Was machen Kronprinz Charles, Emmanuel Macron, Wladimir Putin, Michael Pence, Frank-Walter Steinmeier, insgesamt an die fünfzig Staatschefs in Jerusalem? Alle haben am 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung der Millionen Opfer gedacht. So mancher hat freilich die weltweite Aufmerksamkeit für die eigenen Belange genutzt. Vorweg der russische Alleinherrscher Putin: Er kam eine Stunde zu spät, um der Herde der Minderen seinen Vorrang unter die Nase zu reiben. Er bezichtigte die Balten und Polen der Komplizenschaft mit den Nazikillern und hob die eigenen Opfer hervor. Dabei vergaß er, dass einst drei Millionen Juden in der Sowjetunion lebten. Heute sind es in Russland 170.000. Die Überlebenden haben sich dem Machtstaat durch Auswanderung entzogen.

Dieser beispiellose Trauerakt war ein wuchtiger moralischer Appell. Aber ein wenig Interessenpolitik durfte schon sein. Putin spreizte sich und denunzierte die Nachbarstaaten. Der US-Vizepräsident Pence lenkte mit seiner an sich berührenden Rede vom Impeachment ab. Israels Premier Benjamin Netanjahu macht auf globaler Bühne Wahlkampf. Der polnische Präsident kassierte Punkte daheim, indem er sich selbst auslud, um sich für die antipolnischen Tiraden des neuen Zaren zu rächen.

Doch geht derlei Lesart ("Die machen das ja nur, weil…") an der historischen Bedeutung des Konzils in der Gedenkstätte Jad Vaschem weit vorbei. Entscheidend ist, dass der Antisemitismus 75 Jahre nach Auschwitz längst wieder sein verzerrtes Gesicht zeigt – global, aber freundlicherweise nicht total. "Eingepreist" ist, dass der Judenhass – notabene nicht nur Israelhass – tiefe Wurzeln in der arabisch-islamischen Welt geschlagen hat. Aber wer hätte sich 1945, nach der Zerstörung der Todesmaschinerie, gedacht, dass der Antisemitismus in Europa und Amerika aufleben würde? Wo das "Nie wieder!" praktisch zur Staatsräson gehört.

Ist der Judenhass etwa doch eine unverrückbare Konstante der Geschichte? Die Staatschefs, die sonst wenig Gemeinsames verbindet, haben mit Wort und Dasein "Nein" gesagt. Nicht, weil sie dem Judenstaat ihre allesüberwölbende Sympathie bezeugen wollten, sondern weil sie ahnen, dass es letztlich nicht allein um Juden geht.

Was ist denn der Kern des Antisemitismus? Es ist das Hirngespinst einer Verschwörung gegen das Gute, Wahre und Gerechte. Da gebe es ein allmächtiges Kollektiv, das insgeheim die Welt beherrscht. Die global versprengten Juden tun so, als gehörten sie zu uns. Sie schleichen sich ein in die Köpfe. Sie kontrollieren Kapital, Wissenschaft und Medien. Zwölf Millionen Menschheitsverderber manipulieren so sieben Milliarden Unschuldige. Ein hübsches, aber tödliches Kompliment.

Ignoranz, Idiotie oder schiere Böswilligkeit? Man darf es sich auswählen. Zentral aber ist die Realitätsverweigerung. Es gibt sehr wohl Armut, Neid, Hass und Mordlust in der Welt – siehe allein eine halbe Million Tote in Syrien. Freilich funktioniert die reale Welt nicht so, wie sie sich der Antisemit zurechtlegt. Nur in seiner paranoiden Fantasie ziehen so wenige so viele Fäden. Dieser Wahn fordert: Die Juden müssen entmachtet, eingepfercht oder am besten beseitigt werden.