Interview

Wiener Spitalsarzt: 60 Prozent unserer Intensivpatienten haben Migrationshintergrund

Portraits von Doktor Burkhard Gustorff fuer Die Presse, in Wien, 27. November 2020 Copyright: Eugénie Sophie
Portraits von Doktor Burkhard Gustorff fuer Die Presse, in Wien, 27. November 2020 Copyright: Eugénie SophieEugénie Sophie
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Menschen mit Migrationshintergrund sind in Österreich überdurchschnittlich oft von Covid-19 betroffen, sagt Intensivmediziner Burkhard Gustorff von der Klinik Ottakring. Unter anderem deshalb, weil die Regierung sie nicht erreiche. Er plädiert daher für eine zielgruppenorientierte Kommunikationsstrategie.

„Meiner Wahrnehmung nach kommen die Verordnungen der Regierung innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedlich an", sagt Burkhard Gustorff, Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin der Klinik Ottakring (ehemals Wilhelminenspital). „Im Sinne des Influencings, also des Erreichens von Menschen, sollten daher neue Ansätze verfolgt werden – neue Kommunikationsstrategien, die auf bestimmte Gesellschaftsgruppen abzielen und beispielsweise Sozialarbeiter einbeziehen." Auf diese Weise könnten mehr Menschen mit Migrationshintergrund auf die Gefahren einer Coronavirus-Infektion aufmerksam gemacht werden. Dass Migranten rund 60 Prozent der Intensivpatienten ausmachen, führt er auf zwei weitere Faktoren zurück: „Zum einen auf die Welle der Reiserückkehrer aus stark betroffenen Risikogebieten wie dem Balkan und der Türkei – Länder, in denen beispielsweise abgesagte Familienfeiern nachgeholt wurden; und zum anderen auf möglicherweise beengte Wohnverhältnisse, die eine rasche Verbreitung des Virus begünstigen.“ Burkhard Gustorff im Interview.

Sie behandeln in der Klinik Ottakring seit Monaten schwere bis lebensgefährliche Covid-19-Verläufe. Wie würden Sie den typischen Intensivpatienten beschreiben?

Burkhard Gustorff: Der typische Intensivpatient ist zwischen 50 und 70, zu 60 Prozent männlich und weist einen der bekannten Risikofaktoren auf, die zu einem schweren Verlauf dieser Krankheit beitragen können.

Und zwar?

Übergewicht, eine bestehende Nierenerkrankung oder -schwäche, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und koronare Herzerkrankungen. Was wir außerdem schon von Anfang an beobachten, ist ein verhältnismäßig hoher Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund – mit dem Problem von Sprachbarrieren im Kontakt zu ihnen.

Ich nehme nicht an, dass Sie von einem deutschen Migrationshintergrund sprechen?

Unsere Patienten stammen hauptsächlich aus den Balkanstaaten, Südpolen und der Türkei. Bei Personen aus diesen Ländern haben wir die größten sprachlichen Barrieren.

Was meinen Sie eigentlich mit „verhältnismäßig hoher Anteil“?

Im Moment sind es rund 60 Prozent.

Und zuvor?

Mit dem Beginn der zweiten großen Infektionswelle war der Anteil noch höher und hat dann wieder langsam abgenommen.

Auf die aktuellen rund 60 Prozent?

Ja.

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Wissen Sie von Ihren Kollegen aus den Bundesländern, wie sich dieser Anteil außerhalb Wiens verhält? Offizielle Zahlen gibt es ja nicht, die Herkunft der Patienten wird selbstverständlich nicht erhoben.

Erst gestern habe ich mich mit mehreren Kollegen aus den Bundesländern unterhalten. In urbaneren Gebieten wurde eine ähnliche Entwicklung wie in Wien beobachtet – also mit einem zunächst sehr hohen Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund, der mittlerweile etwas weniger geworden ist. In sehr ländlichen Regionen hingegen, beispielsweise im Burgenland und in Teilen Niederösterreichs, wurde dieses Phänomen gar nicht festgestellt.

Vielleicht, weil in diesen Regionen kaum Migranten leben?

Vermutlich, ja.

Was die 60 Prozent angeht: Wien hat bekanntermaßen einen hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, aber keinen so hohen. Worauf führen Sie also zurück, dass diese Menschen offensichtlich häufiger schwere Verläufe haben als die restliche Bevölkerung?

Auf zwei Faktoren: Zum einen auf die Welle der Reiserückkehrer aus stark betroffenen Risikogebieten wie dem Balkan und der Türkei – Länder, in denen beispielsweise abgesagte Familienfeiern nachgeholt wurden; und zum anderen auf möglicherweise beengte Wohnverhältnisse, die eine rasche Verbreitung des Virus begünstigen. In kleineren Wohnungen mit vielen Menschen ist das Ansteckungsrisiko nun einmal höher als in geräumigen Häusern mit weniger Bewohnern.

Es ist also eine Frage der Quantität. Wenn sich mehr Migranten anstecken, landen mehr in Intensivstationen. Dann müssten aber auch in gewöhnlichen Stationen mehr solcher Patienten behandelt werden, oder?

Tatsächlich erzählen mir Kollegen aus allen Krankenhäusern Wiens, dass sie auch auf Normalstationen überdurchschnittlich oft mit Sprachbarrieren konfrontiert sind.

Nun könnte man sagen, dass im Sommer ja auch autochthone Österreicher im Ausland Urlaub gemacht haben, aber wahrscheinlich eher in Ländern wie Italien und Spanien, die nicht zu den Risikogebieten gehörten . . .

Genau, viele unserer intensivpflichtigen Patienten hatten Kontakt zu Personen aus Ländern, die eindeutig als Risikogebiete eingestuft wurden, Balkan-staaten etwa.

Weil Sie vorhin die Risikofaktoren erwähnten. Sind die meisten dieser Patienten übergewichtig bzw. hatten andere Zivilisationskrankheiten?

Uns hat überrascht, dass die Raucherlunge, die ja als DIE typische Zivilisationskrankheit gilt, kein allzu großer Risikofaktor sein dürfte. Übergewicht, Bluthochdruck und Nierenerkrankungen sind viel bedeutendere Faktoren. Das Heimtückische an Nierenerkrankungen ist, dass viele Patienten nichts davon wissen. Diabetes zum Beispiel kann im Laufe der Jahre zu einem schleichenden Nierenschaden führen, was einen besonders gefährlichen Risikofaktor darstellt, wenn man sich mit Sars-CoV-2 ansteckt. Ob nun Menschen mit Migrationshintergrund häufiger davon betroffen sind, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Diabetologen zufolge gibt es in Österreich aber ein eindeutiges Ost-West-Gefälle hinsichtlich des Gesundheitszustands der Bevölkerung. Im Osten leben viel mehr Menschen mit Übergewicht, das reicht bis ins Burgenland. Salopp gesagt: Tiroler und Vorarlberger wandern mehr und sind dadurch fitter als Wiener und Burgenländer. Und natürlich ist in einem Ballungsraum wie Wien die absolute Zahl an übergewichtigen und vorerkrankten Menschen höher, sodass sich diese Zahl auch in den Intensivstationen bemerkbar macht.

Die meisten Ihrer Intensivpatienten sind also stark übergewichtig?

Ein großer Teil, aber nicht alle. Wir hatten auch schon einen sportlichen 40-Jährigen. Und erstaunlich viele Schwangere. Frauen zwischen 20 und 30, die kerngesund sind, können lebensgefährlich erkranken.

Warum? Was ist bei ihnen der Risikofaktor, die Schwangerschaft?

Nein, es braucht nicht immer einen Risikofaktor. Dieses Virus macht auch aus gesunden Menschen schwer kranke. Schwangere waren nur ein Beispiel dafür, dass es alle treffen kann.

Was ist mit den anderen 40 Prozent, die auf Ihrer Intensivstation liegen? Aus welchen Schichten kommen diese Patienten?

Sie repräsentieren den Querschnitt der Bevölkerung in der jeweiligen Region.

Für Wien bedeutet das was?

Dass wir Patienten mit einem hohen sozioökonomischen Status sehr selten sehen. Einmal hatten wir einen 76-jährigen Patienten ohne Vorerkrankungen, der Tennis und Golf spielt sowie Mountainbike fährt. Solche Patienten stellen die absolute Ausnahme dar.

Weil ihre Allgemeinverfassung zumeist sehr gut ist?

Ich glaube, dass sie zum einen gesundheitsbewusst leben, also Abstand halten und Kontakte reduzieren; und zum anderen über eine gewisse körperliche Fitness verfügen, die sie vor schweren Verläufen schützt.

Decken sich all diese Beobachtungen auch mit jenen in anderen europäischen Ländern? Haben Sie Informationen darüber?

Ja, sie decken sich mit Beobachtungen aus anderen Ländern. In Südfrankreich beispielsweise weiß ich von einem Freund, der die Intensivstation eines Krankenhauses leitet, dass auch dort der Anteil an ärmeren Menschen, die in prekären Bedingungen wie etwa beengten Wohnungen leben, sehr hoch ist.

Das war jetzt eine recht gründliche Bestandsaufnahme. Aber was kann man gegen dieses Phänomen tun? Haben Sie einen Vorschlag?

Meiner Wahrnehmung nach kommen die Verordnungen der Regierung innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedlich an. Im Sinne des Influencings, also des Erreichens von Menschen, sollten daher neue Ansätze verfolgt werden – neue Kommunikationsstrategien, die auf bestimmte Gesellschaftsgruppen abzielen und beispielsweise Sozialarbeiter einbeziehen. Sonst wird ein wichtiger Teil der Bevölkerung nicht erreicht und verfügt nicht über alle Informationen bzw. versteht die Bedeutung dieser Informationen nicht in vollem Ausmaß. In einer umfassenderen Kommunikation, die auch ungewöhnliche Wege geht, sehe ich eine große Chance, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Und auf seine Gesundheit zu achten, kann in Zeiten wie diesen auch nicht schaden, oder?

Natürlich ist ein gesunder Lebensstil von Vorteil, er schützt aber nicht vor einer Ansteckung und vor Covid-19.

Aber vielleicht vor einem schweren Verlauf...

Ja, das vielleicht schon. Grundsätzlich lautet mein Ratschlag, Kontakte im privaten Bereich nach Möglichkeit zu reduzieren – nicht nur die Zahl der Kontaktpersonen, sondern auch den engen körperlichen Kontakt. Denn entscheidend für die Schwere des Krankheitsverlaufs ist auch die Menge an Viren, die man bei der Ansteckung abbekommt. Ich umarme und küsse unsere erwachsene Tochter seit März nicht mehr. Das fällt mir sehr schwer, schützt sie und mich aber im Fall einer Ansteckung vor einer hohen Virusmenge.

In Ischgl sind viele Menschen, die sich in Après-Ski-Bars angesteckt haben, deswegen so schwer erkrankt, weil sie eine hohe Viruslast abbekamen. In diesen Bars muss man einander ja anschreien, um sich zu unterhalten.

Auch damals in Oberitalien. Unter den schwer Erkrankten und Toten waren viele Anästhesisten, die bei der Beatmung den Patienten sehr nahekamen, ohne sich ausreichend mit Masken zu schützen.

Überleben eigentlich die meisten Ihrer Patienten?

Da sprechen Sie einen sehr wichtigen Punkt an. Ja, fast alle überleben und werden auch wieder gesund. Über Langzeitfolgen können wir natürlich nichts sagen, weil dafür mehrere Monate vergehen müssen. Was ich aber sagen kann: Die Intensivmedizin in Österreich ist exzellent, darauf können wir uns verlassen. Zu den, wenn man so will, guten Nachrichten der Krise gehört, dass unser Fach vor den Vorhang geholt wurde. Kaum jemand wusste, was genau Intensivmediziner machen, das hat sich fundamental geändert. Als im Frühjahr die ersten Patienten eintrafen, habe ich meinem Team gesagt: Den Umgang mit Lungenversagen beherrschen wir. Daher machen wir nichts anders als vorher. Wir können das. Und das kann ruhig einmal laut gesagt werden.

Kommen wir zu einer Frage, die derzeit alle interessiert. Wird es in Österreich zu einer Überlastung der Intensivstationen kommen?

Die Situation in den vergangenen Wochen war extrem angespannt, aber seit dem Wochenende glaube ich erstmals, dass wir mit den erweiterten Versorgungskapazitäten ganz knapp das Auslangen finden werden.

Zur Person

Klinik Ottakring: Burkhard Gustorff ist Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin der Klinik Ottakring (vormals Wilhelminenspital der Stadt Wien).

Fachgesellschaft: Zudem ist er im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).

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