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Martin Knobbe

Die Lage am Morgen Nennen wir es doch einfach Durchseuchung

Martin Knobbe
Von Martin Knobbe, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute beschäftigen wir uns mit dem Bedeutungsverlust der Inzidenz in der Coronapolitik, mit dem neuen Weltraumkommando der Bundeswehr und den Protesten in Kuba.

Wie hältst du's mit der Inzidenz?

Die Frage wabert schon seit Langem durch den Debattenraum der Virologen und Epidemiologen, der Politiker und Gesundheitsfunktionäre: Ist die sogenannte Inzidenzzahl, die angibt, wie viele Menschen sich innerhalb von sieben Tagen mit dem Coronavirus neu angesteckt haben, noch das Maß aller Dinge? Soll allein sie darüber entscheiden, wo wir Masken tragen und Abstand halten müssen, wo es Konzerte und Volksfeste geben darf? Oder sind, da immer mehr Menschen geimpft sind und die Zahl der schweren Krankheitsverläufe abgenommen hat, nicht andere Faktoren ausschlaggebend, etwa die Zahl der coronabedingten Krankenhauseinweisungen?

Die Bundesregierung wolle ihren Richtwert überdenken, hieß es gestern in Berlin, zugleich soll die Inzidenz auch weiterhin eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Welche Kriterien genau künftig über Einschränkung oder Freiheit entscheiden, darüber wird Angela Merkel heute sicher diskutieren, wenn sie mit Jens Spahn das Robert Koch-Institut und dessen Präsident Lothar Wieler besucht.

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach: »Augenwischerei«

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach: »Augenwischerei«

Foto: Matthias Jung / DER SPIEGEL

Anruf bei einem Mann, der immer eine fundierte Meinung zu solchen Fragen hat.

Er halte die Debatte für »Augenwischerei«, sagt Karl Lauterbach, der SPD-Gesundheitsexperte, der in seiner Freizeit seit 35 Jahren epidemiologische Studien liest, wie er uns kürzlich in einem SPIEGEL-Gespräch verraten hat. Faktoren wie die Hospitalisierung würden schon längst in der Beurteilung der Pandemielage berücksichtigt.

Lauterbach vermutet, dass hinter der Frage nach dem neuen Richtwert bewusst eine ganz andere Debatte begonnen werde: Soll die Inzidenzzahl gar keine Rolle mehr spielen, wie dies gerade in Großbritannien der Fall ist? Sollen bald alle Einschränkungen fallen, selbst wenn die Zahlen sich zu einer vierten Welle aufbäumen?

Lauterbach warnt vor diesem Schritt, weil die langfristigen Folgen einer Covid-19-Erkrankung noch immer nicht absehbar seien und auch weil unter den Ungeimpften gefährliche Krankheitsverläufe auftreten können.

Es wäre das Ende des Bemühens, die Pandemie unter Kontrolle halten zu wollen. Es wäre der Beginn einer Durchseuchung jener Bevölkerungsgruppen, die noch nicht vollständig geimpft sind – wie Kinder oder diejenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht impfen lassen wollen. Durchseuchung, welch schreckliches Wort. Doch treffend für diesen Prozess.

Ich finde es gut, dass die Debatte nun beginnt, die wir dann unbedingt führen müssen, wenn alle, die es wollen, zweimal geimpft worden sind. Dann müssen wir uns fragen, wen die Gesellschaft noch schützen muss – oder ob Covid-19 wie die meisten Krankheiten dann zum persönlichen Lebensrisiko gehört.

Die Antwort ist nicht einfach, vor allem solange die Kinder keine Wahl haben.

  • Der Epidemiologe André Karch über den Sinn der Inzidenzzahl, der Gefahr, die von Partys ausgeht und Long-Covid bei Jungen: Das Interview lesen Sie hier.

Soldaten im All

Jungfernflug der »Virgin Galactic« des Multimillionärs Richard Branson: ziviler und militärischer Wettkampf

Jungfernflug der »Virgin Galactic« des Multimillionärs Richard Branson: ziviler und militärischer Wettkampf

Foto: VIRGIN GALACTIC / imago images/UPI Photo

Gestern war das Weltall Thema in dieser »Lage«, es ging um den heiß umkämpften Markt für private Reisen in die unendlichen Weiten. Drei reiche Männer stellen sich diesem Kampf, Amazon-Gründer Jeff Bezos, Virgin-Gründer Richard Branson, Tesla-Gründer Elon Musk. Es ist ein sonderbarer Wettlauf der Alphatiere. 

Heute widmen wir uns der militärischen Nutzung des Weltraums, auch sie verheißt nichts Gutes. Den Ton setzte der französische Präsident Emmanuel Macron bereits im Juli 2019, als er eine Änderung der Militärdoktrin verkündete, die das Land in die Lage versetzen sollte, sich »im Weltraum und aus dem Weltraum zu verteidigen«. Von einem »neuen Bereich der Konfrontation« sprach Macron, es ging ihm offenbar um Krieg im All, nicht um friedliche Koexistenz. Monate zuvor hatte der damalige US-Präsident Donald Trump die Bildung eines eigenen Weltraumkommandos angeordnet, das eine sechste Teilstreitkraft bilden sollte. Und China und Russland sind ohnehin schon seit Längerem in der Frage aktiv, wie die Unendlichkeit außerhalb der irdischen Atmosphäre für die Ausweitung der irdischen Macht genutzt werden kann.

Heute nimmt nun auch das Weltraumkommando der Bundeswehr seinen Dienst auf, in Kalkar am Niederrhein. In der kleinen Gemeinde Uedem (Nordrhein-Westfalen) betreibt die Nato schon jetzt den »Gefechtsstand«, der einen Teil des Nato-Luftraums überwacht und etwa bei einer terroristischen Bedrohung stets bereite Abfangjäger losschicken würde.

Dort, in Uedem, werde schon jetzt der Weltraum überwacht, wobei es im Wesentlichen bisher darum gehe, rechtzeitig vor Weltraumschrott zu warnen, sagt mein Kollege Konstantin von Hammerstein. Wenn nun der Bereich zu einem eigenen Weltraumkommando ausgebaut werden solle, dann gehe es nicht um Angriff, sondern vor allem um die Überwachung. Sowohl des Schrotts, als auch in Zukunft der Aktivitäten von Ländern wie China, Indien oder Russland, die inzwischen über die Fähigkeit verfügen, etwa fremde Satelliten abzuschießen. Alles passiv, alles nur Verteidigung, als außerirdische Kriegspartei will sich die Bundeswehr natürlich nicht sehen.

  • Die Details zu Emmanuel Macrons Weltraumkommando lesen Sie hier.

Verlierer des Tages…

Proteste in Kuba: Frust über das verkrustete System

Proteste in Kuba: Frust über das verkrustete System

Foto: ALEXANDRE MENEGHINI / REUTERS

...ist Miguel Díaz-Canel, der Präsident Kubas.

Es ist ein Zeichen von Schwäche, wenn für Entwicklungen im eigenen Land dunkle Mächte herhalten müssen. Es seien die Amerikaner, die für die Proteste auf Kubas Straßen verantwortlich seien, sagte Díaz-Canel gestern. CIA statt Bürgerfrust. Tatsächlich ist in dem realsozialistischen Staat überraschenderweise eine Mischung aus Frust über das verkrustete System, über die miserable wirtschaftliche Lage und über das Coronamanagement der Regierung eruptiert. Noch ist nicht klar, ob es nur ein kurzes Aufflackern der Proteste ist – oder der Anfang vom Ende von Miguel Díaz-Canel und seinem Regime.

In einer früheren Version dieser »Lage am Morgen« haben wir auf eine angekündigte Pressekonferenz eines angeblichen CDU-Zukunftsrates hingewiesen. Dabei handelt es sich offenbar um eine Fake-Gruppierung, kreiert von Klimaschützern, worauf die CDU-Zentrale hinweist. Wir bitten um Entschuldigung und haben den Absatz gelöscht.

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Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Ihr Martin Knobbe