Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 43 / 67

August Bebel Briefe an Sir Henry

August Bebel, unter Wilhelm II. Führer der SPD, unterrichtete die englische Regierung über Einzelheiten der deutschen Flottenrüstung und warnte vor einem deutschen Angriff. Ein deutscher und ein englischer Historiker fanden die landesverräterischen Dokumente in der Zürcher Zentralbibliothek Und im britischen Nationalarchiv.
aus DER SPIEGEL 32/1973

Anfang Januar 1911 fand Sir Edward Grey, damals Außenminister Großbritanniens, in seinem Büro einen Brief vor, wonach die deutsche Marine plane, die englische Flotte ohne Kriegserklärung zu überfallen -- in englischer Ausdrucksweise: die Briten »to Copenhagen«, also nach derselben Methode anzugreifen, mit der im Jahre 1807 die Engländer die Dänen zu der Herausgabe ihrer Flotte gezwungen hatten.

Der Brief mit dem Datum des 2. Januar stammte von dem britischen Generalkonsul in Zürich, dem Schweizer Staatsbürger Heinrich Angst, für die Engländer: Sir Henry. Als Quelle seiner ungeheuerlichen Information gab Sir Henry einen der wichtigsten Politiker des kaiserlichen Deutschlands an: August Bebel, den Vorsitzenden und unbestrittenen Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Daß Bebel zur britischen Regierung konspirative Beziehungen unterhielt, ist von vielen Autoren, britischen und deutschen, vermutet worden, zumal von dem Biographen Sir Henrys, Robert Durrer. Vollends enthüllt worden ist der Sachverhalt jedoch erst jetzt. Im Juni-Heft der britischen Zeitschrift »History« gab der Dozent an der University of Kent at Canterbury, Dr. Richard J. Crampton, einen ersten Überblick über den Bebel-Fall. In der Bundesrepublik steht eine Publikation über denselben Gegenstand unmittelbar bevor -- Verfasser: der Hamburger Dozent Dr. Helmut Bley.

Bley und Crampton näherten sich der Bebelschen Konspiration von entgegengesetzten Enden. Bley fand in der Zürcher Zentralbibliothek am Zähringerplatz den Briefwechsel zwischen Bebel und Angst, den er noch in diesem Herbst in seinem Buch »Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung« im Hamburger Leibniz-Verlag veröffentlichen will.

Crampton hingegen wurde fündig im Londoner Public Record Office, dem britischen Nationalarchiv, das jetzt in der Portugal Street ansässig ist. Er stieß dort auf ein in schmutzig-dunkelbraune Pappe gebundenes Dokumentenpaket mit der Registriernummer F. O. 800/104. Es enthielt den Briefwechsel zwischen Grey und Sir Henry. Wichtigster Inhalt der Akte: die Berichte Sir Henrys über das, was ihm Bebel entweder erzählte oder -- wie Bley feststellte -- über Deckadressen schriftlich zukommen ließ.

Das Dokumenten-Bündel F. O. 800/104 gehört zu jenen Staatsakten, die von der britischen Regierung bis 1964 unter Verschluß gehalten wurden. Erst seit neun Jahren sind sie zur Erforschung und Publikation freigegeben. Der Brief verkehr Greys mit Angst fand jedoch keine Beachtung, bis Crampton und nahezu gleichzeitig Bley im Jahre 1968 auf ihn stießen.

* A. Bebel Schöneberg-Berlin den 7. Februar 1913

Sehr geehrter Herr Generalconsul!

Wir werden die Hauptverhandlungen erst nach Ostern haben, wenn die Militärvorlage zur Erörterung kommt. Gestern hat sich der Marineminister (von Tirpitz) in der Budgetkommission mit Äußerungen Ober das Verhältnis zu England sehr verhauen. Den faux pas soll nun der neue Staatssekretär (von Jagow) heute in"s Gleiche bringen ... A. Bebel

Daß Crampton erst jetzt seinen Aufsatz »August Bebel and the British Foreign Office« veröffentlicht, geht auf ein Arrangement mit Bley zurück. Daß der Termin der Veröffentlichung gleichwohl als nicht eben glücklich gewählt erscheint, ist dem britischen Historiker kaum anzukreiden: In England dürfte unbekannt sein, daß Bremer Sozialdemokraten planen, die Reform-Universität noch in diesem Jahr auf den Namen »August-Bebel-Universität« zu taufen.

Immerhin ist sich Crampton der politischen Brisanz seiner Enthüllung durchaus bewußt. Bebels Konspiration mit der englischen Regierung nennt er -- britisch vorsichtig -- ein »unorthodoxes Benehmen«. Das war sie in der Tat, was immer Bebels Motive gewesen sein mögen.

Bebel lernte Sir Henry Angst am Nachmittag des 16. August 1905 kennen. Aber erst fünf Jahre später entwickelte sich aus der Bekanntschaft ein konspiratives Verhältnis. Am 24. September 1910 referierte Angst in einem Brief an Grey Äußerungen Bebels, die dieser kurz zuvor in einem Gespräch gemacht hatte.

Preußen, hatte danach Bebel gesagt, sei ein »schrecklicher Staat«, und es sei von ihm nur Schreckliches zu erwarten. Wichtiger mag für die Engländer gewesen sein, daß Bebel berichtete, Admiral von Tirpitz, der Schöpfer der kaiserlichen Flotte, habe -- trotz gleichbleibender Schiffszahl -- einen höheren Etat verlangt, woraus Bebel den Schluß zog, daß Tirpitz den Bau größerer Schiffe als bisher beabsichtigte. Bei derselben Gelegenheit vermutete Bebel, der unter Deutschland immer den preußischen Junkerstaat verstand, daß »Preußen« im Jahre 1912 zum Krieg bereit sei. Er warnte die britische Regierung davor, sich auf eine Abrüstung einzulassen.

Sieben Monate später, im Frühjahr 1911, riet Bebel der britischen Regierung, eine Flotten-Anleihe aufzulegen und das deutsche Marine-Programm durch ein noch größeres englisches zu übertrumpfen. Das würde deutsche Wirtschaftskreise erschrecken.

Wiederum ein halbes Jahr später drängte Bebel darauf, daß »die Demokratien der beiden Nationen (also Deutschlands und Englands) zusammenstehen sollten«. Im Dezember 1911 ließ er Angst wissen, von Tirpitz beabsichtige, bis zum Ausbruch des Krieges 300 000 Seeleute auszubilden.

Im Januar 1912 unterrichtete Bebel den britischen Generalkonsul nicht nur von dem angeblichen deutschen Plan, die britische Flotte »to Copenhagen«, sondern auch über die ausdrücklich für geheim erklärte Ansicht des Admirals, die deutsche Flotte habe nur dann eine Chance gegen die englische, wenn sie ihr in den Kriegsvorbereitungen um zwei Monate voraus sei.

Im März äußerte Bebel, daß »sogar wir Sozialisten« zugeben müßten, daß in der Marine »wonderful work« (Übersetzung von Sir Henry) geleistet worden sei, und acht Monate später berichtete er, daß Krupp, trotz fehlender Auslandsaufträge, mit Hochdruck arbeite. Ferner hatte er erfahren, daß auf den deutschen Kasernenhöfen die Soldaten vier Stunden länger als üblich gedrillt wurden.

Bebel setzte seine Berichterstattung an Angst bis kurz vor seinem Tode fort. Er starb am 13. August 1913. Der letzte Bericht von Sir Henry Angst über Bebels Informationen ist datiert vom 1. August desselben Jahres.

Er vermisse sehr, schrieb Angst denn auch Anfang 1914 nach London, »die Informationen, die ich regelmäßig von dem verstorbenen Herrn Bebel erhielt«. Diese Bemerkung Sir Henrys scheint darauf hinzudeuten, daß alle seine Versuche, unter den deutschen SPD-Führern einen Ersatz für Bebel zu finden, vergebens waren. Offenkundig hatte auch Bebel selbst seine Berichterstattung an die britische Regierung als ein persönliches Unternehmen angesehen.

Die britische Regierung betrachtete die Informationen, die sie durch Bebel erhielt, als Bestätigungen von Nachrichten aus anderen Quellen. Immerhin sind sie jeweils von Premierminister Asquith, Außenminister Grey und auch von Winston Churchill -- nach dessen Berufung zum Ersten Lord der Admiralität -- gelesen worden. Nützlich waren Bebels Informationen als Unterrichtung über die politische Lage in Deutschland. Spezialmitteilungen, wie die über den angeblich von Tirpitz geplanten Überraschungsangriff auf die britische Flotte, enthielten sie selten.

Bebel glaubte, daß es unmöglich sei, »Preußen« an der Verwirklichung seiner Kriegspläne zu hindern. »Preußen zu reformieren, ist unmöglich«, sagte er zu Sir Henry Angst. Der britische Historiker Dr. Crampton zieht daraus einen sehr weitgehenden Schluß: »Bebel drängte Großbritannien und die kleineren Staaten, ihre Verteidigung vorzubereiten. Er hoffte dadurch zu erreichen, daß Deutschland den von ihm für unvermeidlich erachteten Krieg verlieren werde.«

Tatsächlich jedoch ist den von Crampton veröffentlichten Angst-Berichten zu entnehmen, daß Bebel zumindest zeitweilig gehofft hat, die Katastrophe könne vermieden werden. Nur so ist auch seine Anregung zu verstehen, die britische Regierung möge das Wettrüsten zur See so forcieren, daß das wirtschaftlich schwache Deutschland dabei nicht mehr Schritt halten könne. Er führte diesen Gedanken sogar näher aus, indem er die Engländer darauf hinwies, daß das Kaiserreich über einen Kriegsschatz von nur 800 Millionen Mark verfüge.

Tatsächlich beurteilt der deutsche Herausgeber des Briefverkehrs, Dozent Dr. Bley, die Motive Bebels anders als Crampton. Er sieht in der Berichterstattung des SPD-Führers an die Engländer das Teilstück einer »Strategie der Kriegsverhütung«.

Unzweifelhaft ist, daß Bebel am Ende recht behielt. Bei seinem ersten Gespräch mit Angst hatte er gesagt: »Die Hohenzollern werden und können sich nicht ändern.«

Zur Ausgabe
Artikel 43 / 67

Mehr lesen über