Zwei ungleiche Brüder – „The Moneyman“

Walt Disney war der Kopf, das Gesicht und (auch) die zeichnende Hand des gleichnamigen Filmstudios. Der Star dieses Comics aber ist er nicht. Zumindest nicht allein. Alessio de Santa, Filippo Zambello und Lorenzo Magalotti haben „The Moneyman“ dem Bruder von Walter Elias Disney, dem Finanzgenie des heutigen Medienimperiums gewidmet: „Moneyman“ ist der Begriff für Hollywood-Produzenten wie Roy Oliver Disney. Aus seiner Perspektive begleiten wir das berühmte Brüderpaar durch ihr Leben.

Unter der strengen Aufsicht des Vaters auf einem Bauernhof im ländlichen Kansas aufgewachsen, erkennt Roy früh das Zeichentalent seines jüngeren Bruders und fördert es, wo er nur kann. Der Vater ist beruflich derweil so erfolglos, wie es nur eben geht. Diese Erfahrung wird seine Skepsis gegenüber Walts künstlerischen Lebensweg nähren, sie ist vielleicht auch Quell seiner Strenge – der Ast, mit dem er die Kinder verdrischt, ist das Attribut des zornigen alten Mannes. In sepiagetönten Panels sehen wir die Brüder den Ersten Weltkrieg kampflos überstehen und zu Hause wieder Fuß fassen.

Alessio de Santa, Filippo Zambello (Autoren), Lorenzo Magalotti (Zeichner): „The Moneyman – Die Geschichte von Roy und Walt Disney“.
Aus dem Italienischen von Anja Kootz. Knesebeck, München 2019. 176 Seiten. 24 Euro

1921 gründen Roy und Walt „Laugh-O-Gram“, diejenige Firma, die noch nicht den Ruhm der beiden Brüder begründen, aber das kreativ-organisatorische Fundament für das spätere Medienimperium bilden wird. Die Brüder ziehen nach Hollywood um und ändern den Namen ihres Unternehmens bald in „Walt Disney Studios“. Die beiden haben schon früh begriffen, dass es einfacher ist, ein einzelnes Gesicht zu vermarkten als ein Brüderpaar.

Die Maus – „Sie wird uns reich machen!“

Die Kreativbranche im Filmgeschäft ist eine konkurrenzfreudige und kapitalistische Arena: Warner Bros. wirft den Disney-Brüdern 1928 den Fehdehandschuh vor die blankgeputzten Schuhe, und in dieser Situation zeigt sich der Kapitalismus von seiner produktiven Seite als Kreativkatalysator: Um mit Warner Schritt halten zu können, entwerfen die Brüder eine neue Zeichentrickfigur, der sie einen eigenen Film widmen wollen: Mortimer Maus. Aber der Name überzeugte nicht: Micky Maus wurde geboren.

Unter der zeichnerischen Kontrolle von Ub Iwerks, eine künstlerische One-Man-Show, entstand der erste Micky-Maus-Film „Plane Crazy“ (1928), ganz allein in einer Garage, – so will es die Legende, und so zeigen es die Panels. Micky Maus wurde zur Ikone des Unternehmens, zur Symbolfigur der westlichen Welt. Alessio De Santa führt uns bis in Disneys Kindheit zurück, um nach ersten Spuren der Maus zu suchen. Walt findet eine Maus und sperrt sie in eine Schachtel: „Ich bringe ihr bei, den Leuten Geld aus der Tasche zu stehlen. Sie wird uns reich machen.“ Allerdings – nur etwas anders als gedacht.

„Das ist Wahnsinn!“ – „Es war einfach ein Wahnsinn.“

Die Rollen der beiden Brüder sind klar verteilt: der kreative, impulsive, abenteuerlustige und etwas aufsässige Walt. Der akkurate, treue, umsichtige und menschliche Roy. Walt ist kompromisslos in seinem künstlerischen Anspruch und treibt seinen Bruder damit in den Wahnsinn. 1928 entschließt Walt sich, entgegen Roys finanziellen Bedenken, in den gerade sich entwickelnden Tonfilm zu investieren. „Steamboat Willie“ wird der erste Cinephon-Film aus dem Disney Studio (1928). Kaum haben die Brüder sich diese technische Innovation einverleibt, schraubt Walt die Ansprüche noch höher: Disney investiert in Technicolor, und es entstehen die „Silly Symphonies“ in Farbe (1929).

Und immer wieder lässt Walt alle finanzielle Vernunft fahren: 1934 schockiert er seine Mitarbeiter mit der Vision, einen Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge zu produzieren: „Schneewittchen“. Es wird der erfolgreichste Film werden, den die Brüder jemals produziert haben. Roy fasst es später einmal zusammen: „Jede Woche ein neuer Wahnsinn.“ Nach den wirtschaftlich problematischen Kriegsjahren orientieren sich die Brüder neu: Sie lassen die Tierdokumentationen „Die Robbeninsel“ (1948) und „Die Wüste lebt“ (1953) drehen und nennen sie kühn „True Life Adventures“. Praktischerweise benötigen diese weder gewerkschaftlich organisierte Zeichner wie Trickfilme noch teure Schauspieler wie Realfilme. Den auf den Kaktus gejagten Fuchs haben Tierfreunde niemals verziehen.

Seite aus „The Moneyman“ (Knesebeck)

Einen Wahnsinn hat Walt noch, einen letzten. 1952 beginnen die Planungen für einen Vergnügungspark, mit dem er die Filme noch besser zu vermarkten hofft: Disneyland wird geboren. Am 17. Juli 1955 eröffnen die Brüder – Walt euphorisch, Roy skeptisch – einen gigantischen Vergnügungspark im kalifornischen Anaheim: Disneyland.

„Scher dich zum Teufel, Walt!“

Lustige Filme für Kinder, ein Vergnügungspark für Familien, unterhaltsame Dokumentationen mit Tieren – dass im Hintergrund all dessen Konflikte, Katastrophen und Querelen stecken, daraus macht „The Moneyman“ keinerlei Hehl. Sie streiten sich mit den Mitarbeitern, den Konkurrenten und vor allem zunehmend miteinander. Kaum eine Doppelseite ohne einen aufgebrachten Walt, der sich von seinem Bruder in seiner Kreativität beschränkt sieht, ohne einen zornigen Roy, der zusehen muss, wie Walt seine Ratschläge in den Wind schießt.

Wie es sich für eine Brüdergeschichte gehört, ist es keine ungetrübte, wenngleich sie in absoluter Harmonie endet. Walt erliegt am 15. Dezember 1966 einem Krebsleiden – ein Tumor in seinem linken Lungenflügel hat verhindert, dass er den Traum seines geplanten Disney World bis zum Ende träumen durfte. Roy, der seinen jüngeren Bruder am Sterbebett zur Seite steht, wird seinen Traum vollenden: Am 25. Oktober 1971 eröffnet Disney World in Orlando, Florida. Zwei Monate später stirbt Roy an einem Hirnschlag. Wie einfühlsam dieses Sterben geschildert ist, kann vielleicht nur nachempfinden, wer Ähnliches erlebt hat.

Doppelseite aus „The Moneyman“ (Knesebeck)

„Aber jetzt hören wir Mr. Disney zu.“

Alessio de Santa erzählt die Geschichte als Rückblende. Die Rahmenhandlung spielt im Jahr 1971 zur Zeit der Eröffnung von Disneyworld, und schildert eine zufällige Begegnung zwischen dem 88-jährigen Roy Disney mit einer geduldig zuhörenden Frau und deren Tochter Clara. Dieser Rahmen ist der Erzählanlass für die Rückblende, die durch die Bindung an Roy gar nicht den Anspruch von Objektivität erheben muss. Regelmäßig werden die Sepia-Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1966 von je fünfseitigen, bunter kolorierten Sequenzen der Erzählgegenwart unterbrochen. Durch diese Farbgebung ist die Binnenhandlung, der eigentliche Kern des Comics, zwar einigermaßen trist gestaltet, aber der Effekt, die Distanzierung vom Geschilderten ist eine sinnvolle Entscheidung: Eine Biografie ist immer eine Interpretation dessen, was überliefert ist. Alessio de Santa schildert das launische Genie, den uneinsichtigen Bruder und auch den Geschäftsmann.

„Walt, das ist Diebstahl!“

Manche Episoden werfen ein dunkles Licht auf Walt Disneys Charakter, zumindest leichte Schatten. So leiht er sich von seinem Mitarbeiter Carman Griffin Maxwell einige Felix-the-Cat-Originalzeichnungen von Bill Nolan, ohne die Absicht zu haben, diese jemals zurückzugeben. Der Besuch des Bruderpaares beim italienischen Duce, Benito Mussolini, im Jahr 1935 wird nicht ausgespart, wenn auch recht kurz abgehandelt und mit dem Hinweis auf eine Erinnerungslücke des Erzählers, beinahe mit einem Augenzwinkern, abgetan.

Alessio de Santa, Filippo Zambello (Szenario) und Lorenzo Magalotti (Illustrationen) ist ein schönes Beispiel für eine Comic-Biografie gelungen, welcher der Spagat zwischen der Begeisterung für den Gegenstand und der notwendigen Distanzierung von demselben hervorragend gelingt. Die nicht streng-chronologische Erzählung stellt beide Brüder auf ihre je eigene Weise in den Fokus. Das italienische Künstlerteam, das mitsamt den Koloristen aus fünf Personen besteht, hat ganze Arbeit geleistet – erzählerisch wie visuell.

Vielleicht hätte etwas mehr Sorgfalt im Lektorat bzw. Korrektorat nicht geschadet: Die „Micky Mase“ ist wirklich zu verschmerzen, aber dass das italienische „sono dʼaccordo, ma ho chiesto di essere dimesso“ mit „In Arizona! Mein Schwager war mal dort. Ein gutes Krankenhaus.“ nicht ganz akkurat übersetzt worden ist, können selbst Nicht-Italiener rasch erkennen. Offenbar ist der Text der Sprechblase nebenan gleich zwei Mal platziert worden, und so leiert das Gespräch wie eine springende Platte. By the way, richtig wäre etwa: „Ich stimme zu, aber ich habe darum gebeten, entlassen zu werden.“ Walt hätte solche Nachlässigkeiten vielleicht nicht verziehen, Roy sicher schon. Letzteren sollten wir als Vorbild nehmen, denn mit dieser Comic-Biografie hat Knesebeck eine hervorragende Wahl getroffen.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.