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Rechtsstreit über antisemitisches Relief Herr Düllmann und die "Judensau"

An etlichen deutschen Kirchen prangen antisemitische Skulpturen. Um das zu ändern, betreibt ein Rentner aus dem Rheinland enormen Aufwand – weil er glaubt: Auch alte Steine bedrohen die Demokratie.
Aus Bonn berichtet Peter Maxwill
Aktivist Düllmann in seiner Wohnung in Bonn: Ein Überzeugungstäter

Aktivist Düllmann in seiner Wohnung in Bonn: Ein Überzeugungstäter

Foto:

Peter Maxwill/ DER SPIEGEL

Die Wandlung des Theologiestudenten Michael Dietrich Düllmann zum Aktivisten vollzog sich spätabends und ohne Publikum. Mit einer Axt bewaffnet ließ sich der 25-Jährige an einem Samstag in der Wolfenbütteler Beatae-Mariae-Virginis-Kirche einsperren, dann legte er los.

In dem protestantischen Gotteshaus zerhieb Düllmann vier Ehrentafeln für deutsche Weltkriegssoldaten, seine pazifistische Botschaft pinselte er mit roter Lackfarbe an die Pfeiler: "Mein Haus soll ein Bethaus sein für alle Völker", schrieb er, "ihr aber habt daraus eine Ruhmeshalle für eure Verbrechen gemacht."

Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert, im November 1968. Seitdem schritt Düllmann immer wieder empört zur Tat. Der inzwischen 76-Jährige ist ein Linker der alten Bundesrepublik, ein Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsaktivist.

Wie ausdauernd er dabei im Lauf der Jahrzehnte geworden ist, zeigt sich an dem Kampf, den er derzeit gegen einen besonders hartnäckigen Gegner führt: die "Judensau" von Wittenberg.

Dabei handelt es sich um ein Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert, eingemauert unter dem Dachsims auf mehreren Metern Höhe in die Fassade der Wittenberger Stadtkirche. Das Relief zeigt, wie ein Rabbiner einem Schwein in den Anus schaut, während andere Juden an den Zitzen des Tieres trinken.

Die obszöne Darstellung trieft vor Antisemitismus: In der christlichen Kunst des Mittelalters verkörperten Schweine den Teufel, im Judentum gelten sie als unrein. Ähnliche Schmähskulpturen sind an etlichen deutschen Kirchen verbaut - in Erfurt und Eberswalde etwa, in Regensburg und Nürnberg, sogar am Kölner Dom.

Das Wittenberger Exemplar aber gilt nicht nur als kunsthistorisch wertvoll, es hat auch darüber hinaus eine besondere Bedeutung: Die Stadtkirche, ältestes Gebäude Wittenbergs und Unesco-Welterbe, gilt als einer der Ausgangspunkte der Reformation. Dort predigte einst Martin Luther, der aus seinem Judenhass in späten Jahren keinen Hehl machte.

In Deutschland ist es strafbar, einen jüdischen Menschen als "Judensau" zu bezeichnen. Wegen einer "Judensau" aber, gewissermaßen der in Stein gehauenen Variante dieser Beschimpfung, musste sich noch nie jemand vor Gericht verantworten. Bis Michael Dietrich Düllmann, selbst Jude, die evangelische Stadtkirchengemeinde Wittenberg verklagte.

Der Streit ist nicht bloß ein Zwist zwischen einem westdeutschen Senior und einer ostdeutschen Kirchengemeinde. Es geht um Antisemitismus im 21. Jahrhundert, um den Umgang der Kirchen mit einem schwierigen Erbe – und um die Frage, wie Hass aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart hineinwirkt.

Düllmann sieht sich durch die Skulptur beleidigt und verlangt, sie abzunehmen. Die Gegenseite argumentiert, die Plastik sei ein jahrhundertealtes Relikt und als solches im historischen Kontext zu verstehen. Zwei Gerichte gaben der Kirche recht, bald entscheidet das dritte.

Kläger Düllmann empfängt in einem sechsstöckigen Waschbetonklotz im Bonner Norden. An den Wänden seiner Eigentumswohnung drängt sich Sachliteratur in den Regalen, Al Gore steht dort neben Willy Brandt, "Theologie und Antisemitismus" neben "Atommacht Israel". Auf zwei Tischen liegen zwischen Zeitungsartikeln etliche Briefe Düllmanns – an seinen Anwalt, den Landesbischof von Magdeburg, die Bundesregierung, den Zentralrat der Juden, die Unesco.

Düllmann trägt Filzpantoffeln, sein Haar ist schlohweiß, trotzdem wirkt er dynamisch: Schwungvoll setzt er sich hin und umgreift die Lehnen seines Sessels, als wäre dieser ein Rednerpult. Dann redet er sich in Rage.

Verstößt die "Judensau" gegen die Verfassung?

Er bezweifle, sagt Düllmann, dass Luthers Theologie mit der Bibel in Einklang stehe: "Das ist ein durch und durch antisemitisches Evangelium, was er predigt." Der Reformator habe nicht nur antijüdischen Ideen den Weg bereitet, sondern auch nationalistischen und rassistischen. Diese Ideen spiegele die "Judensau" wider: „Sie verstößt gegen das Grundgesetz, gegen Artikel 1, gegen die Würde des Menschen.“

Mit dieser Empörung ist Düllmann nicht allein.

Im vergangenen Mai bezeichnete Klaus Holz, Generalsekretär der evangelischen Akademien in Deutschland, das Wittenberger Schmährelief als "eklig": "Das will ich nicht haben, das muss weg ". Im Oktober plädierte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, für eine Abnahme der Skulptur – als "sichtbaren Beitrag zur Überwindung von Antijudaismus und Antisemitismus". Im November forderte Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, die Plastik in einem "erweiterten Denkmal" auszustellen, denn: "Judenhass ist Gotteshass. "

An Unterstützern mangelt es Düllmann nicht, die Stadtkirchengemeinde in Wittenberg will die "Judensau" trotzdem nicht entfernen. Den 76-Jährigen erzürnt das – und es motiviert ihn. Warum geht ihm dieser 460 Kilometer entfernte Fall so nah?

Antworten finden sich in Düllmanns Lebensgeschichte: Schon als Theologiestudent in Göttingen lernte er, dass Luther 1543 gefordert hatte, Synagogen zu verbrennen und Juden alles zu nehmen.

Sein Studium schloss Düllmann nicht ab, stattdessen zog er 1971 für ein paar Jahre als freiwilliger Helfer in ein Kibbuz nach Israel. Dort lernte er seine spätere Frau kennen, die beiden bekamen eine Tochter, und Düllmann entschied sich, Jude zu werden. Die Ehe zerbrach, die Liebe zu Israel blieb: "Ich war schon immer Zionist", sagt Düllmann heute.

Und er war stets ein Aktivist. Düllmann demonstrierte gegen Kriege und engagierte sich für Unicef, er trat den Grünen und Greenpeace bei, er ging wegen einer Blockadeaktion gegen US-Giftgasdepots im Hunsrück ins Gefängnis und in den Hungerstreik.

Düllmann mit selbstgebasteltem Plakat: "Wir testen die deutsche Justiz“

Düllmann mit selbstgebasteltem Plakat: "Wir testen die deutsche Justiz“

Foto: Peter Maxwill/ DER SPIEGEL

"Jetzt testen wir die deutsche Justiz anhand der 'Judensau'", sagt Düllmann. Es gehe darum, wie die deutsche Demokratie nach dem antisemitischen Anschlag von Halle zu judenfeindlichen Schmähplastiken stehe – und darum, welcher Argumentation die Gerichte nun folgen.

Die Kirchengemeinde sieht es so: "Geschichte lässt sich nicht entsorgen", sagte Pfarrer Johannes Block der "Jüdischen Allgemeinen ". Die Plastik werde "der Stachel im Fleisch bleiben, der das Gedenken und Erinnern immer wieder neu provoziert und entzündet."

In einem Positionspapier des Kirchenrats  heißt es, die empörten Reaktionen über das "verstörende Erbe" seien wichtig: "Es wäre fatal, würde die Verspottung der Juden an der Südostfassade der Stadtkirche keinerlei Diskussion auslösen." Zudem sei die Plastik in eine "Stätte der Mahnung" eingebettet. Unter dem Relief gibt es eine bronzene Gedenkplatte, eine Zeder und eine Stele.

"Solange 'Judensauen' an deutschen Kirchen hängen, sind sie Teil der Verkündigungen"

Michael Düllmann

Düllmann kann all dem wenig abgewinnen. An der Planung der Mahnstätte sei in den Achtzigerjahren kein Jude beteiligt gewesen sei, sagt er. Und auf der Gedenkplatte im Boden könne jeder nach Belieben herumtrampeln.

Er will, dass die Wittenberger "Judensau" ins Museum kommt – und dass auch andernorts solche Schmähskulpturen abgenommen werden. "Solange 'Judensauen' an deutschen Kirchen hängen, sind sie Teil der Verkündigungen christlicher Kirchen", sagt Düllmann. Diese seien seit Jahrhunderten "Hauptverantwortliche für Antijudaismus und Antisemitismus".

Düllmann investiert viel in diesen Streit, auch finanziell: Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Hilfsarbeiter in Brot-, Batterie- und Farbenwerken, mit 51 wurde er Altenpfleger. Eigenen Angaben zufolge bekommt er eine Rente von etwa 1100 Euro, einen Großteil davon wende er für seinen Kampf gegen die "Judensau" auf.

Am Dienstag verhandelt ein Zivilsenat am Oberlandesgericht Naumburg den Fall. Sollte Düllmann erneut unterliegen, will er vor den Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht ziehen – und im Zweifel auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das hätte sogar einen großen Vorteil, sagt er: Sollten ihm die Richter in Straßburg recht geben, könne er europaweit gegen antisemitische Skulpturen vorgehen - und die "Judensauen" wirklich aus der Welt schaffen.

Bis dahin müsste Düllmann wohl noch viel Zeit, Kraft und Geld investieren. Warum schafft er die Wittenberger "Judensau" nicht einfach eigenhändig aus der Welt, mit einer Axt beispielsweise, so wie damals, als er im November 1968 in Wolfenbüttel die Ehrentafeln zerstörte?

Düllmann schüttelt den Kopf. "Nein, über dieses Stadium bin ich hinaus." Vielleicht sagt er das, weil er in dieser Geschichte nicht den aufmüpfigen Randalierer spielen will. Vielleicht, weil er weiß, dass er allein mit einer Axt den Kampf gegen den Antisemitismus nicht gewinnen kann.