Den Schrecken und die Schreie, das Blut und die Tränen haben sie in Aktenordner weggesperrt. Manchmal lesen Richter, Staatsanwälte oder Verteidiger aus den Papieren vor. Sie tun dies in einer Sprache, die den Schrecken nicht freilässt. Dennoch ist jedem Zuschauer klar, dass das Landgericht Stade über Schlimmeres als Urkundenfälschung oder Handtaschenraub verhandelt.

Am Eingang steht eine Sicherheitsschleuse, im Saal trennt Plexiglas Zuschauer und Akteure. Zwischen Richterbank und Verteidigertischen sitzen stämmige Justizangestellte, unter die Zuschauer mischen sich Polizisten in Zivil.
Seit genau einem Monat verhandelt die Zweite Große Strafkammer des Landgerichts Stade unter Vorsitz von Hans-Georg Kaemena einen spektakulären Fall von Raub und Mord. In den Akten finden sich die Namen von sieben Asiaten, die im Sittenser China-Restaurant "Lin Yue" erschossen wurden. Vor Gericht stehen fünf Vietnamesen im Alter zwischen 30 und 42 Jahren.
Die Anklage sieht den Fall so: Am 4. Februar gegen 23 Uhr betraten die Brüder Phong D. C. und Trong Duong D. zusammen mit ihrem Komplizen Van Hiep V. das "Lin Yue". Sie fesselten fünf Menschen, die in dem Restaurant arbeiteten. Als ein Koch zu fliehen versuchte, wurde er per Kopfschuss getötet. Genau so starben die fünf Gefesselten und der "Lin-Yue"-Besitzer. Als Haupttäter gilt Phong D. C.
Eigentlich hätten die Männer einen Raub geplant, so die Anklage. Nach dem Fluchtversuch des Kochs jedoch sei die Lage außer Kontrolle geraten. "Um die Tat zu verdecken, erschoss er (Phong D. C.) anschließend die anderen Opfer", heißt es in dem Schriftstück. Van Phuong V., der Bruder von Van Hiep V., soll in einem Auto aufgepasst haben. Quoc Thanh N. schließlich, der früher im "Lin Yue" gearbeitet hat, soll den Brüderpaaren geflüstert haben, dass in dem Restaurant was zu holen ist. Die Beute: 5105 Euro, zwei Computer und 13 Handys.
Die Anklage geht auf die Ermittlungen einer 100-köpfigen Sonderkommission zurück, die die Polizei nach dem Mord gebildet hat. Es liegen außerdem Geständnisse der Brüder V. vor, die allerdings nur einen Teil der Szenerie ausleuchten. Einige Angaben widersprechen sich oder passen nicht zu den Erkenntnissen der Ermittler.
So behauptet Van Hiep V., von der Mordserie nichts mitbekommen zu haben, weil er auf der Suche nach Beute im Haus unterwegs gewesen sei. Andererseits hat die Sonderkommission Spuren gefunden, wonach sowohl der Koch als auch der Besitzer festgehalten wurden, während man sie erschoss. Diese Aufgabe kann nicht Phong D. C., der mutmaßliche Schütze, erledigt haben. Auch die Behauptung von Van Phuong V., er habe im Auto gewartet, muss nicht stimmen. An V.s Siegelring haftete Schmauch, wie ihn Pistolen beim Schuss absondern.
Der erste Monat des Mordprozesses wurde vor allem durch juristisches Hickhack geprägt. Zehn Verteidiger stellten eine Flut von Anträgen. Das Gericht sei laut Geschäftsverteilungsplan für den Prozess gar nicht zuständig, mutmaßten sie. Überdies hielten sie die Dolmetscher für ungeeignet. Der Bremer Rechtsanwalt Bernhard Docke kritisierte, dass das Gericht ihm und den Kollegen den "labyrinthischen Ermittlungsakten-Moloch" zu kurzfristig übersandt habe.
Sieben Gigabyte groß sei der Datensatz, was 40.638 Seiten entspreche, rechnete Docke vor. Daraufhin setzte das Gericht den Prozess zum Aktenlesen aus. Außerdem klagten die Verteidiger darüber, dass die Akten unvollständig seien. Das sah das Gericht anders. Schon jetzt ist klar: Der Sittensen-Prozess wird weit in das kommende Jahr hineinragen.
Eine Zweijährige das einzige Opfer, das die Nacht überlebt hat
Eine derartige "Konflikt-Verteidigung" verfolgt in der Regel zwei Ziele. Entweder soll den Richtern zugesetzt werden, damit sie für "Deals" empfänglich werden. Der könnte in Fall "Sittensen" so aussehen: Ja, es war Mord. Nein, die "besondere Schwere der Schuld" wird nicht festgestellt.
Oder aber die Verteidiger zwingen Richter zu Fehlern oder Unbeherrschtheiten, die eine spätere Revision des Urteil möglich machen. Bislang ist nicht zu erkennen, dass Richter Kaemena in diese Falle tappen könnte. Während die Wogen einmal besonders hoch schlugen, lobte er die Verteidiger ausdrücklich als "engagiert". Geblinzelt hat Kaemena nicht dabei.
Als nach drei Wochen die juristischen Geplänkel abebbten, schimmerte erstmals der Schrecken durch, der tief in den Aktenbergen vergraben ist. Der erste Zeuge, ein Kommissar, ließ Fotos vom Tatort an die Wand beamen. Aufnahme Nr. 4 zeigte einen schwarzen Schuh und ein Püppchen auf einer Fußmatte mit dem Schriftzug "Herzlich Willkommen!". Der Schuh gehört dem Besitzer, das Püppchen seiner zweijährigen Tochter. Sie ist das einzige Opfer, das die Nacht zum 5. Februar überlebt hat.