WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Als Helmut Schmidt den US-Präsidenten Carter anschrie

Geschichte Schmidt vs. Carter

Als Helmut Schmidt den US-Präsidenten anschrie

1979/80 eskalierte der Streit zwischen Bonn und Washington. Neutronenbombe und Nato-Doppelbeschluss hatten das Vertrauen verbraucht. Eine sehr persönliche Erinnerung an Helmut Schmidt.

Die Erinnerung an den verstorbenen Helmut Schmidt ehrt man anlässlich seines 97. Geburtstages einen Tag vor Weihnachten am besten, indem man das Singuläre an ihm festmacht. Wie er im Guten wie im Bedenklichen Geschichte geschrieben hat. Kein Feld eignet sich dafür besser als die internationalen Beziehungen: Hohe strategische Begabung konnte sich bei Schmidt mit taktischer Ungeschicklichkeit verbinden, Weitsicht mit einer unglücklichen Hand im täglichen Grabenkrieg.

In Europa-Fragen etwa war er Meister der Gradlinigkeit – vielleicht, weil er in Frankreichs Präsidenten Giscard d‘Estaing einen so kongenialen Partner gefunden hatte. In den Beziehungen zur SPD, seiner Partei, dagegen verließ ihn die Fortune. Ebenso, bedeutsamer noch, im Verhältnis zu Amerika. In Schmidts Kanzlerschaft ging nach 1977 die deutsch-amerikanische Eintracht – „unser zweites Grundgesetz“, wie Walther Leisler Kiep es einst gesagt hatte – beinahe zu Bruch.

Für die "Welt" beobachtete Thomas Kielinger (Jg. 1940) seit den späten 1970er-Jahren als Korrespondent in Washington US-Präsident Jimmy Carter – und auch Helmut Schmidt. Heute ist er London-Korrespondent und erfolgreicher Buchautor
Für die "Welt" beobachtete Thomas Kielinger (Jg. 1940) seit den späten 1970er-Jahren als Korrespondent in Washington US-Präsident Jimmy Carter – und auch Helmut Schmidt. Heute ist ...er London-Korrespondent und erfolgreicher Buchautor
Quelle: dpa,privat

Ich war in den späten 70er- und 80er-Jahren Korrespondent der „Welt“ in Washington, D.C. Hier konnte ich aus eigener Anschauung verfolgen, wie die Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen sich bedrohlich entfaltete. Der Bundeskanzler war keineswegs der einzige Auslöser dieser Krise – Jimmy Carter, im November 1976 zum 39. Präsidenten der USA gewählt und heute 91 Jahre alt, hatte ebenso starken Anteil daran.

Wir schauen auf dieses Kapitel als eine Phase glückloser Politik, die brillant begann und so gut wie gescheitert endete. Es gehört zur Größe von Helmut Schmidt, dass er ein Mensch voller Widersprüche war: umgänglich und arrogant, wohlmeinend und verletzend. Das Letztere traf oft auch Journalisten, die ihn damals begleiteten. Ein Lehrstück.

Am 28. Oktober 1977 hielt Schmidt im Londoner „International Institute for Strategic Studies“ einen Vortrag über Sicherheitspolitik – es war das wohl gravierendste Wort des deutschen Kanzlers unter allen seinen strategischen Initiativen. Der Deutsche hatte ein Leck in der militärischen Disposition der Nato entdeckt, eine potenzielle Gefährdung der Bündnispartner: Die laufenden Abrüstungsgespräche – „Salt“ genannt – zwischen Washington und Moskau handelten nur von den atomaren Langstreckenwaffen, ließen Nuklearwaffen der Mittel- und Kurzstrecke jedoch völlig außen vor. Damit auch eine neue sowjetische mobile Atomrakete, die SS-20, die überall in kürzester Zeit verteilt werden konnte, ob an der chinesischen Grenze oder auf Westeuropa gerichtet. Für die europäischen Nato-Staaten eine wachsende Bedrohung.

Das Dilemma mit der Neutronenbombe

Schmidts erhobener Zeigefinger war eine Großtat in sicherheitspädagogischer Hinsicht – sie wurde von den Amerikanern sofort aufgegriffen. Offensichtlich, so folgerte man in Washington, mahnte der Bundeskanzler gleichwertige „Theatre Nuclear Forces“ auf Nato-Seite an, als Gegengewicht zur SS-20. Zwei Jahre später erhielten sie einen Namen: Pershing 2 (Reichweite 1800 Kilometer) und Cruise-Missile, also Marschflugkörper (2500 Kilometer Reichweite). Der Konsens, die Einigkeit in der sicherheitspolitischen Analyse und ihrer Umsetzung schien geschmiedet. Doch ausgerechnet jetzt begannen die Probleme.

Noch vor Schmidts Rede hatte im Sommer des gleichen Jahres eine neue US-Atomwaffe für Aufregung gesorgt – die Neutronenbombe. Eine Kernwaffe, deren Strahlung Leben vernichten sollte, ohne große Kollateralschäden an Gebäuden und Infrastruktur anzurichten. Ein Reporter der „Washington Post“, Walter Pincus, hatte ganz zufällig beim Durchblättern der Einzelposten des Pentagon-Etats am 17. Juni 1977 diesen neuen Sprengkopftyp entdeckt, der sich unter der Chiffre ERW II für „Enhanced Radiation Weapon“ versteckt hielt.

Auch fast 40 Jahre später spüre ich noch die Aufregung, die diese Entdeckung im ansonsten sommerschläfrigen Washington verursachte. Und ich sah, wie in Europa aus Aufregung wahre Aufstände der Gegenwehr entstanden. Egon Bahr nannte die Waffe „ein Symbol der Perversion menschlichen Denkens“, und die Anti-Atom-Bewegung erhielt mächtigen Auftrieb.

In der Luft teilte Schmidt schonungslos gegen Carter aus

Von nun an musste der Stratege Helmut Schmidt damit rechnen, in allen Fragen atomarer Bewaffnung zwei Störfaktoren gegen sich zu haben, die Friedensmarschierer und – Jimmy Carter. Ja, auch ihn. Denn Carter, unerprobt in internationalen Beziehungen, sollte durch sein Hin und Her in der Frage der Neutronenbombe die Bonner Regierung auf bestürzende Weise bloßstellen.

Anzeige

Im Kanzleramt hatte man Signale erhalten, dass der Präsident Ja sagen würde zur Produktion des umstrittenen neuen Atomsprengkopfes, und so billigten Regierung und Parlament nach langem Zögern und schmerzhafter Selbsterforschung am 4. April 1978 seine Einführung ins Nato-Arsenal sowie die mögliche Stationierung auf deutschem Boden. Doch oh Schreck: Nur drei Tage später entschied Carter, die Waffe nicht zur Serienproduktion freizugeben.

Eine Blamage für die deutsche Seite. Schmidt verlor das letzte Vertrauen in die Urteilskraft des Präsidenten. Schon von Anfang an hatte der Neue im Weißen Haus ihn mit seiner Menschenrechtspolitik irritiert, die das diskrete Gespinst der Beziehungen zu Moskau, von Henry Kissinger entworfen, zu zerstören drohte. Doch hütete der Kanzler über seine Einschätzung der neuen Mannschaft im Weißen Haus wohlweislich seine Zunge, solange er nach seinen diversen Treffen in Washington noch auf US-Boden war. In der Luft dann begann er, schonungslos gegen den Naiven aus Georgia zu briefen.

Undatierte Aufnahme einer US-amerikanischen Mittelstreckenrakete vom Typ Pershing II.
Undatierte Aufnahme einer US-amerikanischen Mittelstreckenrakete vom Typ Pershing II.
Quelle: picture-alliance / dpa

1979 sollte das Jahr neuer Nato-Eintracht werden. Ich traf mit dem Pressetross des Weißen Hauses Anfang Januar auf der französischen Antilleninsel Guadeloupe ein, wo die vier Großen der westlichen Politik – neben Jimmy Carter und Helmut Schmidt der Franzose Giscard d’Estaing und der britische Premier James Callaghan – die Antwort auf die neuerliche sowjetische Rüstungsschraube beschlossen: Nachrüstung des Westens mit 108 Pershing-2-Raketen und 464 Cruise-Missile ab 1983, verbunden mit dem Angebot an Moskau, über die Begrenzung dieser „eurostrategischen“ Systeme einschließlich der SS-20 zu verhandeln.

Dieser „Doppelbeschluss“ wurde am 12. Dezember vom Nato-Rat feierlich abgesegnet. Er war die logische Folge dessen, was Schmidt mit seiner Rede vom Oktober 1977 angestoßen hatte.

Doch alle Hoffnung auf einen diplomatischen Durchbruch zerbrach, als die Sowjets am Heiligabend 1979 in Afghanistan einmarschierten. Keine Zeit für ein Verhandlungsangebot an Moskau, im Gegenteil. Der US-Senat verweigerte sogar die Ratifizierung des im Juni 1979 in Wien unterzeichneten zweiten „Salt“-Vertrages, und Jimmy Carter rief zum Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau auf.

Dem schlossen sich in Europa vier Staaten an: Liechtenstein, Monaco, Norwegen und – die Bundesrepublik. Schmidt sah sich in der Loyalität zu einem Bündnispartner gefangen, dessen Führungsfigur ihm mehr und mehr gegen den Strich ging. Sein Groll wuchs.

Auf dem Wirtschaftsgipfel in Venedig im Juni 1980 kam es zum Eklat. Helmut Schmidt, bemüht, einen eiskalten Krieg in der Mitte Europas zu vermeiden und die letzten Reste von Entspannungspolitik zu retten, hatte zuvor öffentlich Ideen verbreitet, die nach einem Moratorium der Nachrüstung klangen oder zumindest so verstanden werden konnten.

Der Krisenmanager im Kanzleramt

Helmut Schmidt ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Mit seinem Tod verliert Deutschland einen der prägendsten Politiker der Nachkriegszeit. Ein Nachruf.

Quelle: Die Welt

Anzeige

Washington wurde misstrauisch: Carter schrieb, von Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski angestiftet, einen Brief an den Kanzler und mahnte ihn zur Treue zum gemeinsam gefassten Doppelbeschluss. Ein Sprengsatz. Schmidt verlor in einem Vorgespräch mit dem Präsidenten und seinen Beratern vollends die Kontrolle.

Laut Carters Tagebuchnotiz „schrie und lärmte“ er, beschimpfte den Präsidenten ob der Unterstellung mangelnder Solidarität. Carter musste lange warten, ehe er Gelegenheit erhielt zur Erwiderung auf diese Gardinenpredigt und zur Beruhigung von Schmidts Nerven.

Auf der Gipfelkonferenz machte dieser Zusammenprall schnell die Runde – die US-Reporterschaft war entsprechend gebrieft worden. Doch zeigte sich Schmidt in scharfzüngiger Laune, als er beim Pressetermin alle Fragen nach dem Zwist mit Carter auf gewohnt schnoddrige Art abschmetterte: Die Medien möchten doch bitte ernsteren Fragen nachgehen als dem Nebenbei von Gerüchten.

Mit hartem Blick strafte er jeden ab, der es wagte, in dem Thema dennoch herumzubohren. Ich selber wurde das Ziel einer solchen Abkanzelung, war meine Antenne doch seit der Neutronenbombenaffäre weit ausgefahren in Sachen transatlantischer Verstimmung. An dem Streit, behauptete Schmidt, sei überhaupt „nichts dran“.

"Schmidt-Schnauze" - Worte für die Ewigkeit

Seine Markenzeichen: Menthol-Zigaretten und direkte Worte. Ob im Wahlkampf, als Kanzler oder nach seiner aktiven Karriere: Mit Helmut Schmidt geht einer, der mit Worten umgehen konnte, wie kaum ein anderer.

Quelle: Die Welt

Nichts dran? In seinen Memoiren „Keeping Faith“ (1982) verriet der inzwischen abgewählte Ex-Präsident Carter, dass er viele harte Auseinandersetzungen mit politischen Gegenübern gehabt habe. „Aber der Austausch mit Schmidt in Venedig war die unangenehmste persönliche Begegnung, die ich je hatte.“

Carters weiterer Kommentar ist eindeutig: „Schmidt schien wie zerrissen zwischen den widersprüchlichen Kräften in seinem Land. Im privaten Gespräch empfahl er Härte im Umgang mit der sowjetischen Bedrohung. Aber in den öffentlichen politischen Debatten in Deutschland vertrat er meist das Gegenteil und schien widerwillig, irgendetwas zu tun, was als antisowjetisch hätte interpretiert werden können. Dieser Konflikt machte es für Amerikaner schwer, ihn zu verstehen. Seine andauernde Kritik an unserer Regierung, oft weithin publiziert, half, antiamerikanische Gefühle in Deutschland zu legitimieren.“

Es brauchte das Ende der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 und das entschiedene Eintreten Helmut Kohls für die Nachrüstung im „Raketenwahlkampf“ vom März 1983, um die Beziehungen zwischen Washington und Bonn einigermaßen zu kitten.

Dabei hatte mit Schmidts Rede im Oktober 1977 alles so weitsichtig begonnen. Es war das Pech des Bundeskanzlers, dass er zwischen der expansiven sowjetischen Politik, einem unerfahrenen amerikanischen Präsidenten und der Friedensbewegung, die bis in seine Partei reichte, aufgerieben wurde. In dieser Situation war er ein Jongleur ohne Fortune. Mit einer spitzen Zunge, die sich eher als Handicap erwies denn als Trumpf.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema