23. März 1949

Rede vor der Interparlamentarischen Union in Bern

An die Spitze meiner Ausführungen möchte ich ein herzliches Wort des Dankes stellen für das, was die Schweizer im Frieden, im Kriege und im Nachkriege (denn Frieden können wir den gegenwärtigen prekären Zustand ja wohl auf absehbare Zeit hinaus nicht nennen) für die Deutschen getan haben. Ich denke da in erster Linie an die Wah­rung der deutschen Interessen im damals feindlichen Auslande durch die Schweiz als Schutzmacht. Das, was in dieser Hinsicht vom eidgenössischen politischen Departement geleistet worden ist in der Hilfe für die Wehrlosen, die keinen anderen Schutz hatten als den der Schutzmacht, füllt ein ehrenvolles Blatt Ihrer Geschichte. Die Kriegs­gefangenen, die den Schutz der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929 und die Zivilinternierten, denen ein solcher Schutz nicht ausdrücklich zugesagt war, wissen von dem segensreichen Wirken der Schutz­macht zu berichten.

Ich gedenke in diesen Zusammenhang auch des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, dieser genialen Schöpfung, getragen vom Geist echter Humanität und in die Wirk­lichkeit umgesetzt in der Hauptsache von Schweizer Bürgern. Schließlich ist es mir ein Bedürfnis heute aller caritativer Hilfsorganisationen der Schweiz zu gedenken, die nach Einstellung der Feindseligkeiten in großzügiger Weise dem notleidenden Nachbarvolk Un­terstützung gewährt haben. Manche persönliche Tragödie ist durch dieses vom Geiste echter Menschlich­keit getragene Hilfswerk verhindert oder doch wenigstens erleichtert worden.

Ich spreche zu Ihnen nicht unter einem caritativen Gesichtspunkt. Ich spreche auch nicht zu Ihnen, um Hilfe zu erbitten. Ich will versuchen, Ihnen darzulegen, wie die Verhältnisse in Deutschland zurzeit sind. Es kann wohl der Schweiz nicht gleichgültig sein, was in dem immerhin noch 65 Millionen Einwohner zählenden Nachbarlande vor sich geht, zumal da ein erheblicher Teil der Schweizer durch gemeinsame Sprache und Kultur mit Deutschland verbunden ist.

Die Schweiz ist ein europäisches Land. Trotz ihrer Neutralität ist sie von der Entwicklung in Europa absolut abhängig. Die Entwicklung Europas ist aber, ich kann das sagen, ohne mich der Übertreibung schuldig zu ma­chen, abhängig von der Entwicklung in Deutschland, Unsere Zeit ist sehr verwirrt. Täglich tauchen neue Pro­bleme auf. Anscheinend zeigen sich immer wieder neue Phasen in der Entwicklung. Aber trotz dieser Fülle der Probleme muß sich jeder Verantwortung tragende Mensch darüber klar sein, daß es für die jetzige und die kommende Generation im Augenblick nur ein Hauptproblem gibt, und zwar das folgende:

Zwei große Mächtegruppen haben sich auf der Erde gebildet. Auf der einen Seite die im Atlantic-Pakt ver­einigte Mächtegruppe unter Führung der USA. Das ist die Gruppe, die die Güter der christlich-abendländischen Kultur, Freiheit und wahre Demokratie verteidigt. Auf der anderen Seite steht Sowjetrußland, das ist Asien, mit seinen Satelliten-Staaten.

Die Trennungslinie dieser beiden Mächtegruppen geht mitten durch Deutschland hindurch. 20 Millionen Deut­sche leben unter Sowjetherrschaft, etwa 43 Millionen Deutsche im Be­reich- des Atlantic-Blocks.

Diese 43 Millionen Deutsche, die im Bereich des Atlantic-Blocks liegen, sind im Besitz der wichtigsten Bo­denschätze des größten europäischen Industriepotentials. Dieses Land aber, die drei Westzonen Deutschlands, befindet sich in einem auf die Dauer nicht haltba­ren Zustand der Unordnung. Von seinen 43 Millionen Ein­wohnern lebt auch jetzt noch ein sehr erheblicher Teil unter Wohnverhältnissen so elender Art und im Grunde genommen rechtlich in einem Zustand solcher Unfreiheit, wie man ihn vielleicht vor einem Jahrhundert auf dem Balkan für möglich gehalten hätte, wie man ihn aber in Mitteleuropa seit Jahrhun­derten wohl nicht mehr für möglich halten würde. Wohin wird die Entwicklung West­deutschlands und seiner Bewohner schließlich führen? In die geregelten Zustände einer europäischen Ordnung oder in Unordnung? Das ist die Frage, die jetzt eine Entschei­dungsfrage für Europa und damit auch für die Schweiz ist. Ich bitte Sie, meine Ausführun­gen lediglich unter diesem Gesichtspunkt, dem Gesichtspunkt der Interessen der Zukunft der Schweiz und Europas, zu würdi­gen.

Ich werde versuchen, mit denkbar größter Objektivität Ihnen eine Schilderung zu geben. Die Zahlen, die ich Ihnen im Verlauf meiner Ausführungen nennen werde, sind möglichst zuverlässig ermittelt. Soweit es irgend wie zugängig war5 habe ich ausländische Que11en benutzt. Das Verständnis des gegenwärtigen Zustandes in Deutschland ist nicht möglich ohne einen kurzen historischen Überblick über das, was seit 1945 geschehen ist, zu ge­ben. Ich schicke diese Übersicht meiner Darlegung über die gegenwärtige Lage und eines Ausblic­kes in die Zukunft voraus.

Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai des Jahres 1945 ist von den Alliierten dahin ausgelegt worden, daß infolgedessen ein vollständiger Übergang der gesamten Regierungsgewalt auf die Alliierten stattgefun­den habe. Diese Auslegung war völkerrechtlich falsch. Praktisch haben die Alliierten damit eine für niemanden zu lö­sende Aufgabe übernommen. Meines Erachtens war diese Maßnahme der Alliierten ein schwerer Fehler. Sie konnten diese Aufgabe beim besten Willen nicht lösen. Es mußte ein Fehlschlag eintreten, der das An­sehen der Alliierten stark im deutschen Volk beeinträchtigt hat. Es wäre richtiger gewesen, wenn die Alliier­ten nach einem kurzen, infolge der kriege­rischen Wirren notwendigen Zwischenzustand den Deutschen selbst die Ordnung ihrer Verhältnisse und den Neubau ihres Staatswesens überlassen und sich auf die Kontrolle be­schränkt hätten. Der Versuch, dieses große desorganisierte Land von außen her und geleitet vielfach von eigenen politischen Gesichtspunkten zu regieren, konnte keinen Erfolg haben. So trat ein rapider wirtschaftli­cher, körperlicher und seelischer Verfall der Deut­schen ein, der sich vielleicht hätte vermeiden lassen. An­scheinend haben auch Intentio­nen, wie sie der Morgenthau-Plan geoffenbart hat, mitgewirkt. Eine Wen­dung kam erst durch den Marshall-Plan. Der Marshall-Plan wird immer ein Ruhmesblatt der Vereinigten Staaten von Amerika bleiben. Die Wendung kam aber nur sehr langsam und das Absinken Deutschlands, das seit der bedingungslosen Kapitulation auf wirtschaftlichem, körperli­chem, moralischem und politischem Gebiet eingetreten war, war nur schwer wieder aufzu­holen.

Der 5. Juni 1945 ist der historische Tag, an dem die vier Oberbefehlshaber der Alliierten verkündeten, daß sie die oberste Regierungsgewalt übernehmen, und zwar für alle Deutschland betreffenden Angelegenheiten zu­sammen im sogenannten Kontrollrat und jeder einzelne von ihnen in seiner Zone, in die sie das gesamte Gebiet aufteilten, d.h. die amerikanische, die britische, die französische und die russische Zone. Am gleichen Tage wurde für das Gebiet von Groß-Berlin eine besondere Leitung, aus 4 Militärkommandan­ten der 4 Alli­ierten bestehend, eingesetzt. Der Kontroll-Rat ist seit dem 2o. 3. 1948 arbeits­unfähig. Am 1. Juli 1948 erklärte der sowjetrussische Staatschef, daß die 4-Mächte-Kom­mandantur in Berlin nicht mehr bestehe.

1946 wurden durch Verfügung der Alliierten Länder gebildet. Es wurden politische Parteien zugelassen und im Herbst 1946 ordneten die Militärregierungen in den Ländern das Zu­sammentreten von Landtagen an, deren Mitglieder sie ernannten. Im Jahre 1947 fanden die ersten Wahlen zu diesen Landtagen statt. Aber trotzdem nunmehr die gewählten Landtage in Funktion traten, die die Länderregierungen bestellten, erhielten die Län­der sehr beschränkte Zuständigkeiten. Alle Beschlüsse der Landtage bedurften - und bedürfen zu ihrer Gül­tigkeit der Genehmigung der Militärregierung.

Um den weiter fortschreitenden wirtschaftlichen Verfall ein Ende zu bereiten, haben im Jahre 1947 die briti­schen und amerikanischen Militärregierungen für die britische und die amerikanische Zone einen Wirt­schaftsrat, dessen Mitglieder von den Landtagen gewählt wurden, eingesetzt. Dieser Wirtschaftsrat ist nur zuständig für wirtschaftliche Angelegen­heiten der beiden Zonen. Alle seine Beschlüsse unterliegen der Ge­nehmigung der Militär­regierung. Die französische Zone gehört nicht zu dem Gebiet und zur Zuständigkeit des Wirtschaftsrates. Sie gleicht aber ihr wirtschaftliches Leben, wenn auch langsam, dem Zu­stand, wie er in der britisch-amerikanischen Zone besteht, an. Im Jahre 1948 endlich wurde durch Verordnung der drei west­lichen Gouverneure, des amerikanischen, britischen und französischen, ein Parlamentarischer Rat ins Leben gerufen, dessen Mitglieder von den Landtagen der Länder der drei Zonen gewählt sind und dem die Aufgabe gestellt wurde, ein Grundgesetz für diese drei Zonen auf föderativer Grundlage zu schaffen. Der Parlamentari­sche Rat besteht aus 64 Mitgliedern. Über seine Arbeit werde ich nicht viel zu sagen brauchen, da mein Kollege, Herr Prof. Schmid, in seinem Vortrag diese Arbeit aus­führlich darstellen wird.

In der sowjetrussischen Zone entwickelten sich die politischen Verhältnisse anders. Auch das Maß an Freiheit, das den Ländern der drei Westzonen zugebilligt ist, besteht dort nicht. Der politische Zustand in den Ländern der sowjeti­schen Zone nähert sich in immer stärke­rem Maße den Verhältnissen in den sogenannten Volksdemokratien, den Satelliten-Staa­ten.

Ich habe erwähnt, daß politische Parteien zugelassen wurden. Aber diese politischen Par­teien erhielten keine oder nur sehr geringe Möglichkeiten zunächst zur praktischen Betäti­gung. Der Erfolg war, daß die Parteien sich in theoretischen Auseinandersetzungen ergin­gen und die Parteifronten dadurch sich versteiften. Wäre schon im Jahre 1945 den Par­teien die Möglichkeit praktischer Arbeit gegeben worden, so würde wahrscheinlich der Zwang gemeinsamer Arbeit die Parteien näher zusammengeführt haben.

Die Stärke der verschiedenen Parteien ersehen Sie aus den folgenden Ziffern über die abgegebenen Stimmen bei den Landtagswahlen 1946/47. Es erhielten in den drei Westzo­nen:

CDU 7.089.000 Stimmen
SPD 6.971.000 Stimmen
FDP 1.961.000 Stimmen
KPD 1.848.000 Stimmen
Zentrum 591.000 Stimmen.

Das Wesen der sozialistischen Partei und der kommunistischen Partei ist Ihnen wahl[sic] von früher her bekannt, das gleiche gilt von den freien Demokraten. Dagegen ist das Ziel der Christlich Demokratischen Union und der Christlich Sozialen Union - so heißt die Partei in Bayern - weiten Kreisen unbekannt, da es sich hier um eine neue Partei handelt. Diese Partei umfaßt Katholiken und Protestanten. Sie will, daß die christlichen Grundsätze, wie sie sich im Abendland im Laufe von Jahrhunderten entwickelt haben, bestimmend sein sollen für die Innen- und Außenpolitik und die Wirtschaft. Wir behaupten in der CDU/CSU nicht, daß wir allein Christen seien, geschweige denn, daß wir die guten Christen seien, aber wir wollen, daß die Werte des Christentums in Wirtschaft und im öffentlichen Leben, auch in der Außenpolitik, wie ich bereits sagte, bestimmend sein sollen. Die Freiheit und die Würde der Person sind unsere Grundforderungen. Wir sind der Auffassung, daß jeder Mensch unabdingbare Rechte gegenüber dem Staat und der Wirtschaft sein Eigen nennt. Wir bekennen uns zum föderali­stischen Gedanken. Wir sind gegen jede gefährliche Häu­fung -wirtschaftlicher und politischer Macht bei Einzel­personen, bei Korporationen irgend­welcher Art, auch beim Staate. Darum betonen wir das machtverteilende Prinzip.

Ich gehe nunmehr dazu über, Ihnen in kurzen Zügen die hauptsächlich jetzt schwebenden Probleme dar­zulegen. Ich beginne mit dem wirtschaftlichen Bereich. Bis Juni 1948 herrschte fast völlige Zwangswirtschaft, bis zu den Hosenknöpfen hinab. Sogar die sog. Pfenningsartikel[sic] wurden bewirtschaftet. Der Wirtschafts­rat in Frankfurt hat dann für die britisch-amerikanische Zone entschlossen das Steuer herumgeworfen und hat für die bei­den Zonen die soziale Marktwirtschaft stufenweise eingeführt. Immer mehr Wirtschaftsge­biete wer­den aus der Zwangswirtschaft befreit und die soziale Marktwirtschaft wird in ihnen eingeführt. Man kann nur jeden[sic] Volkswirtschaftler und auch jeden[sic] Politiker, der sich mit den Fragen der Wirt­schaftsordnung beschäftigt, das Studium der Dinge, die sich seit Juni 1948 in der britisch-amerikanischen Zone ereignet haben, dringend ans Herz legen. Wir haben in der Doppel­zone selbstverständlich keine völlig freie Wirtschaft. Eine völlig freie Wirtschaft hat es noch niemals in einem modernen Staat gegeben. Jeder Han­delsvertrag bedeutet ja schon eine gewisse Ordnung der Wirtschaft. Aber wir haben doch soweit irgend möglich wieder freies Angebot und freie Nachfrage unter Wahrung der so­zialen Gesichtspunkte eingeführt. Der Aufschwung, den das Wirtschaftsleben in der Dop­pelzone genommen hat seit dem Übergang zur sozialen Marktwirtschaft, ist eklatant. Die­ser wirtschaftliche Aufschwung ist nur zum kleineren Teil auf die im Jahre 1948 erfolgte Einführung der DM zurückzuführen, auch nicht zunächst auf die durch den Marshall-Plan gewährte Hilfe. Es zeigt sich das darin, daß in der französischen Zone, in der auch die RM durch die DM ersetzt wurde und der auch die Marshall-Hilfe zuteil wurde, nicht im entfern­testen die gleiche Erholung und der gleiche Aufschwung der Wirtschaft eingetreten ist.

Infolge Abkehr von dem Prinzip der Zwangswirtschaft ging die unter ihr eingerissene Kor­ruption stark zu­rück. Es fand ferner ein erheblicher Behördenabbau statt. Der Übergang einer Wirtschaft, die so lange Jahre gefesselt war, in größere Freiheit vollzog sich natur­gemäß nicht völlig reibungslos. Zurzeit[sic] macht uns das bestehende Mißverhältnis zwi­schen Preisen auf manchen Ge­bieten und den Löhnen Sorge. Aber die Preise haben sin­kende Tendenz und wir hoffen, daß diese Schwierig­keiten ohne größere Erschütterungen des Wirtschaftslebens gemeistert werden können.

Unsere wirtschaftliche Erholung wurde und wird schwer beeinträchtigt durch die Demonta­gen. Kein Mensch in Deutschland hatte und hat etwas dagegen, daß Kriegsindustrien restlos demontiert werden. Aber die Demontage, wie sie zum Teil betrieben worden ist, erfolgt auch unter anderen Gesichtspunkten. Das wirtschaftliche Potential Deutschlands soll auf einem Niveau gehalten werden, das mit den Zielen des Marshall-Planes nicht ver­einbar ist. Weiter macht sich offenbar auch das Bestreben hier und da geltend, die deut­sche Konkurrenz auf dem Weltmarkt auszuschalten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Fall der De­montage der Kammfabrik Kolibri, ein Fall, der in Deutschland sehr großes Auf­sehen erregt hat, und der auch im britischen Unterhaus zur Sprache gebracht wurde. Es hat sich herausgestellt, daß die Demontage dieser Fabrik trotz allem Widerspruch der deutschen maßgebenden Stellen erfolgt ist auf Betreiben eines britischen Offiziers, der ein Konkurrenzunternehmen in England betreibt. In diesem Zusammenhang muß ich auch erwähnen die Erklärungen, die nach englischen Zeitungsberichten auf der Generalver­sammlung des Vereins der englischen Uhrenfabriken abgegeben worden sind. Man hat dort dem Vorsitzenden dafür gedankt, daß es ihm gelungen sei zu erreichen, daß durch die Demontage die deutschen Uhrenfabriken noch unter den Produktionsstand von 1936 heruntergedrückt worden seien. Die deutschen Uhrenfabri­ken hätten jetzt nur noch Ma­schinen, die 10[?] Jahre und älter seien. Der britische Uhrenexport sei sehr erheblich ge­stiegen. Wenn es den Deutschen bei den alten Maschinen gelänge, auf dem Weltmarkt wieder dem eng­lischen Export unangenehm zu werden, müßte von neuem an das Problem der Demontage herange­gangen werden.

Für das Wirtschaftsleben insbesondere Deutschlands ist entscheidend das Ruhrstatut, das im Jahre 1948 erlassen worden ist. Durch dieses Ruhrstatut ist eine oberste Ruhrbehörde von 15 Personen, dar­unter 3 Deutschen eingesetzt worden, die das Recht bekommt, die gesamte Kohlen-, Eisen- und Stahlproduk­tion des Ruhrgebietes einschließlich der Preis­frage zu regeln. Die Produktionshöhe von Kohle, Stahl und Ei­sen, die Preise dieser Güter sind bestimmend für die gesamte Wirtschaft eines Landes. Infolgedessen be­steht die Mög­lichkeit, das gesamte deutsche Wirtschaftsleben entscheidend zu beeinflussen. Es wird ganz darauf ankommen, in welchem Geist dieses Ruhrstatut gehandhabt wird. Wenn es so ge­handhabt wird, daß dadurch die deutsche Wirtschaft niedergehalten wird, so ist der Marshall-Plan ein Unsinn. Es wird auch kein Volk sich auf die Dauer dann eine solche Be­schränkung seiner Wirt­schaft gefallen lassen können. Wenn aber das Ruhrstatut gehand­habt wird im deutschen und im europäischen Interesse, wenn es den Beginn einer Ord­nung der westeuropäischen Wirtschaft bedeutet, dann kann es ein viel verheißender An­fang für die europäische Zusammenar­beit werden.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch die Frage der deutschen Patente erwäh­nen. Sie wis­sen, daß alle deutschen Patente freigegeben worden sind. Der Direktor des USA Büros für technische Dienste, Mr. John Green, hat Ende 1948 der Presse einen Be­richt über seine Tätigkeit, die in der Verwertung der deut­schen Patent- und Industriege­heimnisse bestand, gegeben. Bemerkenswert daraus ist, daß als eifrigster Käufer die AM­TORG aufgetreten ist, das ist Moskaus ausländische Handelsorganisation. Die Russen haben allein in einem Monat über 2 000 verschiedene Berichte der Wehrmacht über ge­heime deutsche Kriegswaffen für insgesamt 6 000 Dollar gekauft. Die Patente von IG-Farben haben nach der Erklärung eines amerikanischen Sachverständigen der USA Farben-Industrie einen Vorsprung von wenigstens l0 Jahren gegeben. Der Schaden, der durch all das der deut­schen Wirtschaft entstanden ist, ist natürlich außerordentlich groß und in Zif­fern nicht zu schätzen. Außerordentlich bedauerlich ist, daß die neuen deutschen Erfin­dungen auch jetzt noch keinen Schutz genießen, da Deutschland nicht Mitglied der Patent-Union ist. Zwar hat England erklärt, daß es, gleichgültig was im Friedensvertrag bestimmt werde, die neuen deutschen Erfindungen achten werde. Amerika aber hat es abgelehnt, eine solche Erklärung abzugeben. Deutsche Erfin­der sind infolgedessen nicht in der Lage, ihre Erfindungen zu verwerten. Die deutsche Wirtschaft wird dadurch empfindlich ge­hemmt.

Ein besonders ernstes und wichtiges Kapitel, wichtig auch vom europäischen Standpunkt aus, ist das deutsche biologische Problem. Ich muß in diesem Zusammenhang zunächst von dem Problem der Vertriebenen sprechen. Es sind aus den östlichen Teilen Deutsch­lands, aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn usw. nach den von amerikanischer Seite ge­troffenen Feststellungen insgesamt 13,3 Millionen Deutsche vertrieben worden. 7,3 Mil­lio­nen sind in der Ostzone und in der Hauptsache in den drei Westzonen angekommen. 6 Millionen Deut­sche sind vom Erdboden verschwunden. Sie sind gestorben, verdorben. Von den 7,3 Mil­lionen, die am Leben geblieben sind, ist der größte Teil Frauen, Kinder und alte Leute. Ein großer Teil der arbeitsfähigen Männer und Frauen sind[sic] nach Sowjetrußland in Zwangsarbeit ver­schleppt worden. Die Austreibung dieser 13 bis 14 Millionen aus ihrer Heimat, die ihre Vorfahren zum Teil schon seit Hunderten von Jahren bewohnt haben, hat unendliches Elend mit sich gebracht. Es sind Un­taten verübt worden, die sich den von den deutschen Nationalsozialisten verübten Untaten würdig an die Seite stellen. Die Austrei­bung beruht auf dem Potsdamer Abkommen vom 2.August 1945. Ich bin überzeugt, daß die Weltgeschichte über dieses Dokument ein sehr hartes Urteil dereinst fällen wird. In­folge dieser Austreibung sind insbesondere in der britischen und amerikanischen Zone große Menschenmengen auf eng­stem Raum zusammengedrängt. Die Wohnungsnot ist zum Teil durch die Zerstörungen des Krieges, zum Teil durch das Hineinpressen der 7,3 Millionen Flüchtlinge in diese bereits unter Wohnungsnot leidenden Gebiete unerträg­lich. Es kommen im Durchschnitt auf jeden Wohnraum 2 Personen.

Die Zusammensetzung der Bevölkerung sowohl nach Geschlecht wie nach Altersklassen ist erschreckend. Auf 28,9 Mill. männliche Personen kommen 36,2 Mill. weibliche. Das Überwiegen der Frauen ist besonders stark in den Altersstufen zwischen 20 und 40 Jah­ren. Hier kommen auf 100 Männer etwa 160 Frauen. Die Mißver­hältnisse zwischen allein­stehenden Männern und Frauen sind besonders kraß. 100 30 jährigen Männern ste­hen über 300 unverheiratete Frauen im Alter von 26 Jahren gegenüber. Die Hungerjahre 1946/47 haben enormen Schaden in physischer und ethischer Hinsicht angerichtet. Die Ernährung hat sich zwar gegenüber dem Vorjahr erheblich gebessert. Sie ist aber noch immer keineswegs ausreichend. Die Tuberkuloseerkrankun­gen sind gestiegen von 53,5 auf je 10 000 Einwohner im Jahre 1938 auf 127,5 im Jahre 1948. Am 31.Oktober 1948 gab es in Nordrhein-Westfalen 159 055 Fälle Tuberkulose. Von diesen waren offen, also an­steckende Fälle 37 273. Für diese 37 273 Fälle offener Tuberkulose standen rund 14 000 Krankenbetten zur Verfügung. In rund 23 000 Fällen konnte also der Ansteckungsherd nicht beseitigt werden und es ist keine Seltenheit, daß in einer Familie ein Mitglied nach dem anderen an Tuberkulose erkrankt. Vor 1933 entfielen auf 10 000 Ein­wohner 20 - 22 Geschlechtskranke. Im Jahre 1948 waren es 51,74. Von Berlin liegen besonders zuverläs­sige statistische Zahlen vor. Dort betrug die Sterblichkeitsziffer im Jahre 1947 rund 29 pro 1000 der Bevölke­rung. Die Geburtenziffer betrug 10 pro 1000. Die Kindersterblichkeit be­trug im zweiten Quartal 1946 über 135 pro 1000. In New York z.B. 10,1 pro 1000. Nach den in "German Realities" von dem Amerikaner Dr. Gustav Stolper wiedergegebenen Be­rechnungen ist in Zukunft in Deutschland mit einer Geburtenzahl von höch­stens 600 000 pro Jahr zu rechnen, während im Jahre 1915 noch 1,5 Mill. Kinder pro Jahr geboren wur­den. Stolper führt aus, daß der biologische Niedergang Deutschlands so stark sei, daß schon vor 1980 die Zahl der lebenden Deutschen die 40 Millionen-Grenze unterschritten haben wird. Die französi­sche Angst vor der deutschen Überzahl und die Angst Englands vor dem Erstarken der deutschen Wirtschaft hält Dr. Stolper deswegen für völlig unbe­gründet.

Ich glaube, daß man die Frage des Sicherheitsproblems in Europa, das erklärlicherweise in Frankreich eine große Rolle spielt, einmal unter Berücksichtigung dieser biologischen Gesichtspunkte prüfen sollte. Ich bin ferner der Auffassung, daß die Tuberkuloseerkran­kungen in Deutsch­land unter Umständen eine Gefahr für ihre Nachbarländer werden kön­nen.

Was den geistigen Zustand in Deutschland angeht, so ist zunächst hervorzuheben, daß sich Deutschland in einer beispiellosen sozialen Umschichtung befindet. Vor dem Kriege entfielen etwa 40 % der Einwohner auf eine Mittelschicht. Jetzt nur noch etwa 23 % und diese 23 % gehen ständig weiter herunter. Die Gefahr einer überstarken Proletarisierung des deutschen Volkes ist unmittelbar drohend, namentlich auch im Hinblick auf die nach Millionen zählende Schar der Ausgetriebenen und der ausgebombten Besitzlosen. Die Gefahr einer „Verostung", wie ein deutscher Schriftsteller diese Proletarisierung nennt, entwickelt sich aus dem jetzigen Zustand des deutschen Volkes heraus von selbst. Die Bedeutung des Wohnungsproblems ist meines Erachtens von den Alliierten nicht genü­gend erkannt worden. Die Alliierten Stellen verteilen Kohle, verteilen Eisen. Die Baustoff­industrie ist während der ganzen Zeit zu gering mit diesen Grundstoffen bedacht worden. Es konnte daher bis jetzt nichts Durchgreifendes zur Abhilfe geschehen. Die Lösung des Wohnungsproblems ist aber das Fundament für jeden politischen, körperlichen, ethischen und moralischen Wiederaufbau.

Was die psychologische Lage in Deutschland angeht, so ist es sehr schwer, ein sicheres Urteil abzugeben. Der Krieg war zu grauenhaft, die Verwüstungen des Landes zu schreck­lich, die Not an Ernäh­rung und Kleidung bis 1948 zu groß, als dass[sic] das Volk sich schon von der Betäubung, in der es durch all das versetzt worden ist, erholt hat. Immerhin glaube ich, über die psychologische Verfassung der Deutschen doch einige Feststellungen machen zu können. Die Stimmung gegen So­wjetrußland ist infolge aller Delikte, die beim Vordringen der sowjetischen Truppen in Deutschland verübt wor­den sind, infolge der Schilderungen der aus Sowjetrußland, Jugoslawien, Polen zurückkommenden Kriegsge­fangenen so ablehnend, daß die kommunistische Partei, weil sie als eng verbunden mit Sowjetrußland angesehen wird, zurzeit ziffernmäßig nicht von großer Bedeutung ist. Aber trotzdem soll man den Ein­fluß, der durch die kommunistische Partei und durch die Infiltrie­rung vom Osten her auf wichtigste Indu­striezweige und ihre Arbeiterschaft ausgeübt wird, in keiner Weise unterschätzen. Anhän­ger des Nationalismus hitlerscher Prägung gibt es in Deutschland wohl verhältnismäßig wenig. Dagegen macht sich das Wiedererwachen eines Nationalgefühls deutlich bemerkbar. Man kann das Wieder­erwachen eines gesunden, sich in den richtigen Bahnen haltenden Nationalgefühls nur begrüßen, denn ein Volk, das kein Nationalgefühl mehr besitzt, gibt sich selbst auf. Man kann auch vom deutschen Volk nicht verlangen, daß es geistigen Widerstand gegen die Infiltration vom Osten her aufbringt, wenn es nicht national empfinden darf. Aber es kann meines Erachtens keine Rede davon sein, daß nationalistische Tendenzen irgendwie erheblich sich bemerkbar machen. Als vor einiger Zeit von französischen Zeitungen ausgehend eine Erörterung über die Aufstellung von 20 deutschen Divisionen in der Presse stattfand, fanden diese Absichten, soweit ich das habe feststellen können, überall bei der Jugend Ablehnung. Der Wunsch, die deutsche Einheit wieder herzustellen, Deutschland wieder aufzubauen, ist überall sehr stark. Ich halte die Grenzberichtigungen, die im Westen Deutschlands vorge­nommen werden sollen, für sehr unklug. Diese durch Diktat vorgenommenen Grenzberichtigungen verletzen ein Volk in seinen berechtigten nationalen Gefühlen. Technische Grenzberichtigungen hätten im Wege der Verhandlung mit den deutschen Ländern, wenn sie so dringlicher Natur sind, daß man nicht bis zum Friedensvertrag hätte warten können, vorgenommen Werden sol­len.

Die Öffentliche Meinung ist in Deutschland nicht frei. Insbesondere ist die Regelung des Pressewesens nicht zufriedenstellend. Es werden Lizenzen erteilt für Zeitungen. Die Li­zenzinhaber, die nicht unerhebliche Gelder investieren müssen in ih­ren Unternehmungen, sind der Militärregierung für das, was in der Zeitung geschieht haftbar. Trotzdem seit eini­ger Zeit die Übertragung von Lizenzen deutschen Ausschüssen übertragen ist, behält sich die Mil.Reg. vor, jeder­zeit eine Lizenz zu entziehen, ohne daß der Betroffene etwas dage­gen tun kann. Sie wer­den verstehen, daß ein Lizenzinhaber, für den der Entzug der Lizenz den Verlust nicht unerhebli­cher materieller Werte bedeutet, auch ohne Vorzensur dafür sorgt, daß nichts in der Zeitung steht, das ein zu er­hebliches Mißfallen der zuständigen Stellen der Mil.Reg. hervorrufen kann. Übrigens hat Goebbels in den er­sten Jahren des Nationalsozialismus ein ähnliches Verfahren beobachtet. Rundfunk und Nachrichtenbüros waren unter dem Einfluß der Mil.Reg. zunächst sehr einseitig parteipolitisch besetzt. Lang­sam tritt hier eine Wen­dung zum Besseren ein. Alles in allem genommen, glaube ich aber, daß die Berichte, die das Ausland über die Lage in Deutschland erhält, sich nicht durch besondere Klarheit auszeichnen.

Ein Wort muß ich Ihnen sagen über die Studenten. Unsere Studenten verdienen das größte Lob wegen ihres Fleißes. Unter denkbar ungünstigen äußeren Bedingungen legen sie sehr gute Examina ab. Sie sind zum großen Teil verheiratet. Ihre Aussichten nach be­standenem Examen sind sehr schlecht. Daher betreiben sie das Studium in erster Linie als Brotstudium. Sie interessieren sich für nichts anderes als für ihr Fach. Das ist natürlich sehr schade.

Die deutsche Wissenschaft ist, wie mir ein im wissenschaftlichen Leben Deutschlands be­kannter Wissen­schaftler vor einigen Tagen sagte, zurückgeblieben. Manche führenden Deutschen sind ausgewandert. Junge deutsche Wissenschaftler können nicht ins Ausland reisen, um sich weiter fortzubilden. Auch sind bei ihnen durch den Krieg Jahre der Arbeit und Ausbildung ausgefallen. Aber wie mir dieser Wissenschaftler sagte, gescheite Leute - und von ihnen gibt es eine ganze Anzahl nach seiner Meinung in unserem wis­sen­schaftlichen Nachwuchs - füllen die Lücke wieder aus, so daß wir damit rechnen können, daß die deut­sche Wissenschaft in absehbarer Zeit ihre frühere Höhe wieder wird einneh­men können.

Unsere Jugend ist arm. Wir sind alle in Deutschland arm geworden. Nur verschwindende Ausnahmen ha­ben ihr Vermögen retten, sich vielleicht sogar bereichern können. Wir ken­nen keinen Luxus, insbesondere unsere Jugend kennt keinen Luxus. Sie weiß um die harten Notwendigkeiten des Lebens. Sie ist nicht an­spruchsvoll. Wir hoffen, daß sie sich wieder emporarbeiten wird.

Ich komme zu den wichtigsten jetzt schwebenden politischen Problemen. Ich stelle an die Spitze hier die Arbeit des Parlamentarischen Rates in Bonn. Wie ich eingangs in meinen Ausführungen schon sagte, hat er die Aufgabe, ein Grundgesetz, das ist eine Verfassung föderativen Charakters, zu beschließen. Die Gouver­neure haben sich die Genehmigung des Grundgesetzes vorbehalten. Nach der Genehmigung durch die Mili­tärgouverneure wird das Grundgesetz entweder durch die Landtage oder durch ein Volksreferendum gebil­ligt werden müssen. Die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates ist eigenartig. Je 27 Mitglieder zählen die Fraktion der CDU/CSU und der SPD, 5 die Demokraten, je 2 Zentrum, Deutsche Partei und Kommunisten. Den Arbeiten des Parlamentarischen Rates kann man zurzeit nicht gerade eine gute Prognose stellen, aber wir hoffen doch, daß es gelingt, sie zu einem guten Ende zu führen.

Da es in absehbarer Zeit wegen der Uneinigkeit der vier Alliierten, auf der einen Seite So­wjetrußland, auf der anderen Seite die drei anderen, nicht zum Abschluß eines Friedens­vertrages mit Deutschland kommen wird, ist von den Alliierten der Erlaß eines Besat­zungsstatuts geplant, durch das Rechte und Pflichten sowohl der beset­zenden Mächte wie der Deutschen bestimmt und gesichert werden sollen. Grundgesetz und Besatzungs­statut stehen natürlich in engem Zusammenhang miteinander, da durch das Besatzungsstatut dem nach dem Grundgesetz zu schaffenden westdeutschen Parlament und Bundesregie­rung gewisse Rechte, die sonst ei­nem Staat zustehen, ganz oder zum Teil vorenthalten werden.

Die Errichtung des westdeutschen Staates ist ein Ziel, das so schnell wie möglich erreicht werden muß. Eine möglichst baldige Errichtung ist in erster Linie für uns Deutsche wichtig, in zweiter Linie aber auch für Europa, für den Wiederaufbau und für die europäische Föde­ration. Ich hoffe, daß das von mir erwähnte Besatzungsstatut tragbar sein wird. Es ist uns mitgeteilt worden, daß in ihm eine Bestimmung Platz finden würde, des Inhalts, daß es von Zeit zu Zeit den veränderten Verhältnissen angepaßt werden müsse. Es wird Aufgabe der neuen Bundesregierung sein, durch diese Nachprüfung die Verhältnisse zu bessern, daß sie uns nicht weiter bedrücken. Vom Osten, insbesondere aus der Ostzone, von der SED, werden diejenigen Männer, die in den drei Westzonen sich an der Arbeit des parlamentari­schen Rates beteiligen und die für die möglichst baldige Errichtung dieses Bundes eintre­ten, die "Spalter" Deutschlands genannt. Diese Beschimpfung ist völlig unbegründet. Lei­der Gottes ist die Spaltung Deutschlands in die Sowjetzone und in die drei übrigen Zonen seit langem vollzogen. In der Sowjetzone besteht ein anderes Regime, das keine persönli­che Freiheit kennt, wohl aber dafür gefüllte Konzentrationslager, das die Wirtschaft bol­schewisiert. Es besteht dort ein Regime, das den sogenannten Volksdemokratien ähnelt. Es gilt dort eine andere Währung. Die wirtschaftli­che Abtrennung, die jetzt eingetreten ist zwischen den beiden Hälften Deutschlands, hat diese Spaltung nur äußerlich sichtbar ge­macht. Vom Osten her sucht man die Bildung der westdeutschen Regierung und damit die Konsolidierung der drei Westzonen auf jede Weise zu stören. Der neueste Versuch ist die Einladung an die Parlamente der drei Westzonen, mit Vertretern des sogenannten Volks­rates in Braunschweig zusammen­zukommen, um gemeinsam au beraten, wie die Einheit Deutschlands wiederherzustellen sei und wie man dafür sorgen könne, daß alle Besatzun­gen aus Deutschland verschwinden. Die Parteien, die hinter dieser Einladung stehen, sind nicht frei. Sie stehen so stark unter sowjetischem Einfluß, daß, wie ich annehme, ihre Ein­ladung dementsprechend in den Westzonen behandelt werden wird.

Berlin ist schwer bedrängt. Trotz der Tapferkeit seiner Bevölkerung, trotz der starken Hilfe der Alliierten ist seine Lage ernst. Aber Berlin weiß, daß ganz Deutschland hinter ihm steht und wir nehmen an, daß keine weitere Verschlimmerung der Lage dort eintreten wird. Die Frage der östlichen Grenzen Deutschlands ist eine Lebensfrage für das gesamte deutsche Volk. Der Ostteil Deutschlands, der unter polnischer und sowjet­russischer Herrschaft steht und der früher so wesentlich zur Ernährung der viel stärkeren Bevölkerung der Westzonen beitrug, ist zum großen Teil versteppt und verödet. Wir werden den Anspruch auf die östli­chen Gebiete Deutschlands niemals aufgeben. Wir wollen eine Verständigung mit einem anderen Polen. Wir wollen, daß unsere Vertriebenen in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Wir werden niemals die Oder/Neiße-Grenze anerkennen.

Die Zurückhaltung der Kriegsgefangenen und der Verschleppten Männer und Frauen und Mädchen in Ruß­land, die Unkenntnis, in der wir uns über ihr Geschick befinden - wir wis­sen in sehr vielen Fällen nicht, ob die Betreffenden noch am Leben sind oder nicht - ist ein Fall ständiger Sorge und ständiger Unruhe bei uns. Wir haben den dringenden Wunsch, daß wir wenigstens ein Verzeichnis aller derjenigen Gefangenen und Ver­schleppten erhalten, die noch am Leben sind. Die Vereinigten Staaten und England haben in Moskau ener­gische Vorstellungen wegen des Nichteinhaltens des Versprechens der Freigabe erhoben. Ob ihre Vorstel­lungen den gewünschten Erfolg haben werden, kann erst die Zukunft zeigen. Vielleicht könnte das Rote Kreuz hier in der Schweiz dafür eintre­ten, daß wenigstens ein solches Verzeichnis der noch nicht in Frei­heit gesetzten Personen aufgestellt und Deutschland zugängig[sic] gemacht wird.

Das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ist eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Problem für Frankreich, für Deutschland, vielleicht auch für Europa. Seine Lösung wird entscheidend sein für den Frieden für lange Zeit. Das Verlangen Frankreichs nach Sicherheit ist im Hinblick auf die Vergangenheit durchaus verständlich. Ich glaube, daß diese Sicherheit zurzeit[sic] in einer Weise gewährleistet ist, daß Frankreich nicht mehr die geringste Sorge zu haben braucht. Deutschland ist entwaffnet, seine Wehrmacht zerschlagen, seine Kriegs-Industrie demontiert. Es ist besetzt, es wird kontrolliert, es ist in zwei Teile geteilt, es ist dadurch gelähmt. Ich habe eben schon über die biologische Lage des deutschen Volkes gesprochen, und in dieser sehr traurigen biologischen Lage ist für Frankreich ein Sicherheitsfaktor ersten Ranges gegeben. Ein Volk von alten Leuten und von Frauen, das sich in unaufhaltsamen Niedergang der Bevöl­kerungsziffern befindet, ist doch wirklich für Frankreich keine Gefahr. Es kommt hinzu die psychologische Einstellung der Deutschen. Man ist in weitesten Kreisen Deutschlands tief überzeugt davon, daß nur ein Zusammen­schluß der westeuropäischen Länder Europa vor Asien retten kann. Ich glaube, jeder Franzose, der diese Verhältnisse ruhig und unvoreingenommen prüft, wird zu der Überzeugung kommen, daß Frankreich nach menschlichem Ermessen niemals wieder etwas von Deutschland zu befürchten hat. Wenn Frankreich sich jetzt Deutschland gegen­über klug und großzügig erweist, wird es sich dadurch ein historisches Verdienst um Eu­ropa erwerben. Die höchste Anerkennung hat in Deutschland die Haltung der französi­schen Regierung zur Europa-Frage gefunden, und insbeson­dere hat die Haltung des französischen Außenministers Schumann in der Europa-Frage in Deutschland sehr große Befriedigung ausgelöst. Kaum ein Gedanke ist in Deutschland zurzeit[sic] so populär wie der des Europa-Zusammenschlusses. Man begrüßt es daher, daß die Benelux-Staaten den europäischen Zusammenschluß rück­haltslos[sic] bejahen. Die Haltung Englands in dieser Frage war zuerst nicht so, wie ein Europäer sie sich wün­schen möchte. Wir sehen aber in Deutschland mit Befriedigung, daß die Erkenntnis der europäischen Lage in der Welt, die Erkenntnis, daß England jetzt eine europäische Macht geworden ist und eine große europäi­sche Aufgabe zu erfüllen hat, sich in der öffentlichen Meinung durchsetzt.

Ich komme zum Schluß. Die Schweiz ist von zwei Kriegen verschont geblieben. Dank ihrer Klugheit, dank ihrer Entschlossenheit, unter allen Umständen ihre Neutralität zu bewahren und zu vertiefen. Ich wünsche von Herzen, daß sie verschont bleiben möge, auch dann, wenn - was Gott verhüten wolle - nochmals krie­gerische Ereignisse den Erdball erschüt­tern würden. Die Schweiz ist nach ihrer Lebenshaltung, ihrer Denk­art, dem Stamme ihrer Kultur eine Insel in einem unruhig hin und her wogenden Meer. Sie hat die geschicht­liche Aufgabe, in dieser umstürzenden Zeit das viele Gute, das die Vergangenheit hatte und in den Ländern, die sich im Kriege befunden haben, mehr oder weniger verloren gegangen ist, treu zu hüten und zu bewah­ren, um es, wenn wirklich einmal Frieden eingetreten ist, der Menschheit wiederzugeben. Die Schweiz scheint berufen zu sein, als Hüterin des Ge­dankens des Friedens:

Möge sie das ihr anvertraute Licht durchtragen durch das Dunkel dieser Jahre!

 

Quelle: StBKAH I/02.05. Teildruck: Konrad Adenauer. Erinnerungen Bd. I, S. 182-190.