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„Was die CDU vorschlägt, ist schlicht verfassungswidrig“

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Beim Bürgergeld hält Ulrich Schneider einen Regelsatz von 813 Euro für angemessen.
Beim Bürgergeld hält Ulrich Schneider einen Regelsatz von 813 Euro für angemessen. © christoph boeckheler

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband über das Bürgergeld und eine Kindergrundsicherung, die es nicht geben wird.

Seit 25 Jahren sitzt Ulrich Schneider als Lobbyist für die Armen im Land auf Podien und in Talkshows. Ende Juli scheidet der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands aus dem Amt. Beim Redaktionsbesuch in der Frankfurter Rundschau geht er auf die aktuellen Debatten über Bürgergeld und Kindergrundsicherung ein.

Herr Schneider, knapp sechs Millionen Menschen in Deutschland haben im vergangenen Jahr Bürgergeld bezogen. Davon gelten rund vier Millionen als erwerbsfähig. Wie kann es gelingen, diese Menschen in Arbeit zu bringen?

Man muss sich die Zahlen wirklich sehr genau anschauen. Von den knapp vier Millionen Bürgergeld-Empfänger:innen im erwerbsfähigen Alter sind mehr als 500 000 Menschen im Maßnahmen, etwa in Umschulungen. 400 000 studieren oder sind in Ausbildung. 280 000 pflegen kranke Angehörige oder kümmern sich um ihre kleinen Kinder. Der größte Teil dieser Menschen sitzt also nicht untätig zu Hause rum, sondern ist sehr gut ausgelastet. Es bleiben tatsächlich nur 1,6 Millionen Menschen, die dem Arbeitsmarkt theoretisch zur Verfügung stehen. Aber man muss sich vor Augen führen, um wen es da konkret geht – und das Schlimme ist, dass Finanzminister Lindner das vermutlich auch sehr genau weiß, wenn er die Empfänger:innen und Empfänger als faul hinstellt.

Stimmt es also nicht, dass viele Menschen arbeiten könnten, aber lieber Bürgergeld nehmen?

Als arbeitsfähig gilt, wer mehr als drei Stunden am Tag arbeiten kann. Tatsache ist, dass es dabei oft um Menschen geht, die körperlich oder seelisch krank sind. Kein Arbeitgeber will Menschen einstellen, die nur drei Stunden am Tag arbeiten können oder sich ständig krank melden müssen. Es wäre wirklich besser, die Erwerbsunfähigkeitsrente auf diese Fälle auszuweiten. Es hat doch keinen Sinn, diese Menschen jahrelang in einem Hamsterrad laufen zu lassen und in Maßnahmen zu zwingen, die teils wirklich fragwürdig sind. Wie viele Bewerbungstrainings soll jemand denn absolvieren?

Also sollte man einfach den Versuch aufgeben, diesen Menschen eine Arbeit zu vermitteln?

Aus der Praxis wissen wir: Diese Leute haben oft Probleme, die ihnen jede Energie rauben. Überschuldung, seelische Probleme, Ängste. Da braucht es mehr als ein Jobangebot. Es bräuchte sehr viel soziale Arbeit, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Viele dieser Betroffenen blühen seelisch auf, wenn der Staat irgendwann akzeptiert, dass sie wirklich nicht arbeiten können, und ihnen Erwerbsunfähigkeitsrente zugesteht.

Die Unionsparteien beklagen Fehlanreize beim Bürgergeld. Es lohne sich für viele Menschen nicht zu arbeiten. Stimmt das?

Es gibt über 800 000 Bürgergeldbezieher:innen, die arbeiten gehen – also nur mit Bürgergeld aufstocken. Oft tun sie das zu Gehältern, von denen außerordentlich gut bezahlte Politiker:innen gelegentlich behaupten: „Dafür steht niemand auf.“ Sie tun es aber. Darunter sind viele Alleinerziehende. Die Hälfte dieser 800 000 ist sozialversichungspflichtig beschäftigt, die andere Hälfte arbeitet als Minijobber und darf kaum etwas von dem Geld behalten, 180 Euro von 500 Euro. Aber dafür arbeiten Leute. 180 Euro sind eine ganze Menge Geld für Menschen, die sonst nur Bürgergeld haben. Sie wollen aber auch aus sozialen Gründen arbeiten, weil es eine Frage des gesellschaftlichen Status ist. Es ist hoch diffamierend, dass ein Markus Söder oder Christian Lindner solche Menschen als faul hinstellen.

Dennoch kann man sich durchaus fragen, ob das Lohnabstands-Gebot immer gewahrt ist…

Das erste Jahr, in dem man Bürgergeld empfängt, muss man gesondert betrachten, denn da übernimmt der Staat auch außergewöhnlich hohe Wohnkosten. Das ist auch richtig so, damit nicht durch eine kurze Krise die ganze Familie zum Umzug gezwungen wird. Aber danach kann man klar sagen: Wenn man erwerbsfähig ist, hat man immer mehr als ein Bürgergeld-Empfänger. Das wurde in verschiedenen Untersuchungen belegt, je nach Studie ist von 400 bis 800 Euro mehr die Rede. Wobei dort beispielsweise noch nicht eingerechnet ist, dass Niedriglohnempfänger:innen auch Wohngeld beantragen können, dann wäre die Differenz noch größer.

Die Mieten sind vor allem in den Städten inzwischen immens hoch. Wird dadurch das Bürgergeld attraktiv– da der Staat eben zusätzlich die Miete übernimmt?

Die Kommunen zahlen nur bis zu Höchstgrenzen, je nach kommunaler Satzung. Ein Drittel der Haushalte, die Bürgergeld empfangen, muss aus dem Regelsatz Teile ihrer Miete selbst bezahlen. Dabei ist der Regelsatz eigentlich für den täglichen Bedarf notwendig.

Zur Person

Ulrich Schneider (65) amtiert seit 25 Jahren als Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Zum 31. Juli scheidet der promovierte Erziehungswissenschaftler aus dem Amt, das der bisherige Abteilungsleiter Joachim Rock übernehmen soll. Ende Juni erscheint Schneiders neues Buch „Krise. Das Versagen einer Republik“. pit

Wenn die CDU an die Regierung kommt, möchte sie das Bürgergeld abschaffen und durch eine „neue Grundsicherung“ ersetzen. Sie will Totalverweigernden die Leistungen sogar komplett streichen. Was würde das bedeuten?

Das, was die CDU vorschlägt, ist schlicht verfassungswidrig. Deswegen wird das auch nie kommen. Das ist eine Riesen-Wahlkampfnummer. Das Bundesverfassungsgericht hat klare Regelungen getroffen. Man kann Menschen nicht die kompletten Leistungen streichen, ohne sich den Einzelfall anzuschauen, ob es wirklich eine vorsätzliche Verweigerung ist oder ob sonstige Umstände, etwa gesundheitliche Gründe, dafür verantwortlich sind.

Anfang 2024 wurde der Regelsatz für Alleinstehende auf 563 Euro erhöht. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hält das für zu wenig. Welchen Satz halten Sie für angemessen?

Wir halten 813 Euro – also ein Plus von 44 Prozent zu dem geltenden Betrag – für richtig. Wir haben die Berechnungsmethode genommen, die seit 2004 gilt – aber haben sie um politische Tricksereien bereinigt. Dazu gehört etwa, dass der Bedarf an Tierfutter, Schnittblumen, Alkohol und außerhäusliche Verpflegung auf Null angesetzt ist. Oder dass für die Kugel Eis nur die Materialkosten für die Herstellung zu Hause einberechnet werden – nicht aber die tatsächlichen Kosten am Kiosk. Am Ende dieser Eingriffe stand genau der Betrag von 563 Euro, der schon vorher festgelegt war. Ein Ministeriumsbeamter nannte das Ergebnis mal ein „statistisches Wunder“.

Seit Monaten streitet die Ampel über die Kindergrundsicherung. Glauben Sie, dass sie noch kommt?

Es wird keine Kindergrundsicherung geben, egal, wie die momentane Diskussion ausgeht. Tatsache ist: Das Ganze ist ein Etikettenschwindel. Es geht ja überhaupt nicht mehr darum, armen Kindern mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Es geht nur noch darum, bestehende Leistungen zusammenzuführen. Das ist eine reine Verwaltungsreform, die da geplant ist – die verdient nicht den Namen Kindergrundsicherung.

Wie hoch sollten die Regelsätze für Kinder Ihrer Meinung nach sein?

Auch hier fordern wir ein Plus von 44 Prozent.

Wie wird sich die Kinderarmut in Deutschland entwickeln?

Die letzten verfügbaren Zahlen besagen, dass drei Millionen Kinder in Deutschland arm sind. Ich gehe davon aus, dass diese Zahl steigen wird. Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen. Und die vielen Flüchtlinge aus der Ukraine, vor allem Frauen mit Kindern, sind in den bekannten Zahlen noch nicht enthalten.

Sie erwähnten, dass unter Bürgergeld-Empfänger:innen viele Alleinerziehende sind. Im letzten Paritätischen Armutsbericht heißt es, dass 43,2 Prozent der knapp drei Millionen Alleinerziehenden in Deutschland arm sind. Was müsste sich ändern?

Viele Alleinerziehende sind nicht gut qualifiziert. Es müsste ihnen dringend ermöglicht werden, eine Ausbildung zu machen, auch wenn sie ein kleines Kind haben. Dafür muss die Betreuung der Kinder sichergestellt werden. Viele Berufe, in denen Alleinerziehende arbeiten, sind zudem schlecht bezahlt oder mit Arbeitszeiten verbunden, die wiederum mit Kindererziehung kaum vereinbar sind, etwa im Supermarkt oder in der Pflege. Wir brauchen dringend einen faireren gesellschaftlichen Lastenausgleich. Es ist doch ein Fetisch, dass alles nur in die wirtschaftliche Produktion gehen soll, also etwa wenn Finanzminister Lindner und Wirtschaftsminister Habeck fordern, dass wir alle mehr arbeiten sollen. Als gäbe es nichts außer Arbeit. Es muss gesellschaftlich akzeptiert werden, dass Menschen auch unterhalb der Vollerwerbsbeschäftigung mit ihrem Gehalt über die Runden kommen müssen, wenn sie zusätzlich noch Kinder erziehen. Es darf nicht sein, dass Frauen wie Loser hingestellt werden, weil sie neben der Kindererziehung nicht voll arbeiten können.

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