Bundessozialgericht

Verhandlung B 8 SO 11/22 R

Sozialhilfe - Hilfe bei Krankheit - Unionsbürger - Nothelfer - Kostenerstattung - Behandlung in Notaufnahme

Verhandlungstermin 13.07.2023 12:30 Uhr

Terminvorschau

Universitätsklinikum A. ./. Stadt Aachen
Die Klägerin betreibt das Universitätsklinikum im Stadtgebiet der Beklagten. An einem Freitag nach Dienstschluss wurde in der dortigen Notaufnahme ein Patient wegen Verdachts auf einen Herzinfarkt behandelt. Eine stationäre Aufnahme erfolgte nicht. Der Patient ist polnischer Staatsangehöriger; er verfügte nicht über Einkommen und Vermögen, sondern bestritt seinen Lebensunterhalt mit Betteln. Er war zu keinem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland gemeldet und ist im Ausländerzentralregister nicht erfasst. Er war seit 2012 mehrfach bei der Klägerin behandelt worden; eine Krankenversicherung bestand weder in Polen noch in Deutschland. Die Beklagte lehnte die Erstattung der klägerischen Aufwendungen als Nothelfer in Höhe von 166,47 Euro ab. Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte zur Zahlung der Kosten; die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Das Landessozialgericht hat zur Begründung ausgeführt, ein Eilfall habe vorgelegen, weil ein sofortiges medizinisches Eingreifen geboten gewesen sei. Die Leistungen der Hilfe bei Krankheit seien für einen Unionsbürger auch nicht ausgeschlossen gewesen. Bei einer akuten Erkrankung bestünde regelmäßig nicht die Möglichkeit, sich zur Behandlung in das Heimatland zu begeben, sodass Leistungen jedenfalls als Härtefall zu gewähren seien. Ein Ausreisewille sei nicht erforderlich.

Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend, ein Anspruch auf Hilfe bei Krankheit bestehe für den mangels Aufenthaltsrecht nicht sozialhilfeberechtigten Unionsbürger nicht. Für eine Überbrückungsleistung habe es an der erforderlichen Ausreisebereitschaft gefehlt.

Verfahrensgang:
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 9 SO 295/20, 07.04.2022
Sozialgericht Aachen, S 20 SO 127/19, 18.08.2020

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 27/23.

Terminbericht

Der Senat hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Die Vorinstanzen haben zu Recht angenommen, dass der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen als Nothelfer für die ambulante Behandlung des Patienten in der geltend gemachten Höhe zustand. Bei Verdacht auf einen Herzinfarkt lag ein Eilfall vor, der eine sofortige medizinische Hilfe notwendig machte. Eine Dienstbereitschaft der Beklagten bestand zum Zeitpunkt der Behandlung nicht. Der Patient hätte bei Kenntnis der akuten Behandlungsbedürftigkeit auch Anspruch auf Sozialhilfe, nämlich einen Anspruch auf Hilfe bei Krankheit nach dem Fünften Kapitel des SGB XII gehabt.

Der Anspruch des Patienten auf Sozialhilfe ist zwar auf Grundlage von § 23 Absatz 3 SGB XII eingeschränkt: Ausländer, die als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nicht über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügen, sind von Sozialleistungen im Grundsatz vollständig ausgeschlossen und können nur Überbrückungsleistungen erhalten. Auch bei Überbrückungsleistungen handelt es sich aber um Sozialhilfe. § 23 Absatz 3 Satz 3 bis 6 SGB XII ist keine eigenständige Anspruchsgrundlage außerhalb des Dritten und Fünften Kapitels des SGB XII wie sich aus der Systematik der Norm ergibt; denn § 23 Absatz 3 Satz 1 SGB XII ist als Ausnahme zu § 23 Absatz 1 SGB XII formuliert und § 23 Absatz 3 Satz 3 SGB XII ist dazu die Rückausnahme. Der Patient erfüllte sämtliche Voraussetzungen für einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen; er verfügte weder über ausreichendes Einkommen oder Vermögen noch über einen Krankenversicherungsschutz. Ein zusätzliches subjektives Moment im Sinne eines Ausreisewillens oder einer Ausreisebereitschaft ist für einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen nicht erforderlich. Bei der diagnostischen Abklärung eines Verdachts auf Herzinfarkt handelt es sich auch um die Behandlung einer “akuten Erkrankung“, die von Überbrückungsleistungen umfasst wird. In einem solchen Fall liegt jedenfalls auch eine besondere Härte vor, sodass dahinstehen kann, ob der Patient in den letzten zwei Jahren vor der Behandlung bereits Überbrückungsleistungen in Anspruch genommen hatte.

Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 27/23.

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