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Methadon-Tod von Pflegekind Chantal "Hören Sie auf, sich zu bemitleiden"

Chantal könnte noch leben, hätten ihre drogensüchtigen Pflegeeltern kein Methadon ungesichert in der Wohnung herumliegen lassen. Das Landgericht Hamburg verurteilte das Paar jedoch lediglich zu Bewährungsstrafen.
Angeklagte Sylvia L. vor Gericht: "Sie werden weiterhin damit leben müssen, Chantals Tod verursacht zu haben"

Angeklagte Sylvia L. vor Gericht: "Sie werden weiterhin damit leben müssen, Chantals Tod verursacht zu haben"

Foto: Christian Charisius/ dpa
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Auf dem Richterpult stand ein Glas Wasser. Ein sicheres Indiz dafür, dass der Vorsitzende der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Hamburg das Urteil extensiv begründen wird. Und so erklärte Rüdiger Göbel mehr als eine Stunde lang, warum die Kammer Sylvia L. wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu acht Monaten Haft und Wolfgang A. zu einem Jahr Haft verurteilte - und vor allem warum beide Strafen zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Beide haben versagt, wie Göbel ausführte. Sylvia L., als sie ihrem Pflegekind Chantal am Abend des 15. Januar 2012 am Telefon erklärte, welche Medikamente sie zu nehmen habe, damit deren Übelkeit nachlasse, anstatt nach Hause zu kommen und sich um die Elfjährige zu kümmern. Wolfgang A. habe versagt, als er am Morgen des 16. Januar 2012 sowohl um 6 Uhr als auch um 11.30 Uhr zwar nach dem Kind gesehen, es aber sich selbst überlassen habe - ohne einen Arzt, Hilfe oder Sylvia L. zu verständigen. Wolfgang A. ging stattdessen unbekümmert zum Spätdienst.

Chantal starb nach einem stundenlangen Sterbeprozess an den Folgen einer Methadonvergiftung. Nach Überzeugung der Kammer muss sie - geplagt von Unwohlsein und Erbrechen - auf der Suche nach einem geeigneten Medikament am Abend des 15. Januar versehentlich eine sogenannte Methaddict-Tablette geschluckt haben. Ihre Pflegeeltern Wolfgang A. und Sylvia L., in deren Obhut das Jugendamt das Mädchen gegeben hatte, wurden zu diesem Zeitpunkt mit dem Ersatz-Heroin Methadon substituiert.

Das Gericht sei sicher, dass die Tablette aus dem Bestand des Paares stamme, so Göbel. Die Version, Chantal habe von ihrem leiblichen Vater Methadon bekommen, nahm die Kammer den Angeklagten nicht ab. Noch in der Hauptverhandlung hatten Sylvia L. und Wolfgang A. versucht, dem Mann die Verantwortung zuzuschieben.

Keine Verletzung der Fürsorgepflicht

"Unplausibel" und voller Zweifel sei auch die Geschichte, die Tabletten, die das Paar täglich einnehmen musste, um die Entzugssymptome zu lindern, seien zum Schutz der Kinder in einer Garage deponiert worden, sagte der Vorsitzende. "Das ist eine Schutzbehauptung", so Göbel. Bei der Hausdurchsuchung Tage nach Chantals Tod konnte kein Methadon sichergestellt werden. "Die Angeklagten hatten ausreichend Zeit, das Methadon aus der Wohnung zu schaffen."

"Die Sorgfaltspflichtverletzung war ursächlich für Chantals Tod", konstatierte Göbel. Durch ihre langjährige Erfahrung mit Drogen hätten Sylvia L. und Wolfgang A. die Gefährlichkeit von Methaddict gekannt. "Sie wussten, schon eine Tablette ist für ein Kind lebensbedrohlich." Mit "einfachen Mitteln" wäre es möglich gewesen, Chantal, aber auch die anderen drei Kinder im Haushalt vor dem vollsynthetisch hergestellten Opioid zu schützen.

Eine Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, wie sie die Staatsanwaltschaft angeklagt hatte, sah die Kammer nicht. "Chantal war nicht verwahrlost", sagte Göbel und unterstellte der Behörde "einseitige Ermittlungen", die "den Blick auf das Wesentliche - die fahrlässige Tötung - unnötig versperrt haben".

Staatsanwalt Florian Kirstein hatte für Wolfgang A. eine zweieinhalbjährige Haftstrafe und für Sylvia L. eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten gefordert. Kirstein sprach von einer "schweren Straftat". Die Verteidiger hatten auf Freispruch plädiert. Beide wollen gegen das Urteil Revision einlegen.

"Aufgabe des Verfahrens war nicht, das Fehlverhalten des Jugendamts zu prüfen", betonte Richter Göbel in seiner Urteilsbegründung. Das Ermittlungsverfahren gegen sechs Mitarbeiter der Behörde sowie einen Mitarbeiter eines freien Trägers war eingestellt worden.

Es gibt unterschiedliche Aussagen darüber, inwieweit das Jugendamt von der Drogensucht der Pflegeeltern wusste. Das Paar hatte im Jahr 2008 die Pflegschaft für Chantal übernommen. Wichtig sei ihm, so Göbel, darauf hinzuweisen, dass es zum damaligen Zeitpunkt keine Verpflichtung gegeben habe, dem Jugendamt eine mögliche Substitution zu offenbaren.

Seine letzten Worte richtete Göbel an die Angeklagten Sylvia L. und Wolfgang A.: "Sie werden weiterhin damit leben müssen, Chantals Tod verursacht zu haben. Hören Sie auf, sich zu bemitleiden, finden Sie die richtige Einstellung zu dieser Schuld. Erst dann können Sie zur Ruhe kommen und in Frieden damit leben." Einen Schluck Wasser trank er nicht.