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Rollenspieler. Der Künstler Harald Juch vor einer seiner Wände.

© Thilo Rückeis

„Sprayen ging gar nicht“: Ex-Hausbesetzer malte Cartoons auf Berliner Fassaden

Teil 5 unserer Serie über „Berliner Mauern“ führt zu Harald Juch. Die Spraydose war bei ihm verpönt, „wegen FCKW“. Also griff er zur Malerrolle.

Von Andreas Austilat

Ein massives Bauwerk, das einhegen und schützen, aber auch trennen und begrenzen kann. Mura, Murus – das Wort ist althochdeutschen und lateinischen Ursprungs. Den Steinbau haben die Germanen von den Römern übernommen. Keine Zivilisation ohne Mauern. Sie sind so alt wie China oder Babylon. Und was sie bedeuten können, hat im 20. Jahrhundert keine Stadt schmerzhafter erfahren als Berlin. 30 Jahre nach dem Mauerfall existieren hier immer noch Mauern. Unsere Sommerserie blickt dahinter.

Das Bild ist für Sekunden nur sichtbar, dann wird es dunkel, fährt die S-Bahn in den Nord-Süd-Tunnel ein, auf ihrer Route zwischen Yorckstraße und Anhalter Bahnhof. Schaut man in diesem letzten Moment aber links aus dem Fenster, taucht es zwischen den Bäumen auf: ein Gemälde, das sich über eine gesamte Wand eines vierstöckigen Mietshauses erstreckt, 20 Meter hoch, 60 Meter breit.

Das Kolossalbild zeigt die Rückseite eines Mannes in Jeans und brauner Lederjacke, die Haare stoßen halblang auf den Kragen. Im linken Arm hält er ein Kind im Wickeltuch, die erhobene Rechte deutet mit der zur Faust geballten Hand in Richtung einer Gruppe Polizisten, die sich mit ihren Schildern zur Kette formiert haben. In ihrem Rücken befindet sich die Silhouette eines Atomkraftwerks.

Juch war sehr aktiv in der Besetzerszene

Die Helme und Uniformen, der Schnitt der Lederjacke, die halblangen Haare, sie weisen zurück in die 80er Jahre, als dieses Bild entstand. Ein Jahrzehnt, dessen Beginn in Berlin geprägt war von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Der Tiefpunkt war 1981 der Tod des 18-jährigen Hausbesetzers Klaus-Jürgen Rattay. Nicht weit von hier starb er Bülow-Ecke Potsdamer Straße am Rand eines Polizeieinsatzes. Er geriet unter die Räder eines Doppeldeckers der BVG. Die genauen Umstände wurden nie geklärt.

Harald Juch ist heute 69. Er trägt immer noch Jeans und die Haare vergleichsweise lang, selbst wenn sie weiß und schütter geworden sind. Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass der Mann auf der Mauer, würde er sich umdrehen, Juch ziemlich ähnlich sähe. Er selbst bestreitet das, sagt, es müsse nicht einmal ein Mann, könne auch eine Frau sein. Das Kind auf dem Arm freilich, zu dem hat ihn sein Sohn Ulf inspiriert, der damals ein Jahr alt war. Denn Juch ist – nein, nicht der Maler dieses Bildes, dazu ist es zu groß, dazu bedarf es vieler Hände mehr. Aber er hat es 1986 entworfen und wie ein Dirigent die Ausführung gelenkt.

Könnte Juch heute noch einmal anfangen, wahrscheinlich wäre er Sprayer geworden. Damals hätte er das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können. „Sprayen ging gar nicht“, sagt er, „wegen FCKW.“ Das Kürzel steht für Fluorchlorkohlenwasserstoff, ein Stoff, der die Atmosphäre schädigt, in den 1980er Jahren aber als Kältemittel und als Treibgas in vielen Produkten allgegenwärtig war, auch in Sprühdosen.

Er war damals sehr aktiv in der Besetzerszene. Und er malte. Auf Transparente, auf Wände, illustrierte Parolen meist, an die 100 müssen es gewesen sein. Doch der Folkwang-Schüler und Grafikdesigner wollte auch, dass seine Botschaften selbst von jenen beachtet werden, die nicht seiner Meinung sind. Selbst wenn es schnell gehen musste, sollten sie also wenigstens ein bisschen attraktiv sein.

164 besetzte Häuser existierten damals in West-Berlin

So wurde Juch in den 80er Jahren ein Meister des Roll Paintings, ausgeführt mit der Malerrolle, befestigt an langen Stielen, realisiert von Dachkanten herab oder aus Fenstern heraus. Wie ein Puzzle, das sich schließlich zu einem Bild zusammenfügt. Vier haushohe Fassadenbilder entstanden auf diese Weise. Lieber wäre es ihm gewesen, auch mal eines auf eine fensterlose Brandmauer aufzubringen, wo keine Öffnung den Gesamteindruck stören kann – als ob es sich um eine Riesenleinwand handelt. Aber dafür hätte es eines Gerüstes bedurft, Gerüste waren teuer, wer hätte ihm das bezahlen sollen?

Die Wandlung. In den 80ern bemalte Comiczeichner Harald Juch Häuser, wie hier die Rückseite der Bülowstraße 52 in Schöneberg.
Die Wandlung. In den 80ern bemalte Comiczeichner Harald Juch Häuser, wie hier die Rückseite der Bülowstraße 52 in Schöneberg.

© Thilo Rückeis

Das Wandbild an der Trasse der S 1 befindet sich auf der Rückseite des Hinterhauses der Bülowstraße 52. Die B 52, wie das Haus damals und manchmal heute noch genannt wird, war eines der frühen besetzten Häuser der 80er Jahre. Was kein Alleinstellungsmerkmal gewesen ist, nicht 1981, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung. Allein drei besetzte Häuser gab es in der Bülowstraße, weitere in der Dennewitz-, der Potsdamer, der Winterfeldtstraße, beinahe schien es, als sei der halbe Schöneberger Norden besetzt. Und Kreuzberg mit dazu. 164 besetzte Häuser existierten damals in West-Berlin.

Sie alle mit Gewalt zu räumen, war politisch nicht durchsetzbar vor dem Hintergrund einer Entwicklung, in der Sanierung mit der Abrissbirne einherging. Die Besetzer hingegen reklamierten für sich, die Häuser vor der mutwilligen Zerstörung bewahren zu wollen, sie einem schon damals überhitzten Markt zu entziehen, der mit Bauskandalen Schlagzeilen machte. Allen voran die gewerkschaftseigene Neue Heimat, Eigentümer der Bülowstraße 52. 1981 stand das Unternehmen bereits kurz vor dem Ruin, nachdem ruchbar wurde, wie dreist sich mehrere ihrer Vorstandsmitglieder bereichert hatten.

Juch fing als Karikaturist bei der taz an

Juch kam gerade aus Essen nach Berlin. Er wollte bei der „taz“ mitmachen, die Zeitung war das größte alternative Projekt seinerzeit und sollte so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit werden. Juch fing als Karikaturist an und bezog wie alle anderen Mitarbeiter nicht besonders üppige 900 DM im Monat. Er zog in die Schöneberger Frankenstraße. Der nur ein Zimmer breite Seitenflügel hatte als Gebäuderest einst den Krieg überstanden und dürfte damit das wohl schmalste besetzte Haus gewesen sein. Einmal wagte sich CDU-Bausenator Ulrich Rastemborski zu ihnen hinein. „Der war wirklich beeindruckt von der Kreativität, die er da sah“, erinnert sich Juch. In der Frankenstraße lebten damals neben dem Zeichner auch Installationskünstler und ein noch unbekannter Punk, der sich Blixa Bargeld nannte.

Das Haus gehörte zu denen, die schon bald geräumt und abgerissen wurden. Juch wechselte in die Bülowstraße. Und hier entstanden jene beiden Wandbilder, die von ihm heute noch existieren. Das eine, ein fliegender Elefant, war ihm eines der liebsten. Juch mag ganz offensichtlich Tiere, eines seiner immer wieder gern gezeichneten Motive ist ein Nashorn, das vergeblich eine Löwin anschmachtet. „Nashörner“, sagt er, „sind eigentlich friedlich, doch wenn man sie reizt, sind sie wehrhaft.“

Der fliegende Elefant stand als Traumtänzer für die gelebten Utopien, denen man sich damals ziemlich nahe wähnte. Er befindet sich an der Außenfassade des Seitenflügels der Bülowstraße 52, einer Grünfläche zugewandt, zu der nur die Anwohner der benachbarten Häuser Zugang haben. Das Bild ist kaum noch auszumachen. Nachträglich angebrachte Balkone haben es zerstückelt, Efeu ihm zugesetzt, Putz ist abgeblättert, die Farben sind verblasst. Die wenigsten Mauerbilder sind für die Ewigkeit gemacht.

Tschernobyl und die Folgen

Der einsame Demonstrant entsprang einem anderen Kontext. Juch entwarf ihn Ende April 1986, unmittelbar nachdem die Havarie des Atommeilers in Tschernobyl bekannt wurde. Eigentlich habe er irgendetwas gegen das Wettrüsten malen wollen, sagt er heute. Doch am Morgen danach beherrschte die Katastrophe die Schlagzeilen. „Wir dachten, jetzt passiert, wovor wir immer gewarnt hatten.“

Niemand vermochte damals zu sagen, welche Folgen die sich ausbreitende Strahlung auch auf Westeuropa haben würde, was nicht eben zur Beruhigung beitrug. Milch wurde weggeschüttet, Pilze verschwanden von der Speisekarte, Fleisch war kontaminiert. Und als für Berlin der erste Regen nach dem Unfall angekündigt wurde, interessierte sich plötzlich jeder für Begriffe wie Becquerel und Millirem, fürchteten sich nicht wenige vor flächendeckender Verseuchung.

Juch zeichnete spontan seinen Demonstranten vor Polizeikette und Atommeiler. Nachts warf er das Bild mit einem einfachen Diaprojektor an die Hauswand, wo Helfer die Umrisse skizzierten. Tagsüber wurden die Konturen dann ausgemalt, unten stand Juch und rief seine Anweisungen. Erleichtert wurde die Arbeit dadurch, dass diesmal tatsächlich ein Gerüst bereitstand. Die Bülowstraße 52 war inzwischen als Wohnprojekt legalisiert, die Sanierung der Außenfassade gerade begonnen worden.

Heute wohnen nur noch wenige ehemalige Besetzer in dem Haus

Juch hatte es also mit frischem weißem Putz zu tun, der auch noch überwiegend glatt war. „Es gibt für ein Mauerbild nichts Schlimmeres als Rauh- oder gar keinen Putz“, sagt er mit der Expertise, die er sich mit seinen vielen kleinen und großen Wandbildern erworben hat, auch wenn die meisten mit dem Putz längst abgeblättert sind, übermalt wurden oder die Wand gar nicht mehr steht. In diesem Fall widersteht das Bild nicht zuletzt dank der guten Grundierung seit 30 Jahren den Einflüssen der Witterung, als eine Art Cartoon im öffentlichen Raum, der ein Dokument der Stadtgeschichte geworden ist.

Trotz Gerüst konnte er damals wieder keine fensterlose Wand bearbeiten. Also musste er sie in sein Bild integrieren, bis heute sind Beobachter überzeugt, dass er sie zum Teil des Inhalts machte: Ein Klofenster sieht aus der Ferne aus wie der gereckte Stinkefinger des Demonstranten. Eher ein Zufall, räumt er ein. Bei diesen Dimensionen lässt sich das nur schwer planen.

Mitgeholfen haben damals auch die Kleingärtner, deren Kolonie an die Rückwand des Hauses angrenzt. „Irgendwo mussten wir ja unseren Projektor aufstellen“, sagt Juch. Die Kooperation war nicht selbstverständlich, nachdem die Punks nebenan oft nächtelang die Nachbarschaft mit subversiven Hits wie „Bullenschweine“ von Slime beschallt hatten, manche Kleingärtner mit Parolen, wie „die müsste man alle vergasen“ dagegenhielten. 1986 aber war das nachbarschaftliche Verhältnis schon etwas entspannter.

Heute wohnen nur noch wenige ehemalige Besetzer der ersten Stunde in dem Haus, das aber immer noch als selbstverwaltete Gemeinschaft funktioniert, einschließlich des regelmäßig tagenden Plenums. Das wird sich irgendwann der Frage stellen müssen, wie man mit dem Riesengemälde umgehen will. Denn die zu erwartende Haltbarkeitsdauer von 20 Jahren ist längst abgelaufen. Immerhin, eine Befragung zufällig anwesender Bewohner ergab, dass die meisten stolz sind, hinter dem Wandbild zu wohnen.

Juch arbeitet auch kommerziell

Juch verließ das Haus bereits im Herbst 1986, er ging nach Nicaragua, um dort im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojekts aufklärende Comics zu zeichnen. Nach seiner Rückkehr war er sechseinhalb Jahre Ghost-Zeichner für Rötger Feldmann alias Brösel und dessen Werner-Comics. Er malte die „Die Drei ??? für Kids“ und für Kaiser’s Kaffee mehr als 30 Mauerbilder, mit denen er die meist fensterlosen Fassaden der Filialen im Comicstil aufhübschte und nebenbei die lachende Kaffeekanne erfand.

Juch hatte nie Probleme damit, auch kommerziell zu arbeiten, schließlich müsse man von irgendetwas leben. War das also der Abschied von der Politik? „Auf keinen Fall“, widerspricht er, „ich mach’ vielleicht nicht mehr viel in dieser Richtung, aber ab und zu kann ich nicht anders.“ Anlässe sieht er genug, zum Beispiel vor seiner Haustür in Wilmersdorf. Dort entsteht ein gigantischer Wohnblock mit Parkgarage. „Da lacht einen die Gentrifizierung an“, sagt er. Und klingt dabei, als ob er wieder mit der Malerrolle losziehen will.

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