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DIE WELT

Gute Zeiten für Klatschbasen

Die Gestapo brauchte keine "IM": eine Studie über Denunziation im Dritten Reich

Der Staatssicherheitsdienst der DDR benötigte über 180 000 sogenannte IM, um die Opposition auszuspionieren und die übrige Bevölkerung in Schach zu halten. Die Geheime Staatspolizei des Dritten Reiches war hingegen auf solche Formen der organisierten Denunziation nicht angewiesen. In allen Phasen nationalsozialistischer Herrschaft konnte sie sich auf freiwillige Zuträger unter den "Volksgenossen" verlassen. Mehr als 50 Prozent der Gestapo-Ermittlungen gingen auf Eingaben und Meldungen aus der Bevölkerung zurück.

Häufig überstieg die Denunziationsbereitschaft die Ermittlungskapazitäten der Gestapo, so daß die Beamten mit der Bearbeitung vollständig überfordert waren. Nur wenige Denunzianten wandten sich freiwillig direkt an die Gestapo. Als Mittler fungierten häufig NSDAP-Funktionäre, vor allem die berüchtigten Blockleiter, die als "Treppenterrier" der Partei ihre Nachbarschaft mit Argusaugen beobachteten.

47 einzelne Fälle von Denunziation hat jetzt Dieter W. Rockenmaier in einem Band zusammengetragen und beschrieben. Sie entstammen den Akten der Staatspolizeistelle Würzburg, die sich als einer von wenigen Gestapo-Beständen fast vollständig erhalten haben. Schon Robert Gellately hat sich in seinem 1993 auf deutsch erschienenen Grundlagenwerk über "Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft" ganz wesentlich auf diesen Aktenbestand gestützt.

Die von Rockenmaier zusammengestellten Fallgeschichten geben einen erschreckenden Einblick in den "Denunziationsalltag" des Dritten Reiches. Vor allem wird deutlich, wie sehr die Gestapo niedere Instinkte der "Volksgenossen" mobilisierte und für sich auszunutzen versuchte: Nationalsozialistische Gesinnung bildete nämlich nur in seltenen Fällen den Ausgangspunkt einer Denunziation. In den meisten Fällen handelte es um persönliche und private Motive: Rache und Gehässigkeit, Sozialneid, geschäftliche Konkurrenz, Geltungsdrang, Familien- und Nachbarschaftsstreitigkeiten entluden sich in Form einer politischen Denunziation.

Schüler zeigten ihre Lehrer, Mieter ihre Vermieter, Söhne ihre Väter und Ehemänner ihre Frauen an. Manche Denunzierten wurden selbst zu Denunzianten, wie ein Vermieterin, die von einem Mieter aus Rache wegen Abhörens von "Feindsendern" angezeigt wurde. Dies hinderte die Vermieterin nicht daran, ihrerseits Mieter als arbeitsscheu zu denunzieren.

Als besonders abstoßenden Fall einer Denunziation präsentiert Rockenmaier das Beispiel einer Ehefrau, die ihren Mann Anfang 1945 wegen staatsfeindlicher Äußerungen anzeigte und im Prozeß wegen Wehrkraftzersetzung als Hauptbelastungszeugin auftrat. Kaltblütig kalkulierte sie die Hinrichtung ihres Ehemanns ein, um ihn loszuwerden. Wegen des nahen Kriegsendes wurde das Todesurteil jedoch nicht mehr vollstreckt und die Ehefrau nach 1945 wegen versuchten Mordes zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Einer der seltenen Fälle, in denen Denunzianten gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurden.

So eindrucksvoll die Zusammenstellung der Fallgeschichten im vorliegenden Band auch ist, so kommen Interpretation und Analyse doch insgesamt zu kurz, auch wenn Rockenmaiers Dokumentation nicht den Anspruch erhebt, den bisherigen Forschungsstand zu erweitern. Über die Auswahlkriterien und Repräsentativität der Fallgeschichten erfährt der Leser wenig. Vermutlich sind sie den Akten nach dem Zufallsprinzip entnommen worden. Deshalb vermag der Autor auch keine Angaben über die Bedeutung der Denunziationen für die Verfolgung einzelner Delikte zu machen.

Läßt man die Fallgeschichten insgesamt Revue passieren, drängt sich beim Lesen der Eindruck auf, daß die Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung nicht nur die Stärke, sondern auch die Schwäche der Gestapo ausmachte. Da sie allen eingegangenen Meldungen akribisch nachging, verstrickte sie sich häufig in banalste Alltagskonflikte, wenn beispielsweise zwei Klatschbasen ihre Fehden unter Einschaltung der Gestapo ausfochten. Ermittlungen förderten bisweilen nichts als Tratsch zutage, wurden mit dem Vermerk: "Weiteres ist hier nicht zu veranlassen" zu den Akten genommen und waren im Sinne des NS-Regimes dysfunktional.

Bei der Bekämpfung der katholischen Geistlichkeit gehörten die Denunzianten häufig zu gesellschaftlichen Außenseitern, über denen sich nach Bekanntwerden der Denunziation oft die geballte Volkswut entlud. "Der wo den Pfarrer verraten hat, gehört totgeschlagen", brachte ein NSDAP-Mitglied (!) die Volksstimmung zum Ausdruck. Denunziationen von Geistlichen führten in Einzelfällen zu einem öffentlichen Aufruhr, der dem NS-Regime ebenfalls nicht genehm sein konnte.

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Die eingehende Denunziationsflut veranlaßte die Gestapo zudem dazu, die eigene Ermittlungstätigkeit zu vernachlässigen. Weil sie einseitig auf eingehende Anzeigen und Meldungen vertraute, entzogen sich soziale Schichten wie der Adel oder das gehobene Bürgertum ihrem Zugriff, weil Denunziationen in diesen Bevölkerungskreisen selten waren. Deshalb wurde die Gestapo auch vom Umsturzversuch des 20. Juli 1944 vollkommen überrascht, obwohl Hunderte von Personen von dem geplanten Attentat gewußt hatten. Diese größte Niederlage der Gestapo gibt zwar keinen Anlaß, ihre Tätigkeit und die Bedeutung von Denunziationen zu unterschätzen, jedoch auch keinen Anlaß zu ihrer nachträglichen Dämonisierung.

Dieter W. Rockenmaier:

Denunzianten. 47 Fallgeschichten aus den Akten der Gestapo im NS-Gau Mainfranken.

Echter, Würzburg 1998. 288 S., 58 Mark.

Frank Bajohr ist Historiker und arbeitet an der Hamburger Forschungsstätte für Zeitgeschichte.

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