Verstecktes Hergé-Original :
Unter Deck

Andreas Platthaus
Ein Kommentar von Andreas Platthaus
Lesezeit: 2 Min.
Hergé, mit bürgerlichem Namen Georges Remi, in den siebziger Jahren
Das Museum voor Schone Kunsten in Gent verbirgt einen Schatz in der letzten Schublade eines hinteren Schranks: Über eine beglückende Entdeckung aus der Welt von „Tim und Struppi“.

Vom Genter Altar sind es bis hier hinaus etwa anderthalb Kilometer, weitab von der Kathedrale Sint Bavo im Stadtzentrum. Deshalb kommen die meisten Kunstinteressierten im Museum voor Schone Kunsten des belgischen Gent gar nicht erst vorbei. Bedauerlicherweise, denn welches Museum nördlich der Alpen kann schon zwei Gemälde von Hieronymus Bosch sein Eigen nennen? Nur das Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. Oder solch prächtige Ensors, um beim Grotesken zu bleiben? Vielleicht das Musée des Beaux Arts in Brüssel.

Die auch ansonsten exzellente Sammlung des Genter Hauses ist überwiegend thematisch sortiert, und einer der größten Säle gilt Historiengemälden, darunter eindrucksvolle Seestücke. Darin hat der belgische Installationskünstler Patrick Van Caeckenbergh gerade ein paar Interventionen aufstellen dürfen – und damit das Groteske auf wunderbare Weise ins 21. Jahrhundert fortgeführt, unter anderem durch eine mitten in den Saal gesetzte ins Monumentale gesteigerte und dadurch begehbar gemachte Zigarrenkiste, in der er sein Atelier nachgebaut hat. Neben diesem riesigen Spanholzkasten kommen allerdings zwei dauerhaft im Raum aufgestellte Grafikschränke kaum mehr zur Geltung.

Eine Kostbarkeit nach der anderen

Dabei bieten ihre jeweils fünf Schubladen ebenfalls faszinierende Ein­blicke: in den Zeichnungsbestand des Mu­seums. Eine Kostbarkeit nach der anderen kommt da aus dem letzten halben Jahrtausend ans Licht. Und die letzte Schublade des hinteren Schranks birgt einen Knalleffekt: belgisch wie Ensor, bedeutend wie Bosch, beglückend wie Van Caeckenbergh – eine Originalseite des Comiczeichners Hergé aus dessen „Tim und Struppi“-Album „Kohle an Bord“ von 1958. Gemeinsam mit der zugehörigen Entwurfsseite hat Hergé selbst sie 1979 dem Museum geschenkt. Angesichts der knallharten Geschäftspraktiken, die die nach dem Tod des Zeichners gegründete Stiftung, die den Nachlass verwaltet, pflegt, und den Preisen, die (auch deshalb) für Hergé-Originale gezahlt werden, kann man über die Nonchalance, mit der das Museum sein Rarissimum-Ensemble zeigt, nur staunen. Welche andere Institution außer dem von der Stiftung betriebenen Hergé-Museum in Louvain-la-Neuve besitzt überhaupt so etwas?

Und weiß man in Gent eigentlich, was man da hat? Die Kennzeichnung beider Blätter als „project“, also Entwurf, lässt es be­zweifeln. Oder ist das Comicverständnis in der Comicnation Belgien derart konsequent, dass nur in der gedruckten Seite das Original gesehen wird – eine Haltung, die ja manche Protagonisten dieser Kunst vertreten? Egal, die wie beiläufig präsentierte Seite aus „Kohle an Bord“ im Museum voor Schone Kunsten steht für eine Menge Kohle, wenn auch hier eher unter Deck. Aber selbst die unterste Schublade kann in Gent noch für höchste Verblüffung sorgen.