Hitlers Terrorist – Seite 1

Am 9. Januar 1935 bekommt Alfred Naujocks einen besonderen Befehl, ein Spezialkommando. Der SS-Untersturmführer eilt auf ein Büro zu, in dem einer der mächtigsten Männer des Dritten Reiches sitzt. Naujocks weiß, dass sein Vorgesetzter, Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes der SS, nicht gern wartet. 

Als er den Raum betritt, reicht ihm Heydrich nur wortlos ein Foto. Es zeigt einen jungen Mann, mit offenem, freundlichem Gesicht. "Das ist Rudolf Formis", sagt der SD-Chef. "Er ist untergetaucht und strahlt Rundfunksendungen gegen den Nationalsozialismus aus. Bringen sie Formis nach Berlin. Lebend!"

Spezialisten des Sicherheitsdiensts haben den Standort von Formis' Sender per Funkpeilung geortet, 60 Kilometer südwestlich von Prag. Naujocks fährt mit dem Auto in die Tschechoslowakei. Zur Tarnung begleitet ihn eine Freundin. Sie geben sich als Ehepaar aus. Im Hotel Zahori im Ort Dobris entdeckt er den Sender und besorgte sich einen Schlüssel für Formis Zimmer. "Gefunden", telegrafiert er nach Berlin. Dann reiste er per Flugzeug von Prag nach Berlin zurück, um Verstärkung zu holen.

Naujocks lebte unbehelligt auf St. Pauli

Der Plan für die Mission ist schlicht: Naujocks und ein weiterer SD-Mann sollen in das Zimmer des Funkers eindringen, Formis mit Chloroform betäuben und nach Berlin entführen. In der Nacht zum 23. Januar schlagen Naujock und sein Kollege zu. Doch Formis ist kein so leichtes Opfer wie erhofft. Er wehrt sich, feuert mit einer Pistole auf die Angreifer. Er trifft Naujocks und verwundet den SS-Offizier. Die SD-Männer schießen zurück und töten Formis. Bevor sie fliehen, zerstören sie die Sendeanlage.

Der Mord an Formis ist nur eines von vielen Verbrechen, die Alfred Naujocks während seiner Jahre bei dem Geheimdienst der SS beging und für die er in Deutschland nie belangt wurde.

Nach dem Krieg lebte Naujocks in Hamburg auf St. Pauli. Wie so viele Naziverbrecher baut er sich eine neue Existenz auf. Er arbeitete als erfolgreicher und angesehener Geschäftsmann. Trotz seiner aktenkundigen Verbrechen musste sich Naujocks nicht verstecken. Er sprach mit Journalisten über seine Zeit bei der SS und war sogar bereit, an einer Schule einen Vortrag halten. Die Schulbehörde verhinderte seinen Auftritt vorher gerade noch.

Seine Taten allerdings stellte er stets in einem mildem Licht dar: "Ich war ein Nachrichtenmann, jenseits von Gut und Böse." Eine harmlose Umschreibung für jemanden, der mindestens an drei Morden direkt beteiligt war, der feindliche Agenten entführte und Anschläge plante.

Alfred Helmut Naujocks kam 1911 in Kiel zur Welt. Dort ging er zur Schule und begann Maschinenbau zu studieren. Mit 20 Jahren trat er in die SS ein und beteiligte sich an den Straßenkämpfen in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Selbst unter seinen eigenen Leuten galt er bald als skrupellos und brutal. Die politischen Gegner fürchteten ihn. So machte er sich schnell einen Namen innerhalb der NSDAP. Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler 1933 machte er rasch Karriere im Geheimdienst von Heinrich Himmler, dem Sicherheitsdienst (SD) der SS.

Zunächst wurde Naujocks als Fahrer eingesetzt. Doch schon bald entdeckten seine Vorgesetzen Naujocks Talente für geheime Kommandos. Aus dem ehemaligen Studenten wurde ein Terrorist im Staatsauftrag.

Seine Anschläge erlangten in der SS einen legendären Ruf

Nach dem Mord an Formis wurde Naujocks befördert, stieg bis zum Sturmbannführer auf, was dem Rang eines Majors bei der Wehrmacht entsprach. 1939 übernahm er das Amt VI J des SD. Naujocks verantwortete damit den nachrichtentechnischen Einsatz im Ausland. Seine Männer stellten für Hitlers Spione unter anderem gefälschte Pässe und Banknoten bereit.

Im selben Jahr war Naujocks an der Entführung von zwei britischen Agenten aus den Niederlanden beteiligt, die nach Deutschland verschleppt wurden. Bei der Aktion erschossen SS-Männer einen niederländischen Geheimdienstmitarbeiter. Ein weiterer Mord, für den Naujocks sich nie vor einem Gericht rechtfertigen musste.

Alfred Naujocks war kein führender Nazi, kein Vordenker der SS wie Reinhard Heydrich, kein Organisator des Staatsterrors wie Werner Best. Er war einer der Verbrecher im Dienste des Dritten Reichs, der die Drecksarbeit erledigte. So organisierte er den Scheinüberfall von SS-Männern und Helfershelfern auf den Sender Gleiwitz im August 1939. Dieser Angriff, der polnischen Aufständischen zugeschrieben wurde, lieferte dem Hitler-Regime einen der Gründe, den sie für den deutschen Einmarsch in Polen brauchten.

Geldfälscher in der Operation Bernhard

"Der Mann, der den Zweiten Weltkrieg auslöste", nannten ihn Publizisten später. Das ist übertrieben, denn es fanden gleich mehrere Kommandounternehmen des SS-Geheimdienstes gegen Polen statt – aber eine gewichtige Rolle spielte Naujocks bei den Kriegsvorbereitungen dennoch.

In einem abgehobenen Beamtendeutsch erläuterte er 1963 in einem Spiegel-Interview die Aktion. "Ich war damals Sturmbannführer und ausschließlich im Auslandsnachrichtendienst des Reichssicherheitshauptamtes beschäftigt", sagte er. "Gleiwitz fiel völlig aus meinem Arbeitsbereich, und insofern war es eine reine Sonderaufgabe." 

Alfred Naujocks 1944, unmittelbar nachdem er zu den Alliierten übergelaufen war. © U. S. National Archives and Records Administration, item number CW-004


Wie fast alle Täter der Nazizeit beschrieb Naujocks sich selbst als reinen Befehlsempfänger, der seine Mission gründlich und professionell umgesetzt habe. Mit einer Leiche, die vor dem Sender zurückblieb als Naujocks Trupp abrückte, habe er nichts zu tun gehabt. Die Gestapo sei für den Mord an dem Mann verantwortlich gewesen. Als er die Fragen des Nachrichtenmagazins beantwortete, lebte Naujocks in Hamburg. Für seine Taten scheint er sich weder geschämt, noch eine Verfolgung durch Polizisten befürchtet zu haben.

Dabei waren seine Verbrechen allgemein bekannt. Seine Anschläge erlangten innerhalb der SS einen legendären Ruf. Sie wurden sogar Vorbild für weitere solcher Missionen. Für zwei Mordaktionen im Stile des SS-Sturmbannführers wählten Hitlers Agenten zwei zynische Tarnnamen: "Silbertanne" und "Blümchenpflücken". SS-Männer verübten in Holland und Skandinavien mehrere Anschläge als Vergeltung für Attentate auf die deutsche Wehrmacht. Sie liquidierten nicht einfach Partisanen, wie das in der Sowjetunion tausendfach geschah. Die SS wollte, dass ihre Verbrechen so aussahen als wären die Widerstandskämpfer von den eigenen Leuten hingerichtet worden.

Kurz nach dem Anschlag auf den Radiosender erhielt Naujocks einen weiteren Spezialauftrag. Er sollte die Operation Bernhard zu einem Erfolg bringen. Die SS begann damit, britische Pfund zu fälschen und in den Umlauf zu bringen. So sollte die britische Wirtschaft im Krieg entscheidend geschwächt werden. Als Fälscher setzten die Nazis mehrere Dutzend KZ-Häftlinge ein.

Kurz vor Kriegsende lief Naujocks zu den Alliierten über

Naujocks Karriere im SD endete 1941 plötzlich. Er wurde zur Waffen-SS strafversetzt. Vermutlich hatte er seinen Arbeitgeber betrogen und Gelder hinterzogen. Doch Naujocks fiel sanft: Bereits 1942 wurde er aus der Waffen-SS entlassen, war in der deutschen Verwaltung im besetzten Belgien für den Kampf gegen den Schwarzmarkt zuständig und wurde dann nach Skandinavien versetzt, wo er erneut für Anschläge und politische Morde verantwortlich war. So sollten er und seine Gruppe den Widerstand in Dänemark gegen die deutschen Besatzer brechen.

Kurz vor dem Kriegsende lief er zu den Alliierten über und sagte umfassend gegen seine Kameraden aus. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen diente er als Zeuge. 1947 machte die dänische Justiz ihm den Prozess. Der ehemalige SS-Sturmbannführer erhielt eine mehrjährige Haftstrafe, die ihm nur drei Jahre später erlassen wurde. Nur fünf Jahre nach Kriegsende kam der Betrüger, Geldfälscher, Terrorist, mehrfache Mörder und überzeugte Nationalsozialist aus dem Gefängnis frei. 1950 verließ er Dänemark und zog nach Hamburg.

Unter Nazis gilt er heute noch als Meisterspion des Führers

1960 erschien in London das Buch The Man Who Started The War. Der Verfasser, der Journalist Günter Peis, hatte Naujocks in Hamburg getroffen und befragt. Freimütig räumte dieser darin Verbrechen im Dienste der SS ein, die von keinem deutschen Gericht geahndet wurden. Peis' Biografie kam nie auf Deutsch heraus. Auch nach weiteren Interviews lebte Naujocks weiter unbehelligt in der Hansestadt. Zwar eröffneten Polizei und Staatsanwaltschaft mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn, zu einer Anklage kam es aber nicht.

Naujocks schaltete sich sogar in politische Debatten ein. Er wurde von konservativen Gegnern der Sozialdemokratie als Kronzeuge gegen Willy Brandt genutzt. In einer Schmutzkampagne gegen den Kanzlerkandidaten wurde eine Aussage von Naujocks verbreitet, dass Brandt in den 1930er Jahren im Lübecker Straßenkampf zwischen Linken und Nationalsozialisten schwere Verbrechen begangen habe. Doch diese Angaben des SS-Manns stammten aus einer Zeit, als Naujocks längst in psychiatrischer Behandlung war. Er wurde "wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit durch Beschluß des Landgerichts Hamburg (4713 64-1941 KNS 1-64)", so schreibt es der Spiegel, 1964 in die Nervenheilanstalt Ochsenzoll eingewiesen. Erst zwei Jahre später, kurz vor seinem Tod, wurde er entlassen. Naujocks starb 1966 in Hamburg. In rechtsextremen Kreisen gilt er heute noch als Meisterspion des Führers – Hitlers Terrorist wäre ein passenderer Titel.

Karrieren über die Systeme hinweg: Vor siebzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Viele Deutsche machten unter den Nazis eine berufliche Karriere – und waren dann auch in der Bundesrepublik mehr oder weniger erfolgreich. Manche waren Günstlinge, andere Diener der Systeme oder Mittäter. Die Porträts werden in unregelmäßiger Form fortgesetzt.