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Bundeswehr Bedingt abwehrbereit

aus DER SPIEGEL 41/1962

Man kann amerikanische Politik nur dann beeinflussen, wenn man sie mit den Amerikanern macht und wenn man nicht Politik gegen die Amerikaner macht.

Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß am 20. März 1958 im Deutschen Bundestag.

Der Kanzler verließ seine Hauptstadt Bonn. Wie der Führer zu Beginn des Westfeldzuges am 10. Mai 1940 frühmorgens, bezog er einen Befehlsbunker in der Eifel.

Den Kanzler begleiteten die Herren des Bundesverteidigungsrates und die Führungsstaffeln der Bundeswehr.

Es war höchste Kriegsgefahr: Das Manöver »Fallex 62« (Herbstübung 1962), eine Stabsrahmenübung der Nato, ging aus der Phase der »Spannungszeit« in die des »Verteidigungsfalles« über*. Der europäische Nato-Oberbefehlshaber, US-General Norstad, hatte »allgemeinen Alarm« gegeben, nachdem westliche Vorposten angegriffen worden waren.

Konrad Adenauer spielte an diesem 21. September Boccia in Cadenabbia. Des Kanzlers Manöverrolle hatte der Sonderminister Heinrich Krone, Konrad Adenauers engster politischer Vertrauter, übernommen. Franz-Josef Strauß pflegte in seinem Riviera-Reduit die von der Fibag-Affäre und von dem Ringen um die bayrische Ministerpräsidentschaft angegriffenen Nerven. Zur Verwunderung seiner Mitarbeiter verpaßte er diese wichtige Übung, während US-Verteidigungsminister McNamara sogar für 48 Stunden nach Westdeutschland kam, um den Verlauf von »Fallex 62« zu beobachten. Der Manöverpart des Bundesverteidigungsministers oblag dem Bundeswehr-Personalchef, Ministerialdirektor Karl Gumbel.

Die Bundeswehr führte derweil der Generalmajor Graf Kielmansegg, sonst Kommandeur der 10. Panzer-Grenadier-Division in Sigmaringen. Aber der Bundeswehr-Generalinspekteur, Vier-Sterne-General Friedrich Foertsch, machte nicht Ferien wie sein Kanzler und sein Minister; in der Manöverleitung beobachtete er Zug um Zug der Übung, die dem höchsten deutschen Soldaten über die Kriegsbereitschaft der Bundesrepublik und die Kampfbereitschaft seiner Streitkräfte reichlich Aufschluß gab.

»Fallex 62« war das erste Manöver der Nato, dem die Annahme zugrunde lag, daß der dritte Weltkrieg mit einem Großangriff auf Europa beginnen würde.

Der dritte Weltkrieg begann an jenem Freitag vor fast drei Wochen in den frühen Abendstunden. Die Manöverleitung ließ eine Atombombe von mittlerer Sprengkraft über einem Fliegerhorst der Bundeswehr explodieren. Weitere Atomschläge gegen die Flugplätze und Raketenstellungen der Nato in der Bundesrepublik, in England, Italien und der Türkei folgten.

Es gelang den Russen jedoch nicht, mit dieser ersten Atomsalve die Vergeltungswaffen des Atlantikpaktes auszuschalten.

Etwa zwei Drittel der westlichen Atomwaffenträger blieben intakt. Die 14tägige Spannungszeit, die dem russischen Papierangriff vorausging, war von der Nato genutzt worden, um ihre Raketen zu tarnen und einen großen Teil ihrer Flugzeuge ständig in der Luft zu halten oder auf vorbereiteten Ausweichplätzen zu stationieren.

Aber auch der sofortige Gegenschlag dieser Nato-Verbände konnte die rote Aggression nicht im Keim ersticken. Der Osten behielt genügend Divisionen und Atombomben, um seinen Angriff voranzutreiben.

Nach wenigen Tagen waren erhebliche Teile Englands und der Bundesrepublik völlig zerstört. In beiden Ländern rechnete man mit zehn bis fünfzehn Millionen Toten. In den Vereinigten Staaten, die inzwischen von mehreren sowjetischen Wasserstoffbomben getroffen wurden, waren die Verluste noch größer.

Das Chaos war unvorstellbar - auch - wenn man berücksichtigt, daß von der Manöverleitung zur Erprobung der Hilfsmaßnahmen die Explosion von mehr Atom-Sprengkörpern angenommen wurde, als die Russen im Ernstfall voraussichtlich einsetzen würden und könnten.

Dieses Chaos behinderte das Vorrücken der ebenfalls dezimierten und stark angeschlagenen kommunistischen Divisionen. Trotzdem konnten sie - weil der Nato Truppen fehlten - im Nordwesten der Bundesrepublik einschließlich Schleswig-Holsteins große Geländegewinne erzielen. Hamburg wurde nicht verteidigt, ein Verzicht, für den sich schon vor dieser Übung Innensenator Helmut Schmidt eingesetzt hatte - wie weiland unter ähnlichen Umständen der Hamburger Reichsstatthalter Karl Kaufmann. Auch die militärische Führung war an einem mörderischen Straßenkampf nicht interessiert.

Der Zweck von »Fallex 62« war, die militärische Bereitschaft der Nato und die Funktionsfähigkeit der Führungsstäbe zu prüfen sowie vor allem die Notstandsplanung für die Bevölkerung zu exerzieren. Deshalb nahmen auch zahlreiche zivile Dienststellen - die Innenministerien des Bundes und der Länder, die Regierungspräsidenten und Landräte sowie das Bundespost- und das Bundesverkehrsministerium - an der Übung teil.

Es zeigte sich, daß die Vorbereitungen der Bundesregierung für den Verteidigungsfall völlig ungenügend sind, wobei das Fehlen eines Notstandgesetzes nur eines von vielen Übeln ist.

Das Sanitätswesen brach als erstes zusammen. Es fehlte an Ärzten, an Hilfslazaretten und an Medikamenten. Nicht besser war es auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung und der Instandhaltung lebenswichtiger Betriebe und Verkehrswege. Die Luftschutzmaßnahmen erwiesen sich als vollkommen unzureichend. Eine Lenkung des Flüchtlingsstroms war undurchführbar. Auch das Fernmeldesystem war in kürzester Zeit außer Betrieb.

Die an dem Manöver teilnehmenden Beamten und Zuschauer, darunter der Bonner Historiker Professor Walther Hubatsch sowie Vertreter des Bundesverbandes der Industrie, waren von dem Manöververlauf erschüttert. Bundesinnenminister Hermann Höcherl gewann die Erkenntnis, in einer solchen Katastrophe könne nur helfen, was vorher vorbereitet sei. Er zog das Fazit der mangelhaften Vorbereitungen: »Unter den gegenwärtigen Umständen hat fast keiner eine Chance.«

Die Mängel der Bundeswehr waren bereits in der »Spannungszeit«, also vor Angriffsbeginn, offenbar geworden.

Die amerikanischen Heeresverbände auf dem westeuropäischen Halbkontinent waren binnen zwei Stunden mit 85 Prozent ihrer Mannschaftsstärke kampfbereit. Die neun mobilen Divisionen der Bundeswehr hingegen, die bereits auf Nato-Kommando hören, waren personell nicht aufgefüllt; es fehlte zudem an Waffen und Gerät. Die Truppenarztstellen waren nur zu einem Viertel besetzt. Für die Hunderttausende von Bundeswehrreservisten, die ihre Wehrpflicht hinter sich haben und die sich - nach Annahme der Kriegsspieler - an den Wehrleitstellen meldeten, gab es keine Offiziers- und Unteroffizierskader, und erst recht keine Waffen.

Die Verbände der Territorialverteidigung (TV) waren mit ihren wenigen schweren Pioniereinheiten den Aufgaben kaum gewachsen. Zur Bekämpfung durchgebrochener Panzer waren überhaupt keine Einheiten der TV vorhanden.

Das Nato-Oberkommando qualifiziert die alliierten Streitkräfte in vier Stufen:

▷ zum Angriff voll geeignet,

▷ zum Angriff bedingt geeignet,

▷ zur Abwehr voll geeignet und

▷ zur Abwehr bedingt geeignet.

Die Bundeswehr hat heute - nach fast sieben Jahren deutscher Wiederbewaffnung und nach sechs Jahren Amtsführung ihres Oberbefehlshabers Strauß - noch immer die niedrigste Nato-Note: zur Abwehr bedingt geeignet.

Solchen halbstarken Verteidigungskräften auf dem Zentralschlachtfeld Europas steht schon in normalen Zeitläufen ein kompaktes erstes Ost-Treffen gegenüber: Zehn Panzer- und zehn mechanisierte Divisionen der Sowjets mit 6000 Sturmgeschützen und Panzern, in der Masse vom mittleren Typ T 54 sowie 1000 schwere Panzer vom Typ »Josef Stalin«, auf dem Territorium der DDR; zwei Sowjetdivisionen in Polen und vier in Ungarn.

Sechs Divisionen der Nationalen Volksarmee, außerdem sechs Grenzdivisionen und drei Grenzbrigaden der Volkspolizei sowie 13 polnische und 14 tschechoslowakische Divisionen umrahmen den sowjetischen Kern.

Die Tschechen sind modern armiert, aber wenig kampftüchtig. Den Polen fehlt es an ebenbürtigen Waffen und an Kampfgeist. Die Nationale Volksarmee mit 2500 Panzern meist älteren Typs (T 34/85) wurde bei den Warschau-Pakt-Manövern des vergangenen Jahres in vorderster Operationslinie eingesetzt, obwohl ihr Kampfwert auch nicht hoch eingeschätzt wird. Die russischen Divisionen in Mitteldeutschland zählen zur Elite der Sowjet-Armee.

Einen Entsatzangriff der Nato-Verbände gegen ein blockiertes Westberlin - mit der Bundeswehr als Stahlspitze, wie US-Präsident Kennedy es immerhin in einem Gespräch mit dem Bonner Botschafter Grewe für diskutabel hielt - würde die rote Armee-Kombination vermutlich abschmettern können. Doch reicht ihre Durchschlagskraft nach Ansicht der Generalstäbler im Pariser Nato-Hauptquartier nicht hin, um umgekehrt die atlantische Front »aus dem Stand« aufzurollen, auch nicht, wenn sie den Angriff mit taktischen Atomwaffen vorwärtszuschießen sucht.

Eine Offensive der Ost-Heere gegen den Westen bedarf des systematischen Aufmarsches der vordersten Angriffsverbände und starker Reserven, um den rollenden Angriff aus rückwärts gestaffelten Wellen zu nähren. Während der Vorbereitungen für den Berliner Mauerbau am 13. August letzten Jahres etablierte die Sowjet-Armee in der DDR vorsorglich mehrere Führungsstäbe für jene roten Armeen, die im Krisenfall nachgeschoben werden sollten.

Mit solchen Aufmarschbewegungen per Bahn und Straße können die Sowjets den vereinigten Streitkräften in der Zone binnen zehn Tagen rund 50 Divisionen aus den sowjetischen Westprovinzen zuführen.

Transporter der roten Luftwaffe für zwei Luftlandedivisionen, darunter eine Fallschirmdivision, komplettieren den sowjetischen Aufmarschapparat. Alle Ostverbände der ersten Linie stehen auch in Friedenszeiten voll mobil unter Waffen. Ihr Vorrücken in der »Spannungszeit« ist eine Transportfrage.

Die Nato dagegen muß, um mit angemessenen Abwehrkräften aufmarschieren zu können, die aktiven Divisionen erst auffüllen und Reserven mobilisieren.

Allerdings, die Frontstärke der Sowjet-Division ist mit 10 000 Mann zuzüglich selbständiger Artillerie- und Raketenverbände geringer als das durchschnittliche 20 000-Mann-Kriegssoll der Nato-Division, die über eigene schwere Artillerie verfügt. Zudem braucht ein Angreifer eine - auf die Gesamtfront berechnete - Überlegenheit von drei zu eins für den Angriff. Um ihn vor solch einer Operation abzuschrecken oder aber ihr widerstehen zu können, hat die Nato gegen die rund 120 roten Angriffsdivisionen zwischen Alpen und Ostsee mindestens 40 Abwehrdivisionen vonnöten.

Demgegenüber beträgt das bisherige Nato-Soll für diese Abwehrfront genau 33 Divisionen. Die tatsächliche Frontstärke beläuft sich heute auf 23 Divisionen:

▷ Fünf US-Divisionen zuzüglich drei Regiments-Kampfgruppen, die mit dem Atomgranatwerfer Davy Crockett ausgestattet sind;

▷ drei britische Divisionen (einschließlich einer kanadischen Brigade);

▷ je zwei belgische und holländische Divisionen und eine dänische Division;

▷ neun Bundeswehr-Divisionen (fünf Panzergrenadier-, zwei Panzerdivisionen, eine Luftlande- und eine Gebirgsdivision (eine zehnte steht kurz vor Beendigung der Aufstellung) mit rund 2000 Panzern, 4000 Schützenpanzern und 700 Selbstfahrlafetten.

Außerdem lagert in der Bundesrepublik das Material für zwei US-Divisionen; die Soldaten können binnen einer Woche auf dem Luftwege transportiert werden, wie die Lufttransportübung »long thrust«, die im vergangenen Jahr stattfand, bewiesen hat.

Die amerikanischen Divisionen sind ständig einsatzbereit. Die englischen Divisionen haben eine Stärke von 60 Prozent; im Rahmen von »Fallex 62« wurden deshalb britische Reservisten nach Deutschland geflogen. Auch die holländischen und belgischen Einheiten sind unterbesetzt, und bei den Bundeswehr-Divisionen, von denen die Gebirgs- und die Luftlandedivision noch keine drei vollen Brigaden haben, schwankt die Ist-Stärke nach Einführung der 18monatigen Wehrdienstzeit zwischen 80 und 90 Prozent.

Darüber hinaus fehlt es der Nato an Schlachtfliegern zur Unterstützung der kämpfenden Truppe und an konventionellen Raketenwerfern vom Muster der russischen Stalin-Orgel.

Angesichts dieser Unterlegenheit des Westens nimmt das Nato-Oberkommando an, daß der Osten im Konfliktsfall einen Großangriff mit drei massierten Stoßkeilen führen würde:

▷ Nördlich der Elbe gegen Schleswig-Holstein, kombiniert mit Luftlandeoperationen gegen die dänischen Inseln und auf Jütland, um die Ostsee-Ausgänge zu gewinnen und für die eigenen Seestreitkräfte, insbesondere U-Boot-Flottillen, offenzuhalten.

▷ Beiderseits der Autobahn Helmstedt -Köln am Ruhrgebiet vorbei über den Rhein.

▷ Aus dem thüringischen Balkon auf Frankfurt am Main und zum Flankenschutz gegen Süden auf Nürnberg und München.

Fesselungsangriffe aus dem Böhmer Wald, durch das Fichtelgebirge und den Harz würden die ausflankierten Nato-Kräfte binden.

Diese breite Offensive - Angriffsziel: Nordsee und Atlantik - kann der Osten wegen der schwachen Mannschaftsstärke des Westens mit ausschließlich konventioneller Feuerkraft vortragen. Allein den 20 Sowjet-Divisionen in der DDR sind zu diesem Zweck sieben Artillerie- und sechs bis acht Raketenwerfer-Brigaden beigegeben. Hinzu kommt eine starke Schlachtfliegertruppe, die den Raid der Panzerkeile durch konventionelle Bomben und Bordwaffen unterstützt.

Die taktischen Atomwaffen fehlen indes in den Divisionen der Sowjet-Armee. Ihre Kaliber übersteigen das Maß, mit dem eine Division im Gefecht zweckmäßigerweise hantiert; für ihre Reichweiten fehlt es an Aufklärungs- und Führungsmitteln.

Erst auf der Armee-Ebene gibt es daher bei den Sowjets taktische Kernwaffen. Sie sind in Spezialverbänden zusammengefaßt, wodurch die rein konventionelle Kampfführung der Divisionen verbürgt bleibt.

Die gegenwärtig an Zahl noch zu schwachen Nato-Divisionen haben aber auch dann, wenn die Sowjets nur konventionell kommen, keine andere Wahl, als das Übergewicht des Angreifers mit Hilfe taktischer Atomwaffen auszugleichen. Diese Kampfmittel, die im operativen Luftkrieg den Angreifer beim ersten Schlag auf die feindlichen Raketen-, Flieger- und Radarbasen begünstigen, kommen in der Eröffnungsphase des Erdkampfes dem Verteidiger zugute.

Beide Seiten, Angreifer und Verteidiger, sind durch die bloße Existenz taktischer Atomwaffen gezwungen, ihre Truppenverbände auseinanderzuziehen; die Aufmarschräume werden dünner besetzt. Im Stabe des Nato-Kommandos Europa Mitte rechnet man denn auch damit, daß der Osten seinen Angriffsaufmarsch über die Südgrenze der DDR in die Tschechoslowakei hinein ausdehnen und die Neutralität Österreichs bedrohen würde, um das Donaubecken zu gewinnen.

Trotzdem aber muß sich der Angreifer, um durchzubrechen, zu Schwerpunkten massieren, womit er den taktischen Atomwaffen des Verteidigers lohnende Ziele bietet.

Außerdem vermag der Verteidiger die Verbindungslinien, über die der Angreifer seine Spitzen versorgt und mit frischen Kräften nährt, mittels taktischer Atomwaffen nachhaltig zu unterbrechen, während Vollmotorisierung und Waffen mit erheblich höherer Feuerfolge als im Zweiten Weltkrieg das Nachschubproblem ohnehin komplizieren.

US-General Lemnitzer, bisher amerikanischer Wehrmacht-Generalstabschef, künftig Nato-Oberbefehlshaber in Europa: »Die Nachschublinien der Sowjet-Armee sind tödlich verwundbar.«

Ist allerdings ein Durchbruch des Angreifers gelungen und die Front in Bewegung geraten, dann wird die Verwendung atomarer Sprengkörper durch den Verteidiger sehr schwierig. Die eigene Truppe und die eigene Zivilbevölkerung werden dann in hohem Maße gefährdet, die Aufklärung der Ziele ist erschwert.

Solche Sorgen brauchte sich der Westen noch nicht zu machen, als er im Jahre 1949 nach Stalins Berlin-Blockade und dem Putsch der tschechischen Kommunisten den Nordatlantischen Verteidigungspakt schloß. Die Amerikaner hielten damals das Atommonopol. Ihre Atomherrschaft erlitt durch die Produktion der sowjetischen A-Bomben in den ersten fünfziger Jahren keine fühlbare Einbuße, weil die Überlegenheit der USA im Bereich der Trägerwaffen bestehen blieb.

Aber das Kriegsbild, das die Nato-Strategen entwarfen, befriedigte trotz atomaren Übergewichts keineswegs: Gegen einen Einfall der sowjetischen Massenheere nach Westeuropa konnte die Bombe in der ersten Kriegsphase nichts ausrichten, und hinreichende Abwehrverbände fehlten dem seit 1945 demobilisierten Westen. Also befand der Nato-Rat 1952 in Lissabon das - inzwischen längst legendär gewordene - Plansoll von 85 Divisionen bis Juni 1954 für die Front vom Nordkap bis in die Türkei.

Mit dieser Streitmacht, zu der die bereits projektierten zwölf deutschen Divisionen noch nicht zählten, glaubte die Nato-Spitze nach dem operativen Traumkonzept »Vorwärtsstrategie« verfahren zu können: Die 85 Nato-Divisionen plus Reserven fangen einen sowjetischen Angriff gegen Westeuropa auf und befreien per »Operation im Nachzuge« die Völker Osteuropas und der Sowjet-Union.

Das Lissabon-Soll nebst »Vorwärtsstrategie« blieb Planpapier. Die europäischen Nato-Staaten scheuten die Kosten für große Heere; sie vertrauten sich statt dessen der »massiven Vergeltung« an, dem dicken Atomknüppel, mit dem die Amerikaner einen Angriff der Sowjets zu sühnen drohten.

Der Vorsprung, den die amerikanische Produktion an Atom- und Wasserstoffwaffen sowie an Trägerflugzeugen auch nach den ersten russischen Kernversuchen vor der sowjetischen Rüstungstechnik hielt, schien diese Verteidigungsdoktrin fürs erste zu rechtfertigen. Die Heere der Nato verkümmerten:

Die Nato-Planer mußten aber erkennen, daß ihr »Vergeltungs«-Feuerzauber, der in der Sowjet-Union aufflammen sollte, den Vorstoß sowjetischer Angriffsdivisionen erst nach geraumer Zeit durch Zerstörung der Basis aushungern würde. Aus dieser Erkenntnis ergab sich nach dem Scheitern der Lissabon-Pläne die Absicht, den sowjetischen Angreifer mit den vordersten Abwehrkräften überhaupt erst am Rhein zu stellen.

Die mit diesem »fall back« eingeplante Preisgabe der Bundesrepublik belastete die westdeutsche Aufrüstung. Theodor Blank, Bonns erster Wehrminister, erhob schon 1952, bei den ersten Verhandlungen über einen Verteidigungsbeitrag des Bundes, den Anspruch, die Abwehrstrategie des Westens spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem die Masse des Bundeswehrkontingents von zwölf Divisionen parat steht, vom »fall back« auf die »Vorwärtsverteidigung« - nicht »Vorwärtsstrategie« - umzustellen: vorderste Widerstandslinie in Grenznähe.

General Collins, damals amerikanischer Heeres-Generalstabschef, sicherte dem Bonner Aufrüster zu, die Verteidigungspläne nach Blanks Wünschen zu revidieren, sobald die Bundeswehr die Voraussetzungen dafür geschaffen habe. Das war im Juli 1953 gelegentlich der ersten Amerikareise Blanks bei einer Lagebesprechung im Lagezimmer der Vereinigten US-Stabschefs.

Von diesem Zeitpunkt an tüftelte Blank - heute Bundesarbeitsminister - an einem Aufrüstungskalender, nach dem 500 000 Bundessoldaten binnen vier Jahren rekrutiert werden sollten.

Mit diesem hastigen Rekrutierungsprojekt, das den Nato-Bedingungen für die »Vorwärtsverteidigung« genügen sollte, wurden schließlich drei Aufstellungsetappen für die Bundeswehr fixiert:

▷ 1956 - 96 000 Mann,

▷ 1957 - 270 000 Mann,

▷ 1959 - 500 000 Mann.

Jedoch, Blank und seine beiden Chefberater, die Generale Heusinger und Speidel, hatten sich verrechnet. Ihre Planziffern konnten nach dem Start der deutschen Wiederbewaffnung am 10. November 1955 nicht erreicht werden, es fehlte an allem - an Offizieren, Unteroffizieren, Waffen, Kasernen, Übungsplätzen.

Bonns Nato-Partner wurden mißtrauisch. Franz-Josef Strauß, seit 1953 im zweiten Kabinett Adenauer zunächst Sonder-, alsdann Atom-Minister, sah seine Chance. Er trachtete nach Blanks Amt.

Im Hamburger Wochenblatt »Die Zeit« belehrte er seinen Kabinettskollegen Blank: »Man sollte nicht um der Erfüllung einer Zahl willen Streitkräfte aufstellen, die (modernen) Anforderungen nicht entsprechen.« Gegen Blanks Wehrpflichtkur setzte Strauß das inhaltslose Gebrauchsmuster »Qualitätsarmee«.

Sechs Jahre später, nach der Athener Nato-Rats-Konferenz im letzten Mai, auf der die Amerikaner stärkere konventionelle Streitkräfte für die Nato propagiert und Blanks Konzept postum gerechtfertigt hatten, wünschte Strauß die Spuren jener Scheindialektik aus der Zeit seines gnadenlosen Konkurrenzkampfes mit Blank zu verwischen. In einer für die Bundeswehr bestimmten »Stellungnahme des Herrn Bundesministers der Verteidigung« zur Athener Konferenz hieß es: »Wir haben in der Vergangenheit - es war damals, als die SPD die Aufstellung von 500 000 Mann konventionellen Truppen als 'museumsreifen Unsinn' gebrandmarkt hat - immer den Standpunkt vertreten, daß wir in Europa ein starkes Maß an konventionellen Streitkräften brauchen ...«

Im Mai 1956 allerdings hatte Strauß seinen Vordermann Blank mit der Parole attackiert, die Bundeswehr brauche Atomwaffen, wogegen Blank an seinem Programmsatz festhielt, konventionelle Waffen seien wichtiger. Schließlich aber war Blank müde: »Die Führung der Verteidigungspolitk bedeutet für mich mehr als ein Martyrium.«

Am 16. Oktober 1956 ergriff Strauß die militärische Macht. Sogleich ging er daran, seine »Qualitätsarmee« einzurichten, und zwar per Trick. Willkürlich differenzierte er, was die Nato-Pläne nicht vorsahen, zwischen Kriegs- und Friedensstärke der Bundeswehr. Das Kriegssoll von 500 000 Mann setzte er auf das Friedenssoll von 350 000 Mann herab und streckte auch noch die Aufstellungsfrist für die einzelnen Verbände.

Dabei war Strauß schlau genug, die ursprüngliche Plan-Endstufe von 500 000 Mann nicht schlechthin zu streichen. Sondern: »Wenn wir mal Reserven haben, dann können wir ja auffüllen« - von Friedens- wiederum auf Kriegsstärke.

Strauß hatte Glück. Seine Manipulationen deckten sich mit der Rüstungstendenz im Pentagon, die zu jener Zeit als »Radford-Plan« die Militärpolitik der Eisenhower-Regierung bestimmte**: Die US-Army, abermals verringert, war nur mehr »Stolperdraht«, bei dessen Berührung durch einen Angreifer irgendwo auf der Welt der globale Atomkrieg losgehen sollte.

Die Sowjets, dem Westen an Heeresverbänden erdrückend überlegen, orientierten sich dagegen an der Maxime ihres Panzer-Marschalls Rotmistrow:

»Es ist völlig klar, daß Atom- und Wasserstoffwaffen allein, das heißt ohne entscheidende Operationen der modern ausgerüsteten Landstreitkräfte, den Ausgang des Krieges nicht bestimmen können.« Sowjetgeneral Krassilnikow hatte diesen Lehrsatz ergänzt: Die Atomkriegsführung erfordere »nicht die Herabsetzung der Truppenstärke, sondern vielmehr deren Erhöhung, denn die Gefahr, daß ganze Divisionen ausfallen, wächst, und um sie zu ersetzen, werden große Reserven notwendig sein«.

Zugleich stockten die Sowjets aber auch ihren Vorrat an Atom- und Wasserstoffwaffen mehr und mehr auf. Und ihre Sputnik-Raketen wiesen sich als Trägermittel mit transkontinentaler Reichweite aus.

Die Nato reagierte darauf mit dem Planprogramm MC 70, einer Rüstungs- und Führungsdirektive des nordatlantischen Militärausschusses (Military Committee) in Washington. Sie empfahl für die Zeit von Anfang 1958 bis Ende 1963 die folgenden Planziele:

▷ 30 Divisionen allein im Nato-Abschnitt Europa Mitte und

▷ taktische Atomwaffen für alle diese Divisionen sowie die Nato-Luftwaffen.

Die Erfahrung spricht dafür, daß beide Ziele in der Laufzeit der MC 70, also bis Ende nächsten Jahres, nicht erfüllt werden. Am Soll der mitteleuropäischen Divisionen fehlen heute noch sieben.

Die Ausstattung der Divisionen und Luftstreitkräfte mit taktischen Atomwaffen ist ebenfalls noch nicht in vollem Umfang erreicht***.

Dem bundesdeutschen Heer fallen gemäß MC 70 je Division ein Honest-John-Bataillon, je Korps ein bis zwei Sergeant-Bataillone zu. Die Honest-John-Bataillone sind noch nicht komplett, die Sergeant-Bataillone erst im Aufbau.

Die Bundesluftwaffe verfügt bisher nur über zwei kampfbereite Nike-Fla-Bataillone. Und nur ein kleiner Teil der fünf Jagdbombergeschwader der Luftwaffe ist bisher für atomaren Einsatz ausgerüstet****. Ihre mittlerweile untauglich gewordenen 24 Matador-Geschosse werden durch drei bis fünf Pershing-Raketen-Bataillone (Reichweite der Pershing: 600 Kilometer) ersetzt. Die Ausbildung der deutschen Pershing-Mannschaften hat in Amerika bereits begonnen.

Die Sprengkörper für die laut MC 70 den Verbündeten zugeteilten amerikanischen Atomköpfe bleiben bis zum Gebrauch in den SAS-Lagern (special ammunition sites) unter Verschluß. Diese Depots, von Nato-Soldaten aller Nationen im Turnus bewacht, liegen in den Bereitstellungsräumen versteckt, so daß sie für die Truppe sofort verfügbar sind. Amerikanische Offiziere, jederzeit alarmbereit, üben die Schlüsselgewalt aus.

Bevor der erste Atomschuß aus diesen Arsenalen abgefeuert werden kann, muß der Nato-Oberbefehlshaber in Europa vom US-Präsidenten die Erlaubnis dazu erhalten haben. Erst dann darf der Oberbefehlshaber atomare Sprengkörper im unteren KT-Bereich***** an die Kommandierenden Generale der Korps ausgeben, und zwar je nach den Feuerplänen für unterschiedliche Lagen mit verschiedenem Detonationswert. Die Korps können den Feuerbefehl selbst erteilen oder den Divisionen freigeben. Kommandierende Generale oder Divisionskommandeure geben den Feuerbefehl an den Artilleriekommandeur. Der Befehl bestimmt das Ziel, den Zeitpunkt des Abschusses und die geforderte Wirkung; den vorgesetzten Kommandobehörden und der Luftwaffe werden diese Details gemeldet. Der Artilleriekommandeur gibt das Feuerkommando unmittelbar an die Waffe.

Nach ähnlichem Befehlsschema vollzieht sich der Abwurf taktischer Atombomben durch die Nato-Luftflotten. In den Luftflotten-Depots lagern etwa zwei Drittel der in Europa vorhandenen Atomkapazität. Diese Sprengköpfe gehören zum mittleren KT-Bereich.

Die atomare Feuerkraft der Luftwaffen gilt bis heute - neben den auf U-Booten montierten sowie in England, Italien und der Türkei verbunkerten amerikanischen Mittelstreckenraketen - als schärfstes Schwert der Nato. Außerdem sind auch Einheiten des Strategischen Bomber-Kommandos der US-Luftwaffe für die Verteidigung Europas eingeteilt. Doch droht den Bomberverbänden Abschußgefahr: Die U-2-Verluste über der Sowjet-Union und Rotchina haben gezeigt, daß Fla-Raketen in großen Operationshöhen treffsicher funktionieren.

Die Zuversicht der Nato-Stäbe gründet sich immer noch auf den Vorsprung der amerikanischen vor der sowjetischen Atomwaffenproduktion. Die Vereinigten Staaten haben bislang - so US-Verteidigungsminister McNamara auf der Athener Nato-Konferenz im Mai - viermal mehr Kernmaterial zu Sprengköpfen verarbeitet als die Sowjets.

Amerika allein hält 97 Prozent der Gesamtkapazität atomarer Kampfmittel im Westen, eine Kraft, die rechnerisch hinreicht, um 90 Prozent der militärisch interessanten Ziele im Osten zwei- bis dreifach überlagert zu decken. Die restlichen zehn Zielprozente im Osten sind nicht aufgeklärt oder so beweglich, daß sie auch mit einer noch höheren Atomkapazität des Westens nicht sicher gefaßt werden können. Ein Nato-Planspiel vor zwei Jahren offenbarte bereits den atomaren Sättigungsgrad des Westens: Auf ein und denselben Ostsee-Hafen fielen zu gleicher Zeit drei Atombomben. Grund: Die Nato-Strategen sind sicher, daß die Sowjet-Armee wegen der Verwundbarkeit ihrer Landverbindungen mit Teilen ihres Nachschubs auf den Seetransport ausweicht; in der Marine spricht man von der »Rollbahn Ostsee«.

Also setzten drei Nato-Kriegsspieler aus drei verschiedenen Befehlsstellen je eine Atombombe auf jenen Ostsee-Hafen.

Um den Haushalt der Atommunition in Ordnung zu bringen und Feuerzucht zu sichern, hat das Pentagon ein »Gemeinsames Kommando« der amerikanischen Wehrmachtteile eingerichtet, das die Feuerpläne koordiniert. Ein Verbindungsstab des Zentralkommandos sitzt beim Nato-Oberbefehlshaber Europa in Paris.

Dieses Zielverteilungsbüro beantwortet freilich nicht die Grundsatzfrage, ob überhaupt, beziehungsweise wann von welchen Atomwaffen Gebrauch gemacht werden darf. Die Antwort darauf wird durch folgende Faktoren erschwert:

▷ Die wechselseitige Patt-Konstellation zwischen den strategischen Kernwaffen beider Seiten, in der auch der Angreifer durch den nachträglichen Gegenschlag des Angegriffenen vernichtet werden kann.

▷ Die Ausrüstung der sowjetischen Frontarmeen mit taktischen Atomwaffen.

▷ Die nach amerikanischem Urteil infolgedessen wachsende Gefahr lokaler - konventioneller oder begrenzt-atomarer - Konflikte in Europa, verursacht beispielsweise durch die Berlin-Krise.

In der Patt-Lage könnte Amerika versucht sein, örtliche Erfolge der Sowjetarmee in Europa im Kampf mit den noch an Zahl unterlegenen Nato-Verbänden hinzunehmen, um den beiderseits tödlichen Schlagabtausch mit strategischen Kernwaffen zu vermeiden. Und die Sowjets umgekehrt könnten durch die atomstrategische Todesbalance verführt werden, eben solche begrenzten Vorstöße zu wagen und territoriale »Faustpfänder« zu besetzen.

Der damalige Stabschef der US-Army, General Taylor, forderte schon Anfang 1959 deshalb eine Erhöhung des konventionellen Solls der MC 70. Aber die republikanische Eisenhower-Administration war nicht geneigt, mehr Geld für die konventionelle Rüstung auszugeben. Genauso scheuten auch die Europäer höhere Militärbudgets.

Die Eisenhower-Regierung ersann eine Abhilfe, durch die nun, nachdem sie bereits die taktischen Atomwaffen nach vorn in die europäische Front eingeschleust hatte, auch strategische Nuklear-Raketen in Nato-Befehlsgewalt gebracht werden sollten. Die Amerikaner dachten, damit ihren Mangel an interkontinentalen Raketen auszugleichen.

So boten sie Ende 1960 in den ersten, noch zu Eisenhowers Amtszeit konzipierten Entwürfen der Plandirektive MC 96, die Ende 1963 das Dokument MC 70 ablöst, den europäischen Bundesgenossen mehr als 100 Mittelstreckenraketen des Musters Polaris mit einer Reichweite von damals noch 2000 (heute bereits 3000) Kilometern an. Die Polaris-Raketen sollten nicht nur auf U-Booten feuerbereit sein, sondern auch auf dem westeuropäischen Festland Feuerstellungen beziehen. Auch die Bundeswehr sollte einen Raketenanteil erhalten.

Enthusiastisch begrüßte Bonns Verteidigungsminister Strauß die Raketenofferte, während alle anderen Nato-Partner bis heute skeptisch und zurückhaltend blieben. Strauß wähnte sich am Ziel seines Wunsches, an der amerikanischen Atommacht teilzuhaben und so ein Stück atomarer Souveränität zu erhaschen. Überdies glaubte er, das Polaris-Projekt werde den Franzosen ihr Hegemonial-Instrument in Europa, die atomare »force de frappe« (Abschreckungsmacht) aus der Hand winden.

Aber die nüchtern rechnenden Generalstäbler im europäischen Nato-Oberkommando zu Paris täuschte die Polaris-Verheißung nicht darüber hinweg, daß zwischen den Abschreckungshoffnungen und den Abschreckungsmitteln auf der untersten Stufe des Abwehrsystems nach wie vor eine Diskrepanz klaffte.

Bei Kriegsspielen im Pariser Nato-Hauptquartier stellte sich heraus: Die Nato-Widerstandslinien sind schwach besetzt und Reserven nicht vorhanden, so daß die Abwehrverbände selbst bei kleineren Vorstößen des Ostens von Abschnitt zu Abschnitt hin und her rochieren mußten, solange sie sich nicht mit atomarer Feuerkraft zur Wehr setzten. Solche Querbewegungen aber führten zu gefährlichen Entblößungen breiter Frontabschnitte.

Atomares Abwehrfeuer der Nato auf den sowjetischen Angreifer, der ebenfalls taktische Atomwaffen mitführte, drohte jedoch die sogenannnte Atomspirale (escalation) in Bewegung zu setzen: Wer im atomaren Feuerkampf unterliegt, greift nach dem nächst dickeren Kaliber.

Im Nato-Hauptquartier schloß man aus den Spielresultaten, die Heeresverbände müßten komplettiert und auf diese Weise die »atomare Schwelle« im System der »gestuften Abschreckung« angehoben werden; der Zeitpunkt, zu dem gegen einen sowjetischen Überfall nur noch Atomwaffen helfen, müsse hinausgeschoben werden.

Zu den hohen Offizieren, die solche Kriegsspiele im Jahre 1959 anlegten, leiteten und auswerteten, gehörte im obersten Rang der atlantischen Militärhierarchie der Bundeswehr-Generalleutnant Friedrich Foertsch, seit dem 1. Januar jenes Jahres »Deputy Chief of Staff Plans and Policy« (stellvertretender Generalstabschef für Planung und Grundsatzfragen) im Nato-Oberkommando Europa.

Foertsch zog später das Resümee seiner Arbeitsleistung in der atlantischen Kommandospitze: »Ich habe den Kameraden dort beigebracht, nicht immer gleich mit Atomwaffen herumzuschießen.«

Die Reformbestrebungen im europäischen Nato-Hauptquartier, von der neuen demokratischen Kennedy-Administration seit Anfang 1960 forciert, waren im letzten Herbst zu Plan-Empfehlungen an die Nato-Regierungen ausgereift: Die europäischen Heeresverbände sollen nicht nur aufgefüllt, sondern vermehrt und so nahe an die Demarkationslinie herangeführt werden, daß örtliche Grenzverletzungen ohne Atomfeuer per Gegenstoß bereinigt werden können. Die Abschreckung gegenüber konventionellen Übergriffen östlicher Heereskräfte soll dadurch an Überzeugungskraft gewinnen.

Die taktischen Atomwaffen bleiben gleichwohl in den europäischen Nato-Divisionen, weil auch die Sowjets diese taktischen Waffen haben, wenn auch nicht in den Divisionen, sondern innerhalb der Armeen. US-General Lemnitzer zu amerikanischen Theorien, nach denen die taktischen Kernwaffen aus den Frontverbänden herausgelöst und im Hinterland stationiert werden sollten: »Das wäre Wahnsinn; die Waffen würden, wenn man sie gebraucht, ja nicht wieder nach vorn kommen.« Offen ist jedoch die Frage, ob die taktischen Atomwaffen nicht wie in der Sowjet-Armee besser einem Sonderkommando unterstellt werden.

Das Polaris-Angebot aus dem ersten Entwurf zur MC 96 wurde jedoch zugunsten konventioneller Verstärkung zurückgestellt. US-Präsident Kennedy verbrämte sein Desinteresse an solch einer Nato-Atommacht höflich, als er den Europäern riet, sich zunächst einmal auf eine gemeinsame Kontrolle dieser Waffe zu einigen.

Dem amerikanischen Nato-Botschafter Finletter ließ Kennedy im Atlantikrat erklären, die Heeresverbände hätten Vorrang, und eine Polaris-Ausstattung, wenn sie eines Tages erfolgen sollte, müßten Amerikas Verbündete jedenfalls bar in Dollars bezahlen.

Amerikas Verteidigungsminister McNamara drückte es deutlicher aus: »In vier bis sechs Jahren wollen wir so weit sein, daß Europa gegen einen konventionellen Großangriff auch konventionell verteidigt werden kann.«

Die Bonner Regierung wies ihren Nato-Botschafter von Walther im Januar dieses Jahres an, die neuen Plan-Forderungen des Nato-Stabes zu akzeptieren - »als Planungsgrundlage«, so schränkte Botschafter von Walther ein; über Einzelheiten, warnte er vorsorglich, werde man noch reden müssen.

In Wahrheit lehnte Bonns Verteidigungsminister Strauß von Anfang an die Neuerungen ab. Er verdächtigte die Amerikaner, sie würden, um ihr Land vor den strategischen Kernwaffen der Sowjets zu bewahren, bei Kriegsausbruch mit dem Einsatz der Atomwaffen zu lange zögern.

Strauß: »Man kann heute den Krieg mit konventionellen Mitteln nicht als das geringere Übel in Kauf nehmen, weil man glaubt, dadurch das Opfer eines atomaren Krieges zu verhindern ... Durch einen solchen akrobatischen Akt der Selbsttäuschung lassen sich die Atomwaffen nicht eliminieren.« Der Minister behauptete, die atomare Abschreckung verlöre an Glaubwürdigkeit, falls die Nato sich auf einen konventionellen Krieg vorbereite.

Die seit Ende 1958 schwelende Berlin-Krise sprach allerdings gegen Straußens Theorien; die Gefahr örtlicher Zusammenstöße war für jedermann sichtbar geworden. Sie zwang den Westen, militärische Operationen zu planen, die im Ansatz nur mit konventionellen Kräften möglich sind, wenn der Westen keinen Atomkampf beginnen will.

So erwogen Nato-Strategen zum Beispiel, die Ostsee-Ausgänge zu sperren, sobald die Sowjets Westberlin blockieren sollten. Eine Sanktion dieser Art verlangt aber konventionelle Abwehrvorbereitungen für den Fall, daß die Sowjets den Ostsee-Riegel aufbrechen wollten.

Franz-Josef Strauß hingegen, ob seiner rhetorischen Kraftmeierei teils bewundert, teils verrufen, möchte die westliche Berlin-Politik gar nicht militärisch abstützen. In den kritischen Tagen nach dem 13. August 1961 wandte er sich bei internen Beratungen gegen jede energische Aktion und beschuldigte Bürgermeister Brandt eines Spiels mit dem Feuer.

Als die neuen Plan-Forderungen der Nato in Bonn vorlagen, trug Strauß dem von Generalmajor Schnez geleiteten Stab des Generalinspekteurs Foertsch auf, eine strategische Analyse zu entwerfen.

Mit Moltkescher Gründlichkeit skizzierten die jungen Kriegsgötter der Bonner Ermekeilkaserne mehrere Kriegsbild-Studien. Darin war die Ausgangslage der Stabsrahmenübung »Fallex 62« bereits vorweggenommen: Die Sowjets starten einen Großangriff gegen Europa mit einem atomaren Zerstörungsschlag auf die Raketenbasen, Rollfelder und Fernmeldezentren der Nato sowie auf die Heeresverbände im grenznahen Abwehrraum.

Über die Schlußfolgerungen für die atlantische Strategie konnten sich die westdeutschen Generalstäbler jedoch nicht einig werden. Auf ihre Meinungsverschiedenheiten wies Straußens Presseoberst Gerd Schmückle in einem Zeitungsartikel hin: »Es gibt Generäle, die sich darauf versteifen, ein Krieg in Europa dauere nicht länger als 48 Stunden. Andere sprechen von 48 Monaten. Die Differenz beider Zahlen spiegelt die geistige Entfernung wider, die Luftwaffen- und Heeresexperten im allgemeinen voneinander trennt, sobald die Rede auf das Kriegsbild unserer Tage kommt.«

Eine Gruppe von Generalstäblern, unterstützt von deutschen Offizieren aus den Nato-Stäben, argumentierte: Nur ein stärkeres deutsches Heer kann den Abschreckungsfaktor erhöhen und die Sowjets von einem derartigen Angriff abhalten. Auch gewährleiste allein eine Vermehrung der deutschen Truppen die »Vorwärtsverteidigung« an der Zonengrenze. In einer Denkschrift an Generalinspekteur Friedrich Foertsch wiesen die deutschen Angehörigen des Nato-Oberkommandos außerdem darauf hin, mehr Bundessoldaten vergrößerten das politische Gewicht der Bundesrepublik im atlantischen Bündnis, dagegen wecke das Streben Bonns nach Mittelstreckenraketen nur Mißtrauen.

Andere Offiziere aus dem Führungsstab der Bundeswehr meinten jedoch, die Nato könne einem ersten atomaren Angriffszug des Ostens am besten begegnen, indem man die schon vor Jahren in den Vereinigten Staaten erörterte Idee eines »preemptive strike« (vorbeugender Schlag) aufnimmt, der dem sowjetischen Atomschlag zuvorkommt, und zwar in dem Augenblick, da die Angriffsabsicht der Sowjets klar erkannt ist.

Ihre Forderung: Die Nato braucht eine eigene, von den USA unabhängige Atommacht, notfalls zu Lasten der konventionellen Rüstung.

Der Fliegergeneral Kammhuber, bis Ende letzten Monats Inspekteur der Bundesluftwaffe, hatte bereits 1955 beim Nato-Luftmanöver »Carte blanche«, bei dem eine ähnliche Kriegs-Eröffnungsphase exerziert wurde, ähnliche Überlegungen angestellt. Damals schon plädierte Kammhuber dafür, daß »die Bundeswehr eine Waffe haben muß, um bis zum Ural wirken zu können. Anderenfalls sind wir nur Satelliten«.

Mit dem Starfighter-Programm legten Strauß und Kammhuber die Grundlage für diese Wunderwaffe: Jagdbomber, die Atomköpfe transportieren können und die später durch Raketen ersetzt werden sollen.

Die Jagdbomber sind für den vorbeugenden Schlag prädestiniert, weil sie, auf die kilometerlangen Betonpisten angewiesen, durch Raketenbeschuß oder Bombenwurf beim feindlichen Eröffnungsschlag sehr gefährdet sind. Fraglich bleibt, ob sie bei Rückkehr vom ersten Frontflug noch unversehrte Landebahnen finden werden.

Für alle Staffeln sind zwar weit gestreut Ausweichhäfen eingerichtet, auch sollen jetzt Betonbunker zum Abstellen der Maschinen und provisorische Landemöglichkeiten auf Autobahnen gebaut werden, aber schon ein nahe dem Rollfeld detonierender Atomsprengkopf zerstört die Radargeräte, ohne deren Hilfe ein Starfighter nur schwer heruntergelotst werden kann.

Die Strauß-Obristen verfertigten ihre Kriegsbild-Studien, obwohl die amerikanische Regierung einen »preemtive strike« bislang immer abgelehnt hat. Er widerspricht dem defensiven Charakter des atlantischen Bündnisses. Davon, daß der Westen niemals zuerst losschlagen würde und daß die Sowjet-Union das weiß, verspricht man sich in den Hauptstädten des Westens eine »stabilisierende Wirkung« auf die weltpolitische Lage.

Die Kampfaufträge für die Nato-Luftwaffen beruhen deshalb auf dem sofortigen Gegenzug nach Angriffsbeginn. Sie zielen auf Raketenbasen, auf Flugplätze und vor allem auf die empfindlichsten Stellen des russischen Angreifers: die langen Nachschublinien. Das Schlachtfeld Europa soll an der Weichsel abgeriegelt werden.

Zu gleicher Zeit obliegt es den Heeresverbänden der Nato, den aus dem Aufmarschraum zwischen Weichsel und Zonengrenze anrennenden Gegner zu stoppen.

Bis zum Jahr 1958 galt der Rhein als Hauptverteidigungslinie. Die schwachen Nato-Divisionen hätten einen massierten Angriff zwischen Zonengrenze und Rhein nur verzögern können. Dabei sollten sie mehrere Widerstandslinien, an natürliche Hindernisse angelehnt, jeweils eine bestimmte Frist halten, um die für den Jagdbomber- und Raketeneinsatz erforderlichen Funkfeuer zu sichern, die westlich jener Linien installiert sind.

Die Nato-Planer hatten errechnet, daß sich ein atomarer Gegenschlag auf die Verbindungslinien des Ostens erst nach Tagen bei dessen Angriffsarmeen auswirkt. Spätestens am Rhein aber, so lautete die Nato-Rechnung, würde die Sowjet-Armee gezwungen sein, ihre Verbände umzugruppieren.

General Friedrich Foertsch im europäischen Nato-Oberkommando, sein Amtsvorgänger als Bundeswehr-Generalinspekteur, General Adolf Heusingen, und General Hans Speidel, Heeresbefehlshaber im Nato-Kommando Europa Mitte, setzten mit der Zeit durch, daß die Nato-Hauptverteidigungslinie vom Rhein weiter nach Osten vorverlegt wurde.

Nach dem 13. August vergangenen Jahres befahl der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber Norstad, im Hinblick auf eventuelle Scharmützel an der Zonengrenze, daß auch der Grenzraum zu verteidigen sei. Eindringende Volksarmee- oder Sowjet-Verbände seien über die Grenze zurückzudrücken.

Eine holländische Brigade rückte damals auf Norstads Befehl zur Sicherung des Grenzraums nach Bergen-Hohne in die Lüneburger Heide vor.

Auf dem Reißbrett war nun endlich fertig, was der erste deutsche Verteidigungsminister, Theodor Blank, schon Ende der fünfziger Jahre hatte erreichen wollen: die »Vorwärtsverteidigung«.

Bis heute fehlen freilich, wie »Fallex 62« erwiesen hat, noch die Kräfte, mit denen das Nato-Oberkommando dieses operative Konzept erst ins Werk setzen kann.

Obschon der Algerien-Krieg liquidiert ist, weigert sich Frankreichs General-Präsident de Gaulle, die in Algerien frei gewordenen französischen Divisionen dem atlantischen Oberkommando zu geben. Dreiviertel des französischen Heeres hält de Gaulle vielmehr unter nationalarm Kommando fest. Dazu gehört auch das in elsässischen und lothringischen Garnisonen untergebrachte Armeekorps des Fallschirmgenerals Massu.

De Gaulle führt dieses Korps westlich des Rheins als seine persönliche operative Reserve, als »Interventionstruppe« an der Leine. Mit ihr möchte er bei einem Durchbruch der Sowjets in Richtung Atlantik nach eigenem Geschmack operieren können.

Das Nato-Kommando Europa Mitte benötigt das Korps Massus indessen dringend für eine frontnähere Aufgabe. Denn der Frontabschnitt, den die Franzosen in Süddeutschland einschließlich der bayrischen Hauptstadt München zu halten haben, ist nur schwach besetzt, so daß München nicht ernstlich verteidigt werden könnte, so wenig wie Hamburg oder Hannover.

Der Heeresoberbefehlshaber im mitteleuropäischen Nato-Abschnitt, General Speidel, tröstet sich über das notorisch Nato-widrige Verhalten der Franzosen: »Wenn es losgeht, wird Massu schon kommen.«

Aber selbst dann, wenn Massu kommen sollte und wenn Speidel das französische Korps in Elsaß-Lothringen zu seiner mitteleuropäischen Streitmacht hinzuzählt und wenn Ende nächsten Jahres alle eingeplanten zwölf deutschen Divisionen zur Verfügung stehen sollten, wird der Nato-General immer noch nicht über genügend Divisionen gebieten können. Speidel braucht nach eigenem Urteil und dem des Nato-Oberkommandos in Paris für seinen Abschnitt Mitteleuropa mindestens 35 Divisionen - sofern er nämlich die Bundesrepublik nahe der Zonengrenze und nicht erst zwischen Weser und Rhein verteidigen soll.

Die neue Führungsvorschrift der Bundeswehr, die TF (Truppenführung) 62, schreibt für die Verteidigung im Atomkampf je Division eine Abschnittsbreite von 25 Kilometern und für die Verteidigung ohne Atomwaffen Divisionsbreiten von zwölf Kilometern vor. General Speidel hingegen muß bei seinen heute vorhandenen Kräften der einzelnen Division im mitteleuropäischen Abwehrraum eine Abschnittsbreite von mehr als 30 Kilometern zumuten.

Unter diesen Bedingungen kann schon ein einziger Durchbruch des Angreifers die ganze Front in der Mitte Europas aus den Angeln heben. Der sowjetische Generalstab rechnet unter solchen Auspizien, wie seine Kriegsspiele beweisen, konsequenterweise damit, in sieben Tagen am Rhein zu sein.

Das neue Nato-Konzept »Vorwärtsverteidigung« soll diese Rechnung durchkreuzen: Zusätzlich zu den voll aufzufüllenden Plan-Divisionen überwachen bewegliche »Deckungsbrigaden« die Grenzabschnitte in der besonders gefährdeten Norddeutschen Tiefebene. Ihr taktischer Auftrag schließt ein, kleinere Vorstöße auszubügeln und bei kompakten Angriffen den operativen Verbänden genügend Zeit für den Aufmarsch zu verschaffen.

Der Zeitgewinn ist schon deshalb vonnöten, weil die mobilen Nato-Divisionen in der Bundesrepublik wegen des Kasernenmangels und der geographischen Enge des westdeutschen Territoriums vielfach so stationiert (disloziert) sind, daß sich ihr Aufmarsch in riskanten Kreuz- und Querbewegungen zur Front vollziehen muß.

An natürlich stärkeren Grenzabschnitten wie dem Bayrischen Wald sollen außerdem Minenfelder sperren, damit aktive Verbände wie die US-Regimentskampfgruppen frei werden.

Im Verein mit solchen Vorhuten und Grenzwächtern sollen die Nato-Divisionen auch einem größeren Angriff, den die Sowjets rein konventionell führen, ohne Atomfeuer standhalten und den Gegner zu einer »Pause« nötigen können. Die »Pause«, in der die Diplomaten handeln, erzwingt äußerstenfalls ein einmaliger, je nach Angriffswucht dosierter Atomschlag.

Erst wenn dieser »selective strike« (ausgewählter Schlag) nicht den gewünschten Effekt hat, schlägt die »Stunde der Vergeltung«.

Die neuen Nato-Forderungen für diese atomar rückversicherte »Vorwärtsverteidigung« stehen im vierten Entwurf zur Plandirektive MC 96 zu lesen. Ihre Laufzeit erstreckt sich auf die Jahre 1964 bis 1970; über den Leistungsanteil während der ersten drei Jahre dieser Frist will der Atlantikrat im Dezember verbindlich befinden.

Die neue Direktive, die von allen Nato-Regierungen für den konventionellen Kräftezuwachs mehr Geld und Soldaten fordert, stellt an Organisationsstruktur und Stärke des deutschen Bundesheeres folgende Ansprüche:

▷ Zusätzlich zu den zwölf geplanten Divisionen vier mechanisierte Deckungsbrigaden mit verstärkten Aufklärungs- und Pionier-Bataillonen;

▷ Ausbau der Luftlandedivision (bisher nur zwei schwache Brigaden), so daß sie als Panzergrenadierdivision verwendbar ist:

▷ eine Ist-Stärke aller mobilen Verbände von über 100 Prozent, damit sie in wenigen Stunden auch ohne Kommandierte, Urlauber und Kranke kampfbereit sind.

Erst nachdem Verteidigungsminister Strauß dieses Programm, wenn auch unter Vorbehalt, in Bausch und Bogen gebilligt hatte, ließ er die Detailposten durchrechnen. Die Führungsstäbe der Bundeswehr und des Heeres gingen mit Rechenschiebern und Stärkenachweistabellen an die Arbeit.

Resultat: Die Präsenzstärke der Bundeswehr - heute 375 000 Mann - würde von den ursprünglich geplanten, längst noch nicht erreichten 500 000 Mann auf 750 000 Mann klettern müssen, wenn alle Nato-Forderungen und alle nationalen Wünsche der Teilstreitkräfte einschließlich einer Personalreserve für die von Strauß ersehnten Mittelstreckenraketen erfüllt würden. Dies wären mehr Soldaten als vor der Mobilmachung im Jahre 1939.

Mit dieser Mammutzahl operierte der Verteidigungsminister später, als er die Amerikaner wegen ihrer Planungen öffentlich angriff, obwohl Anforderungen in dieser Höhe weder von Washington noch von der Nato an die Bundeswehr ergangen waren.

Auch die Nato weiß, daß die Bundesrepublik in absehbarer Zeit eine derartige Streitmacht nicht aufstellen kann. Es fehlt an Soldaten. Es fehlt an Geld.

Die von Anfang an kritische Personallage macht den Bundeswehr-Organisatoren ohnehin am meisten Kopfzerbrechen. Der Nachwuchs für Offiziers- und Unteroffizierskorps reicht nicht aus. Die Planstellen in manchen Kompanien sind nur zur Hälfte besetzt, zumal Offiziere und Unteroffiziere zu Ausbildungszwecken einen Lehrgang nach dem anderen zu absolvieren haben.

Eine überschlägige Rechnung der Finanzexperten des Verteidigungs- und des Finanzministeriums ergab zudem, daß eine 750000 Mann-Bundeswehr zusammen mit Straußens speziellen Raketenwünschen jährlich rund 30 Milliarden Mark verschlingen würde, von denen drei bis vier Milliarden allein für den deutschen Anteil an einer europäischen Atommacht draufgingen.

Bundesfinanzminister Starke aber hat dem Verteidigungsminister für die komplette Bundeswehr in der Zukunft ein Maximum von 20 Milliarden Mark (1962: 15 Milliarden, 1963: 18 Milliarden) pro Jahr zugestanden.

Die Führungsstäbe der Wehrmachtteile legten daraufhin zwei realistischere Rechenergebnisse vor:

▷ Eine Bundeswehr von 580 000 Mann; Finanzbedarf einschließlich Kosten für die Raketen: 23 Milliarden Mark, ohne Raketen: 20 Milliarden Mark;

▷ eine Bundeswehr von 500 000 Mann; Finanzbedarf einschließlich der Raketenkosten: 20 Milliarden Mark.

Für die erste Lösung setzte sich vor allem der Führungsstab des Heeres ein: Mit 580 000 Mann könnte die Bundesrepublik, selbst eingerechnet eine Personalreserve von 20 000 Mann für eventuelle Raketentruppen, auch finanziell den Nato-Forderungen gerecht werden, wenn man überflüssiges Beiwerk, wie teure Starfighter und Zerstörer, verringere.

Strauß verwarf diesen Vorschlag: »Eine Atombombe ist so viel wert wie eine Brigade und außerdem viel billiger. Wir können uns keine Einschränkung unseres Lebensstandards und unseres Exports erlauben. Wir wollen auch nicht auf unseren Raketenanspruch verzichten.«

In seiner »Stellungnahme« zur Athener Nato-Konferenz im Mai dieses Jahres hatte Strauß geschrieben: »Ich habe nicht umsonst in Athen davor gewarnt, die deutschen Möglichkeiten auf diesem (konventionellen) Gebiet zu überschätzen. Wir haben unseren konventionellen Beitrag geleistet ... Wenn eine Verstärkung der konventionellen Waffen verlangt wird, dann kann sie nicht mehr von uns geleistet werden.«

Der Bonner Verteidigungsminister will seine Etatmittel lieber in atomarer Feuerkraft als in herkömmlichen Brigaden anlegen, obwohl im Rahmen der 500 000 Mann die dringenden Wünsche der Nato-Führung nach mehr M(mobilisation)-Tag-Verbänden nicht erfüllt werden können.

Als M-Tag-Verbände gelten Einheiten, die ohne personelle oder materielle Ergänzung in Minuten (Luftwaffe, Raketentruppen, Radar-Einheiten) oder Stunden (Land- und Seestreitkräfte) »combatready«, kampfbereit, sind. Der Verlauf von »Fallex 62« hat bewiesen, daß die Zahl dieser M-Tag-Verbände groß. sein muß, weil Reserveverbände nicht mehr rechtzeitig gebildet werden können.

Der deutsche Verteidigungsminister dachte daran, der Nato mit einem Taschenspielerkunststück entgegenzukommen. Er wollte den Mangel an Soldaten mit einem atomaren Kleinstkampfmittel ausgleichen, mit dem Atom-Granatwerfer Davy Crockett.

Strauß ließ sich dabei auch nicht durch Berichte seiner Offiziere aus Washington stören. Im amerikanischen Heeres-Generalstab hatte man auf die Frage, ob Davy Crockett die herkömmliche Artillerie ersetzen könne, lakonisch geantwortet: »Auf keinen Fall!«

Trotzdem beauftragte Strauß seinen Führungsstab, sich Gedanken über eine neue Truppengliederung zu machen. Wenn jedes Grenadier-Bataillon einen Atom-Granatwerfer erhielte, könnte die Divisions-Artillerie wegfallen und könnten auch die Bataillone zahlenmäßig verkleinert werden. Auf diese Weise wäre es möglich, den Forderungen des atlantischen Oberkommandos nach einer höheren Bereitschaftsstärke gerecht zu werden.

Strauß selber umschrieb die Vorzüge einer Ausrüstung mit Davy Crockett: »Es gibt eine amerikanische Gefechtsfeld-Atomwaffe von ganz kurzer Reichweite und von begrenzter Wirkung. Ein einziger Schuß einer solchen Waffe ist gleichbedeutend mit etwa 40 oder 50 Salven einer gesamten Divisions-Artillerie.«

Prompt wies Washington die Bonner Umrüstungsideen zurück. Damit würden die deutschen Divisionen vollends die Fähigkeit verlieren, konventionell zu kämpfen.

Die Reorganisationspläne des Ministers stießen auch in der Bundeswehr auf Widerstand. Nur im Stab des Generalinspekteurs Foertsch und in seinem persönlichen Stab fand Strauß Parteigänger.

Militärjournalist Adelbert Weinstein, stets amtlich mit Sorgfalt eingewiesen, verriet in der FAZ: »In der Bundeswehr selbst fände ein Nachfolger (des Ministers Strauß) keineswegs nur moderne Offiziere vor. Neben General Heusinger und dem Generalinspekteur Foertsch vertreten nur wenige ... die Militärpolitik von Strauß rückhaltlos.«

Die Bonner Frontlinie, die Strauß-Adept Weinstein umriß, verläuft, grob markiert, zwischen den Führungsstäblern der Bundeswehr einerseits und denen das Heeres andererseits. Der Streit trägt die Züge des historischen Dialogs zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und dem Oberkommando des Heeres (OKH) zu Hitlers Zeiten.

Damals nahm das OKW, von Hitler gefangen und begünstigt, dem OKH mehr und mehr Macht weg. Heute rezipiert der Bundeswehr-Stab, im Sog der ähnlich roulettartig rotierenden Intelligenz des Verteidigungsministers, vorbehaltlos dessen Militärpolitik und verficht sie mit Straußscher Verve.

Des Ministers robuster Presseoberst Schmückle zog im Stuttgarter Wochenblatt »Christ und Welt« gegen die amerikanischen Theoretiker der neuen Nato-Strategie zu Felde: »Mit ihrer heimlichen Gier nach Krieg werden diese Autoren die Beute der seltsamsten Einbildungen ... Sie verharmlosen das neue Kriegsbild in Europa und legen ihm die gefälschte Patina vom konventionellen Waffengang auf.«

Den Kameraden im Bundesheer kreidete Schmückle an: »Unterstützt werden die (amerikanischen) Philosophen von Militärs, die die Aufgabe der Heere im Atomzeitalter mit aller Gewalt nicht begreifen können und deren verhärtetes Gedächtnis immer noch damit beschäftigt ist, Panzer- und Kesselschlachten im Stil des Zweiten Weltkrieges zu schlagen ... Ach, diese heftigen Träume der Männer auf alten Lorbeeren!«

Nächtelang diskutierte man in den Kasinos der Kriegsschulen und der Feldbataillone. Oberstleutnant Graf Bernstorff, Taktiklehrer an der Heeres-Offiziersschule in Hamburg, bat den Heeres-Inspekteur Zerbel, gegen Schmückle Front zu machen. Aber Straußens Presseoberst ist unantastbar. Und Graf Bernstorff quittierte den Dienst.

Oberst Karst, Fachmann für »Erziehung« der Bonner Ermekeilkaserne, schickte der Zeitung »Christ und Welt« eine Replik auf Schmückles Pamphlet; Hauptpunkt der Kritik: Schmückles Ton sei ungehörig. Die Redaktion des Blattes lehnte die Aufnahme ab.

Karst überreichte seinen Artikel den Inspekteuren von Heer, Luftwaffe, Marine und auch dem Generalinspekteur Foertsch, der sich während seiner Dienstzeit bei der Nato gegen die Bevorzugung von Atomwaffen gewandt hatte.

Allein, Bundeswehr-Generalinspekteur Foertsch hatte seine Überzeugungen gewechselt. Im Nato-Oberkommando hatte Foertsch bei präziser Generalstabsarbeit erkannt, daß die konventionell fundamentierte »Vorwärtsverteidigung« mehr Sicherheit gewährt als der unglaubwürdige Atomschreck, nicht zuletzt für die Bundesrepublik.

Seit dem 1. April vergangenen Jahres Generalinspekteur der Bundeswehr, konnte Friedrich Foertsch der vehementen Zungenfertigkeit seines Oberbefehlshabers schon bald nicht mehr widerstreben.

Unverdrossen suchte Franz-Josef Strauß Anfang Juni dieses Jahres in Washington den amerikanischen Verteidigungsminister McNamara zu bewegen, sich mit 500 000 deutschen Soldaten zufriedenzugeben. Aber der Amerikaner hatte längst herausgefunden, daß die Deutschen damit nicht die von der Nato verlangten Divisionen und Brigaden in voller Kriegsstärke würden aufstellen können. Der Amerikaner war verärgert.

Strauß bot als Ausgleich »some other elements« an, nämlich Grenzsicherungsverbände, die aus einem aktiven Stamm bestehen und im Ernstfall durch Reservisten aufgefüllt werden. McNamara hielt dagegen, solche Verbände seien nur ein Behelf.

Sechs Wochen später berief US-Präsident Kennedy seinen militärischen Berater, General Taylor, zum amerikanischen Wehrmacht-Generalstabschef und gab die Ablösung General Norstads bekannt. General Taylor hatte 1959 als Stabschef der US-Armee seinen Hut genommen - ein in der Bundeswehr wie in der Hitler-Wehrmacht nicht vorstellbares Ereignis -, weil er seine »Strategie der flexiblen Reaktion« gegen die offizielle Doktrin der »massiven (Atom-)Vergeltung« in der republikanischen Eisenhower-Ära nicht durchsetzen konnte. Und zu eben jener Zeit hatte der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber Norstad Verständnis für den Drang der Europäer zur autonomen Nato-Atommacht gezeigt. Der neue demokratische US-Präsident Kennedy wies Norstad zurecht: »Bedenken Sie, daß Sie Amerikaner sind.«

Als Kennedy mit der Berufung Taylors zum Generalstabschef zugleich die Ablösung Norstads vom Nato-Oberbefehl verfügte, schlug Bonns Verteidigungsminister Strauß Alarm. Der Personenwechsel war ihm willkommener Anlaß, gegen die neuen Nato-Forderungen, die schon neun Monate vorher erhoben worden waren, vor aller Welt zu demonstrieren und sich sein Veto von der deutschen Öffentlichkeit bestätigen zu lassen.

Ungeachtet der Warnungen des Bundesaußenministers Schröder, des Außenamt-Staatssekretärs Carstens und sogar des mit Carstens befreundeten Bundeswehr-Stabschefs Schnez, der bis dahin ein treuer Parteigänger des Ministers gewesen war, die Beziehungen zu Washington nicht zu strapazieren, veranstaltete der Minister eine Kampagne gegen die Militärpolitik der Kennedy-Administration.

In einem Interview mit Weinstein erklärte Strauß: Die Divisionen des Westens könnten nur durch taktische Atomwaffen (vom Typ Davy Crockett) »aufgewertet« werden. Mit den modernen Waffen beginne die Abschreckung in der vordersten Linie. Dagegen Amerikas Verteidigungsminister McNamara: »Wir müssen Situationen begegnen können, in denen ein atomarer Gegenschlag entweder ungeeignet oder ganz einfach unglaubwürdig ist.«

Strauß widersprach weiter der amerikanischen Auffassung, daß auch die kleinste Atomwaffe in der westlichen Abwehrfront am Eisernen Vorhang schon den großen Weltkrieg auslösen könne. Er ließ durchblicken, daß er es bedaure, nicht wie de Gaulle handeln zu können, der »in der Praxis die amerikanischen Vorstellungen einfach ignoriere«.

McNamara hatte gesagt, in bestimmten Lagen könnten allein konventionelle Divisionen den Krieg verhüten. Strauß fand dieses Urteil »anfechtbar« - zumal in Westeuropa dazu nicht 30, sondern 60 bis 100 Divisionen gehörten, die man sich nicht leisten könne.

Laut McNamara bekämpfen die großen Atomwaffen im großen Krieg vorzugsweise militärische Ziele. Nach Strauß widerspricht das »dem Wesen der Atombombe, die eine politische Waffe ist, mit der man die Angst vor der Bombardierung der Bevölkerung steigern kann«.

Straußens Demagogie empörte die Amerikaner; die deutschen Heeresgenerale erschreckte sie. Die Behauptung des Bonner Verteidigungsministers, in Westeuropa seien 60 bis 100 Divisionen für die Abschreckung vonnöten, fand bei den Militärs kein Verständnis.

Sowohl die Generale Heusinger und Speidel als auch Foertschens Amtsnachfolger im Nato-Stab, Generalmajor Mueller-Hillebrandt, halten übereinstimmend 40 Divisionen für hinreichend, wenn diese Verbände ständig kampfbereit sind. Das Geld dafür ist da, sofern Europa einschließlich der Bundesrepublik auf kostspielige Raketenprotzerei verzichtet.

Um einen solchen Verzicht plausibel zu machen und die Angst der Europäer vor den russischen Raketen auszuräumen, hatte McNamara erklärt: »Die Vereinigten Staaten machen sich ebenso viele Sorgen wegen des Teils der sowjetischen Atomschlagkraft, der Westeuropa erreichen kann, wie wegen des Teils, der auch die Vereinigten Staaten erreichen kann. Wir haben die atomare Verteidigung der Nato auf eine globale Basis abgestellt.« Der amerikanische Minister setzt sich für eine Arbeitsteilung im westlichen Bündnis ein, durch die Geld gespart werden soll.

Trotzdem besteht Strauß auf seinen Raketen und entschied entgegen den Forderungen der Nato: 500 000 Mann sind genug.

Am 17. Juli meldete sich Franz-Josef Strauß, von Generalinspekteur Friedrich Foertsch begleitet, bei Kanzler Konrad Adenauer im Palais Schaumburg. Strauß holte Adenauers Zustimmung zu diesen neuen Planzahlen ein.

Die Zahlenspiele des Verteidigungsministers, vor allem aber dessen Anerbieten, den Bundeghaushalt zu schonen, verfingen beim Kanzler. General Foertsch sekundierte dem Minister mit strategischem Fachkunstwerk. Adenauer revanchierte sich mit dem Rat, die fehlenden Brigaden ganz einfach durch »Fähnchen auf der Landkarte« zu ersetzen; ob diese Brigaden erst 1966 oder 1967 bereitstünden, sei doch nicht so wichtig. Aber man müsse der Nato gegenüber wenigstens den Schein wahren.

Oberbefehlshaber Strauß und sein Generalinspekteur marschierten zufrieden ab. Das Ergebnis von »Fallex 62« lag noch nicht vor. Es besagt: Mit Raketen an Stelle von Brigaden und mit Atom-Granatwerfern an Stelle von Soldaten ist eine Vorwärtsverteidigung der Bundeswehr nicht möglich, eine wirksame Abschreckung bleibt fraglich.

* Beim Kriegsspiel kämpfen zwei Parteien, Blau und Rot, auf der Karte gegeneinander. Der Leitende, der das Spiel anlegt, fixiert die Ausgangslagen für beide Parteien, deren Führer alsdann frei operieren: der Führer Blau mit den eigenen Kräften, der Führer Rot mit denen des angenommenen Gegners. Bei einer Planübung wie »Fallex 62°° spielt nur die eigene Seite, während die Operationen des Gegners von der Leitung eingesetzt werden. Kriegsspiel und Planübung sind Lehr- und Erkenntnismittel der militärischen Führung. Sie dienen der Ausbildung und der Überprüfung der operativen, personellen und materiellen Erfordernisse des Kriegsplans. ** Admiral Radford amtierte von 1953 bis 1957 als amerikanischer Wehrmacht-Generalstabschef. *** Die taktischen Atomwaffen der Nato-Truppen umfassen folgende Kurzstreckenraketen: Lacrosse (Reichweite: 32 Kilometer), Honest John (40 Kilometer), Sergeant (150 Kilometer), Corporal (140 Kilometer) und Redstone (400 Kilometer); die Mehrzweck-Kanone 17,5 Zentimeter (bis 50 Kilometer) und -Haubitze 20,3 Zentimeter (bis 23 Kilometer), die Flugkörper Matador (750 Kilometer) und Mace (1200 Kilometer), die Fla-Rakete Nike Hercules (50 Kilometer Höhe) sowie den Atom-Granatwerfer Davy Crockett (bis 10 Kilometer). **** Neben den fünf Jabogeschwadern zu je 50 Maschinen verfügt die Luftwaffe noch über zwei Jagd- und je ein Aufklärungs- und Transportgeschwader. Insgesamt hat sie 600 Einsatzmaschinen. ***** Die Hiroshima-Bombe der Amerikaner im Sommer 1945 hatte eine Sprengwirkung von 20 000 Tonnen (20 Kilotonnen = KT) herkömmlichen Sprengstoffs. Diese Wirkung gehört heute zum unteren Bereich.

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