Es darf keine Kinder erster und zweiter Klasse geben, fordert Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V. (GGUA) Münster.

Die Kindergrundsicherung ist eines der sozial- und familienpolitischen Prestigeprojekte der neuen Bundesregierung. In ihr sollen verschiedene Leistungen wie Kindergeld, Sozialhilfeleistungen für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie der Kinderzuschlag gebündelt und einfach und automatisiert berechnet und ausgezahlt werden. Dabei soll ein „Garantiebetrag“ einkommensunabhängig und ein „Zusatzbetrag“ abhängig vom Elterneinkommen geleistet werden. „Diese Leistung soll ohne bürokratische Hürden direkt bei den Kindern ankommen und ihr neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum sichern“, heißt es einigermaßen ambitioniert im Koalitionsvertrag.

Eine echte Kindergrundsicherung ist seit Jahren eine zentrale Forderung der Wohlfahrtsverbände. Gut, dass die neue Bundesregierung sich nun auf den Weg machen will! Dabei sollte schon in den Vorbereitungen zu einem Gesetzgebungsverfahren der Grundsatz gelten: Die Kindergrundsicherung muss für alle Kinder in Deutschland zugänglich sein – unabhängig vom Aufenthaltsstatus und  von der Staatsangehörigkeit.

Warum muss das überhaupt so deutlich betont werden? Ganz einfach: Weil es bislang ganz anders ist. Es gibt Kinder erster, zweiter und sogar dritter Klasse – je nachdem welchen Aufenthaltsstatus ihre Eltern haben. Ganze Gruppen von Kindern sind bislang von den unterschiedlichen Leistungssystemen, die in der Kindergrundsicherung gebündelt werden sollen, ausgeschlossen. Diese Ausschlüsse sind nicht nur verfassungsrechtlich und europarechtlich hoch umstritten, sondern auch sozial- und integrationspolitisch kontraproduktiv. Und: Sie verletzen den Schutz des Kindeswohls, der bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig berücksichtigt werden muss.

Ein paar Beispiele sollen verdeutlichen, worum es geht:

  • Kinder, deren Eltern sich im Asylverfahren befinden oder im Besitz einer Duldung sind, haben in aller Regel weder Anspruch auf Kindergeld, noch auf Kinderzuschlag, Elterngeld oder Unterhaltsvorschuss. Das gilt sogar dann, wenn die Eltern arbeiten und unabhängig von Sozialhilfeleistungen leben. Die Frage, ob diese Ausschlüsse mit dem Grundgesetz vereinbar sind, ist ungeklärt und liegt dem Bundesverfassungsgericht seit 2013 zur Entscheidung vor.
  • Familien, die EU-Staatsangehörige sind, haben seit einer Gesetzesverschärfung im Jahr 2019 in manchen Fällen keinen Anspruch auf Kindergeld. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie nicht erwerbstätig sind. Diese Ausschlüsse sind mit hoher Wahrscheinlichkeit europarechtswidrig. Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof hat am 16. Dezember 2021 in einer Stellungnahme festgestellt, dass es sich dabei um eine unzulässige Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit handelt.
  • Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die als unbegleitete minderjährige Geflüchtete ohne Eltern in Deutschland leben, haben nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn sie nachweisen können, dass ihre Eltern tot oder verschollen sind. Wenn zu ihren Eltern im Herkunftsland auch nur telefonischer Kontakt besteht, haben die Kinder in Deutschland keinen Anspruch auf Kindergeld – obwohl ihre Eltern in aller Regel keinerlei Mittel haben, für sie zu sorgen.
  • Kinder, die sich im Asylverfahren befinden oder die nur eine Duldung besitzen, haben keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II oder XII, sondern nur nach dem Sondersystem des Asylbewerberleistungsgesetzes. Hier sind die Regelsätze zum Teil niedriger als in der normalen Grundsicherung, die Gesundheitsleistungen sind eingeschränkt und es gibt keinen Anspruch auf pauschale Mehrbedarfszuschläge z. B. für Alleinerziehende.
  • Familien, die EU-Staatsangehörige sind, haben in manchen Fällen überhaupt keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen zur Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums. In diesen Fällen sind die Kinder nicht nur von jeglichen Leistungen für das physische und soziale Existenzminimum ausgeschlossen. Auch die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets sind dann für sie ausgeschlossen.

Bei einer anstehenden Neuregelung der Familienleistungen und der Leistungen zur Existenzsicherung für Kinder im Rahmen der Kindergrundsicherung sollten diese Ausschlüsse überwunden werden. Migrationspolitische Erwägungen dürfen bei den Leistungen für Kinder keine Rolle spielen. Vielmehr sollte das Wohl des Kindes unabhängig von ausländerrechtlichen Sonderregelungen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Die Leistungen der Kindergrundsicherung müssen auch unbürokratisch zugänglich sein. Für viele nicht-deutsche Familien, insbesondere für EU-Bürger*innen, ist momentan das Gegenteil der Fall: Die Bearbeitung von Kindergeldanträgen dauert häufig viel länger als bei Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit. Eine Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände, an der sich im Sommer 2020 über 400 Beratungsstellen beteiligt haben, hat ergeben: In über einem Viertel der Anträge hat es bis zur Entscheidung der Familienkasse mehr als sechs Monate gedauert, in einigen Fällen sogar länger als ein Jahr. Normalerweise dauert ein Antragsverfahren nur wenige Wochen.

Hinzu kommt, dass die Familienkassen bei nicht-deutschen Staatsangehörigen eine Vielzahl zusätzlicher Unterlagen und Belege fordern: Bei Kindergeldanträgen von Unionsbürger*innen werden teilweise über 15 verschiedene Dokumente angefordert – von der Bescheinigung über die Zahlung der Rundfunkgebühren über die Nebenkostenabrechnung, Kindergartenbescheinigungen, Bescheinigungen der Kinderärztin bis hin zu Kontoauszügen. Diese Dokumente werden von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit nicht angefordert und sind zum Großteil für eine Prüfung der Kindergeldberechtigung auch gar nicht erforderlich. Bei einer kommenden Kindergrundsicherung muss gewährleistet sein, dass Familien mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit nicht durch besonders strenge Prüfungen und überlange Antragsverfahren diskriminiert werden.

Die UN-Kinderrechtskonvention schreibt in ihrem Art. 3 vor: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Dies muss auch bei der Kindergrundsicherung berücksichtigt werden: Kinder dürfen nicht danach sortiert werden, ob sie „richtige“ Staatsangehörigkeit oder den „richtigen“ Aufenthaltsstatus haben.

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