendrik Streeck ntv.de sagte. Und auch die Bundesregierung hat, so scheint es, mit dem neuen laschen Infektionsschutzgesetz den Kampf gegen die Pandemie aufgegeben. Was vor einem halben Jahr undenkbar schien, passiert jetzt ohne großes Tamtam: Trotz Sieben-Tage-Inzidenzen auf Rekordniveau bereitet Deutschland erhebliche Lockerungen vor. Dabei war das Risiko, sich zu infizieren, noch nie so hoch wie heute.

Angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen hält der Münchner Virologe Oliver Keppler das Ende der meisten Corona-Maßnahmen für falsch. "Eine ungebremste Durchseuchung - und so befürchte ich das derzeit - darf jetzt nicht Deutschlands Ziel werden", sagt der Leiter der Virologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität der dpa. Nach Einschätzung Kepplers besteht die Gefahr, dass in der Bevölkerung sowohl das Bewusstsein für die Gefahren des Erregers als auch die Impfbereitschaft schwinden. "Wir haben nach wie vor täglich 200 bis 300 Corona-Tote. Bei annähernd neun von zehn ist Covid auch ursächlich für den Tod." In den USA seien mehr Menschen an einer Infektion mit Omikron als mit der Vorgängervariante Delta gestorben.

Die Omikron-Variante des Erregers habe zwei wichtige Unterformen, die ursprüngliche BA.1-Form und eine neue, BA.2 genannt. "Diese zweite Form ist noch ansteckender als BA.1 und sicher ein Grund, warum die Infektionszahlen in vielen Ländern derzeit wieder stark ansteigen", sagt Keppler. "In Kombination mit den Lockerungen wird das die Infektionszahlen bei uns stark befeuern. Es wird in diesem Sommer länger dauern, bis wir zu niedrigen Inzidenzen kommen, wenn überhaupt."

"Mehr geht nicht"

Virologe Klaus Stöhr hält eine Durchseuchung dagegen für unumgänglich. "Wir müssen mit der Krankheit leider leben", sagt er ntv. Alle medizinischen Interventionen, der Impfstoff und auch Medikamente lägen auf dem Tisch. "Mehr geht nicht. Die Anzahl der Infektionen, der Hospitalisierung steht letztendlich jetzt schon fest. Die kann man schnell hinter sich bringen. Oder man schiebt es auf die lange Bank, dafür hat man sich in Deutschland entschieden."

Die Debatte um die Gefahren einer unkontrollierten Ausbreitung von Omikron werde eher emotional geführt, meint der Wissenschaftler. Er verstehe die Ängste, doch eine Aufrechterhaltung der Corona-Maßnahmen verschiebe weitere Erkrankungen nur nach hinten. Jede Pandemie ende, indem sich alle Menschen mit dem Virus infiziert hätten, so Stöhr. "In den letzten 1000 Jahren gab es mehrere Pandemien. Die haben aufgehört, als die Durchseuchung erreicht war, und das wird auch jetzt so sein.". Es gehe jetzt darum, zur Normalität zurückzukehren, so Stöhr. "Die Durchseuchung ist nun mal der Endzustand einer jeden Pandemie, egal ob man das mag oder nicht."

Gefahren einer Durchseuchung

Unproblematisch ist eine Durchseuchung der Bevölkerung jedoch nicht. Denn auch wenn eine Omikron-Infektion meist milder verläuft, steigen mit wachsenden Infektionszahlen unausweichlich auch die Hospitalisierungen. Die aktuellen Rekord-Inzidenzen schlagen sich schon jetzt in den Kliniken nieder, warnte zuletzt die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG). Man dürfe das Risiko nicht unterschätzen, mahnt auch Matthias Baumgärtel, Oberarzt auf der Intensivstation im Klinikum Nürnberg. "Wir haben Patienten, die lange mit Omikron auf Station liegen, und wir haben auch Patienten, die an Omikron sterben", sagt er dem ZDF. Besonders gefährdet seien Ungeimpfte, aber auch Ältere, Immungeschwächte und Patienten mit Vorerkrankungen.

Charité-Virologe Christian Drosten betont daher die Wichtigkeit einer vollständigen Impfung. "Ideal ist, dass man eine vollständige Impfimmunisierung hat mit drei Dosen und auf dem Boden dieser Immunisierung sich dann erstmalig und auch zweit- und drittmalig mit dem Virus infiziert und dass man dadurch eine Schleimhautimmunität entwickelt, ohne schwere Verläufe in Kauf nehmen zu müssen", erklärt Drosten im NDR-Podcast. Wer das durchgemacht hat, sei wahrscheinlich über Jahre immun und werde sich nicht wieder reinfizieren.

Impfungen schützen vor Long Covid

Der Aspekt Long Covid komme dabei aber zu kurz, bemängelt Virologe Keppler. "Im Mittel vieler Studien leiden fünf bis zehn Prozent der Infizierten über drei Monate hinaus, manche schon seit fast zwei Jahren, an diesem Beschwerdekomplex", sagt der Wissenschaftler der dpa. Dazu zählten unter anderem starke Erschöpfung und fehlende Belastbarkeit, schlechte Konzentrationsfähigkeit, Kurzatmigkeit und chronische Kopfschmerzen. Grundsätzlich ist jede Infektion ein Risiko für Langzeitfolgen, erklärt die österreichische Virologin Dorothee von Laer dem "Standard": "Man kann auch bei einer Reinfektion von Long Covid betroffen sein, wenn man bei der Erstinfektion keine Spätfolgen hatte. Ob das bei einer zweiten oder dritten Infektion weniger wahrscheinlich ist als bei der ersten, weiß man noch nicht."

Doch auch hier können Impfungen helfen. Studien zufolge scheinen sie nicht nur vor einem schweren Krankheitsverlauf, sondern auch sehr effektiv vor langfristigen Folgen einer Corona-Erkrankung zu schützen.

Letztendlich sei eine Durchseuchung etwas, das wir nicht vermeiden könnten, sagt Virologe Streeck dem Portal watson.de. Seiner Ansicht nach gebe es dazu keine Alternative. "Da muss ja nur eine Katze über die Grenze schleichen - oder mittlerweile ein Kontakt zu Rehen und Mäusen genügt - und wir alle können uns infizieren", sagt der Wissenschaftler. Ausschlaggebend sei, wie man dem Virus begegnet. "Und die beste Antwort darauf ist und bleibt: sich impfen zu lassen, um vorbereitet auf die Infektion zu treffen."

Quelle: ntv.de

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