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Zum Tod von Heiner Geißler Christ, Linker, Schelm

Kaum einer hat so viel gestritten wie Heiner Geißler: Die SPD nannte er "die fünfte Kolonne Moskaus" und Kohls CDU eine "führerkultische Partei". Die christlich geprägte, sozial gerechte Gesellschaft, die er wollte, blieb ein Traum.
Von Karl-Ludwig Günsche

Heiner Geißler hat sich Zeit seines Lebens jeder Einordnung in Raster, Muster oder Klischees entzogen. Je älter er geworden ist, desto mehr hat er sich gewandelt - und Freunde wie Kritiker überrascht: Vom aggressiven, rücksichtslosen Hetzer wurde er zu einer Art moralischem Gewissen der Nation. Willy Brandt hat ihm voll Zorn - und nicht ganz zu Unrecht - einmal vorgeworfen, er sei "der schlimmste Hetzer seit Goebbels". Erhard Eppler nannte ihn den "mit Abstand perfidesten Politiker dieser Republik". Er selbst bekannte: "Demagoge ist für mich kein Schimpfwort" und hat sich erst spät von seinen wüstesten Beschimpfungen distanziert.

Nur Franz Josef Strauß und Herbert Wehner haben in der Bonner Nachkriegsrepublik ähnlich polarisierend gewirkt wie Heiner Geißler. Er hat als CDU-Generalsekretär nie gezögert, wenn es darum ging, den politischen Gegner zu diffamieren.

"Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus"

Die SPD nannte er "die fünfte Kolonne" Moskaus, die Grünen den "Volkssturm der SPD". Er scheute nicht einmal davor zurück, SPD und Grünen in einer Debatte über die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik vorzuhalten, der Pazifismus der Dreißigerjahre habe Auschwitz erst möglich gemacht.

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Heiner Geißler: CDU-General, Familienminister, Querdenker

Foto: THOMAS PETER/ REUTERS

Genauso wortgewandt und streichartig attackierte er nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik Banken, Börsen und Bosse - und seine eigene Partei. Eine "führerkultische Partei" nannte er Kohls CDU. Schon früh bestätigte er die Existenz schwarzer Kassen. Der "Herz-Jesu-Marxist" - wie ihn Strauß und Helmut Kohl gerne verspottet haben - zog gegen den Kapitalismus ebenso engagiert zu Felde, wie früher gegen den Kommunismus.

Geißler riet der SPD zur Zusammenarbeit mit der Partei "Die Linke": "Warum denn nicht?" Er verkündete: "Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus" und beklagte: "Arbeiter sind wieder arm, weil sie Arbeiter sind." Kaum ein anderer Politiker hat so viel geschrieben, an so vielen Talkshows teilgenommen, so viel gestritten und argumentiert wie Heiner Geißler.

Von Helmut Kohl für die Politik entdeckt

Eigentlich wollte der am 3. März 1930 in Oberndorf am Neckar geborene Heiner Geißler Priester werden. Mit 19 Jahren wurde er Novize bei den Jesuiten. Doch noch bevor er endgültig geweiht wurde, verließ er den Orden, weil er die drei Ordensgelübde Armut, Keuschheit, Gehorsam nicht einhalten konnte. "Mit 23 Jahren habe ich gemerkt, ich kann zwei - also mindestens eins - dieser Gelübde nicht halten. Die Armut war es nicht", bekannte er später.

Der "Jesuitenzögling" - eines der Klischees, die ihm anhafteten - studierte Philosophie und Jura, promovierte zum Dr. jur., wurde Richter am Amtsgericht Stuttgart, wechselte dann als Regierungsrat ins rheinland-pfälzische Sozialministerium. 1962 heiratete er seine Frau Susanne, mit der er drei Söhne hat. Alles schien auf eine normale Beamtenlaufbahn hinauszulaufen.

Doch dann wurde er - ebenso wie Richard von Weizsäcker, Kurt Biedenkopf, Eberhard Diepgen, Roman Herzog und manch anderer - von Helmut Kohl für die Politik entdeckt. Mit 35 Jahren wurde er Bundestagsabgeordneter, kehrte allerdings schon zwei Jahre später als Sozialminister nach Rheinland-Pfalz zurück. Zehn Jahre lang diente er insgesamt drei Ministerpräsidenten: Peter Altmeier, Helmut Kohl und Bernhard Vogel.

Dann holte Kohl ihn als Generalsekretär nach Bonn. Geißler baute den Kanzlerwahlverein CDU zu einer modernen, schlagkräftigen Volkspartei um, erschloss sie für neue Mitgliederschichten, erwies sich als geschickter, erfolgreicher und rücksichtsloser Wahlkampfmanager und erweiterte umsichtig seine eigene Machtbasis in der Partei. Geißlers neues Rezept auf der Bonner Bühne hieß: Begriffe besetzen. Er griff auf eine alte Erkenntnis von Aristoteles zurück: "Allemal gilt, dass, wer die Begriffe und Gedanken bestimmt, auch Macht über die Menschen hat." Geißler war der Erfinder des perfiden Wahlkampfmottos "Freiheit statt Sozialismus".

Wie Geißler zum Außenseiter in der eigenen Partei wurde

Zwölf Jahre war er als Generalsekretär - oder, wie er sich zuweilen selber gerne nannte, "geschäftsführender Vorsitzender" - neben Kohl die zentrale Figur der CDU. Von 1982 bis 1985 hat er zusätzlich auch noch das Amt des Bundesgesundheitsministers übernommen.

Doch sein Verhältnis zu Kohl hatte sich merklich abgekühlt. Er war dem mächtigen CDU-Vorsitzenden zu einflussreich und ehrgeizig geworden. Geißler bekannte ungeniert, dass er sich das Amt des Kanzlers zutraue - so wie er 2010 erklärte, er könne sich auch gut in der Rolle des Bundespräsidenten sehen, nur habe ihn niemand gefragt.

Vor dem CDU-Parteitag 1989 kam es endgültig zum Bruch zwischen Kohl und Geißler. Der CDU-Generalsekretär hatte gemeinsam mit Kurt Biedenkopf und Rita Süssmuth versucht, ein Komplott zum Sturz Kohls zu schmieden. Doch der innerparteiliche Putschversuch scheiterte, Kohl trickste die Umstürzler aus, Geißler verlor sein Amt als CDU-General.

Zwar blieb der begeisterte Gleitschirmflieger, Bergsteiger und Kletterer bis 2000 im Bundestag, wurde auch Fraktionsvize. Doch er verlor überraschend schnell seinen ehemals großen Einfluss auf die Partei und wurde zum Außenseiter.

Idol der linksintellektuellen Szene

Zwar hatte er sich in seiner rheinland-pfälzischen Heimat Gleisweiler, dem "pfälzischen Nizza", eine Idylle mit eigenem Weinberg geschaffen. 300 Flaschen "Gleisweiler Hölle" kelterte er jedes Jahr. Doch es hielt ihn nicht zu Hause im Ruhestand. 1992 kam er bei einem Unfall mit dem Gleitschirm nur knapp mit dem Leben davon. Er schrieb Bestseller, mehr als jeder andere Politiker, und war immer ein gefragter Gast in Talkshows, wenn es galt, gegen den Zeitgeist zu Felde zu ziehen.

2007 trat er dem globalisierungskritischen Netzwerk "attac" bei, bis dahin für einen CDU-Politiker undenkbar. Der tief in der katholischen Soziallehre verwurzelte Heiner Geißler blieb bis zu seinem Tod ein unerschrockener Provokateur. "Krank, unsittlich und ökonomisch falsch" sei das neoliberale Wirtschaftssystem, wetterte er. Er sprach von "Geier-Fonds" und postulierte "Revolutionen haben nie die Armen gemacht. Es sind die Intellektuellen, die jetzt gefordert sind." Eine seine letzten großen Aufgaben war die Moderation im erbitterten Streit um das Bahnprojekt "Stuttgart 21".

Am Ende seines Lebens war der Mann, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren wie kein zweiter gegen SPD und Grüne gehetzt hatte, zu einer Art Idol der linksintellektuellen Szene in Deutschland geworden. Bei all seinen Wandlungen ist er Zeit seines Lebens ein Suchender geblieben, der nie gefunden hat, wonach er suchte: eine christlich geprägte, gerechte, soziale und ethisch fundierte Gesellschaft.