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AUSSENPOLITISCHE DEBATTE Treffpunkt Genf

aus DER SPIEGEL 46/1959

Beinahe wäre der Deutsche Bundestag bei seiner außenpolitischen Debatte am Donnerstag letzter Woche Schauplatz einer Auseinandersetzung geworden, die Klarheit darüber geschaffen hätte, wie weit Konrad Adenauer zu gehen bereit war, als es galt, ein christdemokratisches Regiment in der Bundesrepublik zu sichern - nämlich bis zur Preisgabe Berlins als vollberechtigtes Bundesland.

Die Plenarsitzung des Parlaments hatte mit Außenminister von Brentanos Regierungserklärung begonnen und war mit Erich Ollenhauers und Erich Mendes Reden träge dahingeflossen. Die Regierungsbank hatte sich schon zur Hälfte geleert, der Kanzler war - von seinem Staatssekretär Globke geleitet - am Stock aus dem Saal geschritten, und das Plenum hörte provozierend lustlos auf die außenpolitischen Argumente, die ihm schon aus Dutzenden von Debatten vertraut waren.

Da donnerte Mende markig in den Saal: »Nun hat in den letzten Monaten ein Korrespondenz-Spiegel des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung einen schwerwiegenden Vorwurf gegen den Herrn Bundeskanzler mitgeteilt. Die Meldung in diesem amtlichen Papier der Bundesregierung datiert vom 21. Juli 1959. Mir ist bisher nicht bekannt, ob ein Widerspruch, ein Dementi erklärt oder gar eine Verleumdungsklage erhoben wurde.«

Mende begann die Meldung - sie stammte aus den »Deutschen Informationen« eines Rudolf Jungnickel - vorzulesen: »Ein früherer Vertrauter Dr. Adenauers - gemeint soll sein Dr. Kindt-Kiefer - machte uns gegenüber eine sensationelle Enthüllung. Er war vor der Bundestagswahl 1949 Zeuge eines Gesprächs zwischen Dr. Adenauer und (dem französischen Staatsmann) Bidault.

»Es drehte sich darum, in welcher Weise von Frankreich aus Adenauer und seiner Partei Wahlhilfe geleistet werden könnte ... Adenauer schlug vor, Frankreich möge sich dafür einsetzen, daß Westberlin nicht der Bundesrepublik angeschlossen werden solle, weil sonst die Gefahr eines sozialdemokratischen Übergewichts in Westdeutschland entstünde.«

Das Plenum wurde wach. CDU-Abgeordnete protestierten, Sozialdemokraten riefen »Hört, hört!«. Im Lärm der Zwischenrufe zitierte FDP-Fraktionschef Mende weiter: »Das Stimmrecht der Berliner spielte im taktischen Kalkül Adenauers schon damals eine entscheidende Rolle.« Den letzten Satz der Jungnickel-Meldung ("Hier hat Kurt Schumachers Entrüstungsruf im ersten Bundestag ,Kanzler der Alliieiten!' sein stärkstes Motiv") ließ Mende weg. Dafür wandte er sich an die immer unruhiger werdenden Christdemokraten; er rief der Staatspartei mit Pathos ins Gewissen: »Diese Meldung ist so ungeheuerlich, daß ich den Herrn Bundeskanzler dringend bitten muß, vor dem Plenum zu erklären, was er gegen diese Art der Unterstellung, wenn es eine sein sollte, zu unternehmen gedenkt.«

Während Sozialdemokraten und Freidemokraten Beifall klatschten, empörten sich die christdemokratischen Abgeordneten über diese »ungeheuerlichen« Anwürfe. Der CSU-Außenpolitiker, Kavallerieoberleutnant, Großgrundbesitzer und Millionär Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg auf Schloß Guttenberg fauchte Mende an: »Außer Ihnen hat niemand diese Meldung ernst genommen!«

CDU, Kanzler und Regierung dachten freilich nicht daran, die Sache ernst zu nehmen. Zwar berichtete ein eifriger Hinterbänkler dem Kanzler sofort über Mendes Enthüllungen, aber der Kanzler schlenderte gelassen durch den Saal bis zu den, vorderen Bankreihen seiner Partei, klopfte dem Fraktionschef Krone auf die Schulter, setzte sich mit ihm zu, einem vertraulichen Gespräch auf die Abgeordnetenbank und machte nicht die geringsten Anstalten, eine Antwort zu geben. Der FDP-Außenpolitiker Mende hatte sich inzwischen anderen Fragen zugewandt. Er meinte gerade so weit gegangen zu sein, wie ihm angesichts der Tatsache zuzumuten sei, daß die FDP gerade dabei ist, sich von einer nur »staatstragenden« Partei wieder zu einer die Regierung tragenden Partei zu mausern.

Die Freien Demokraten wollten erst einmal eine Erklärung Konrad Adenauers zu Kindt-Kiefers Behauptungen abwarten; als dann aber wollten sie mit weiterem Material aus den Handakten dieses früheren Kanzler-Intimus aufwarten, der eigens nach Bonn gekommen war und unweit des Plenarsaals Dokumente bereithielt.

Dr. jur. Dr. phil. Kindt-Kiefer war nicht zum erstenmal in Bonn. Im September 1955 hatte das regierungsamtliche »Bulletin« berichtet: »Bundeskanzler Dr. Adenauer empfing am 1. September Herrn Dr. Kindt-Kiefer aus Andernach, der dem Bundeskanzler aus der politischen Zusammenarbeit nach dem Jahre 1945 bekannt ist.«

Sogar sehr gut bekannt: Im März 1948 hatte Kindt-Kiefer den westdeutschen CDUVorsitzenden Adenauer über die »Christliche Nothilfe« auf Schweizer Boden in die europäische Nachkriegspolitik eingeführt, die in jenen Jahren von den großen christlich-demokratischen Parteien der westeuropäischen Länder bestimmt wurde.

Etwa ein Jahr nach dem Debüt Konrad Adenauers im internationalen politischen Zirkel arrangierte der christliche Nothelfer Kindt-Kiefer in Genf ein politisches Gesprach zwischen Adenauer und Georges Bidault. Bei dieser Gelegenheit habe, so behauptet heute Gesprächsteilnehmer Kindt-Kiefer, Dr. Adenauer den französischen Staatsmann gebeten, gegen die Bestimmungen des eben beschlossenen Bonner Grundgesetzes Einspruch zu erheben, nach denen Berlin als zwölftes Bundesland-behandelt werden sollte. Tatsächlich kam es zu solch einem Einspruch der Alliierten.

Die Parallele zwischen dieser angeblichen Konspiration des CDU-Kanzlers mit dem französischen Politiker christdemokratischer Couleur und den Bemühungen des Bundeskanzlers, die Berliner Wahlmänner in der Bundesversammlung anläßlich der Bundespräsidentenwahl des letzten Sommers vom Stimmrecht auszuschließen, drängte sich den Freidemokraten buchstäblich auf. So beschlossen sie die Informationen des einstigen Adenauer-Konfidenten Kindt-Kiefer nun gegen den Kanzler auszuspielen - ohne sich jedoch mit den Behauptungen Kindt-Kiefers zu identifizieren.

Zu dem Material des ehemaligen Kanzler-Vertrauten gehört allerdings nicht nur das, was Mende vorgetragen hatte, sondern auch noch einiges, was später kommen sollte, wenn der Kanzler sich zum ersten Punkt geäußert haben würde. Es existiert zum Beispiel ein »Aide-memoire vom 1.9. 1950«, das laut Kindt-Kiefer an jenem Tage vom Bundeskanzler und dem damaligen Ministerialdirektor Herbert Blankenhorn im Palais Schaumburg verfaßt und ihm, Kindt-Kiefer, zur Weitergabe an den Pariser Gesinnungsfreund Bidault überreicht worden sein soll.

Ziel dieses Papiers, das der private Mittelsmann des Kanzlers nach Paris gebracht haben will, sei die Sicherung der westdeutschen Bundesrepublik, ihre Wiederbewaffnung und ihr Anschluß an das Atlantische Bündnis gewesen. Neben der »strategischen Sicherung« enthält es als »politische Sicherung« ein Petitum von fünf Punkten.

Dr. Kindt-Kiefer zitiert das Memorandum des Kanzlers vom 1. September 1950 aus seinen eigenen Akten so:

»c. Politische Sicherungen: 1. Berlin nicht zwölftes Bundesland (soz), 2. keine deutsche Wehrmacht - soweit Kontingente, Befehligung im Rahmen des internationalen Stabes. 3. Garantierung (Gewährleistung) der Bundesverfassung für die Dauer von dreißig Jahren durch die Alliierten. 4. Umgestaltung der Straßburger Versammlung in ein echtes europäisches Parlament. 5. Aufrechterhaltung der Saarautonomie unter weitestgehender Bewegungsfreiheit der Bevölkerung nach beiden Seiten. Aufhebung des Polizeiregimes.«

Das Memorandum mit diesem politischen Programm will Dr. Kindt-Kiefer bereits zwei Tage nach dem 1. September 1950 dem Georges Bidault übergeben haben: »Am 31. August 1950 wurde ich von Bundeskanzler Dr. Adenauer in meiner Wohnung in Otelfingen bei Zürich angerufen. Er erklärte mir kurz: 'Sie müssen nach Paris.' Über Einzelheiten sprachen wir gewöhnlich nicht am Telephon. Ich wußte jedoch sofort, daß ich zu Präsident Bidault fahren sollte, weshalb ich dessen Büro unverzüglich von meiner Ankunft verständigte und um einen Gesprächstermin bat. Dr. Adenauer indessen ersuchte mich, zur Instruktion am folgenden Tag, dem 1. September 1950, zu ihm ins Palais Schaumburg zu kommen.

»Während Blankenhorn das in dem ,Aidemémoire' enthaltene Begehren der Bundesregierung hinsichtlich der strategischen und staatlichen Sicherung schon parat hatte und aus dem Stegreif zu diktieren vermochte, entspann sich über den anderen Teil des Aide-mémoire, der die Punkte aufzählen sollte, die die den Franzosen anzubietenden oder bereits bestehenden Gegenleistungen betrafen, eine längere Diskussion. Schließlich wurde die Form von Dr. Adenauer gebilligt... Die Zustimmung Georges Bidaults holte ich am 3. September 1950 in dessen Privatwohnung in St. Cloud ein. Von dem Ergebnis erstattete ich Dr. Adenauer alsdann Bericht.«

Aber: Dieses Memorandum und die verschiedenen Briefe des Kanzlers an Dr. Kindt-Kiefer in Zürich, auch eine Aktennotiz Kindt-Kiefers vom 21. April 1950 über einen Besuch, den er am 27. März 1950 zusammen mit dem damaligen CDU/CSUFraktionsvorsitzenden und heutigen Außenminister Heinrich von Brentano bei Ministerpräsident Bidault gemacht hatte, blieben im weiteren Verlauf der Bundestags-Debatte vom letzten Donnerstag unerwähnt.

Bis sieben Uhr abends hatte Konrad Adenauer gewartet, ehe er auf Mendes erste Mitteilung einging. Der Kanzler schickte seinern Außenminister Heinrich von Brentano vor, der von der Rednertribüne des Bundestages herunter schnarrte: »Meine Damen und Herren, von dem Herrn Kollegen Mende ist ein Zitat gebracht worden

- dazu möchte ich noch ein Wort sagen -

aus einem höchst obskuren Informationsdienst, aus den Deutschen Informationen', deren Herausgeber, wenn ich recht unterrichtet bin; noch bis vor einigen Jahren der Deutschen Reichspartei angehörte.

Hört, hört, bei der CDU/CSU

- Ich bin auch von dem Herrn Bundeskanzler autoritär autorisiert,

Zwischenruf von der SPD: Autoritär, das war ein sehr gutes Wort - Das Unterbewußtsein - Abg. Wehner: Soweit bei Ihnen noch etwas »unter« sein kann.

- zu sagen, daß eine solche Meldung nichts

anderes ist als eine niederträchtige Lüge.«

Die Antwort auf diese Brentano-Sätze lag nahe. Gewährsmann der FDP war ja nicht »ein höchst obskurer Informationsdienst«, sondern ein alter politischer Bekannter Konrad Adenauers, eben Dr. Kindt-Kiefer. Aber ehe sich FDP-Fraktionschef Mende mit einer Zwischenfrage zu Wort melden konnte - denn nun wollte er den Kanzler festlegen und mit den Dokumenten des einstigen Kanzler-Vertrauten konfrontieren -, hatte Minister von Brentano das Podium wieder verlassen. CSU-Bundestagsvizepräsident Dr. Jaeger, der dem Plenum präsidierte, ließ den Fragesteller nicht mehr zu Wort kommen: »Der Herr Minister ist bereits zu Ende. Ich kann Ihnen das Wort zu einer Zwischenfrage nicht mehr geben. Das Wort hat der Abgeordnete Zoglmann.«

Kaum war das Brentano-Dementi mit dem eindeutigen moralischen Verdikt des Informanten außerhalb des Plenarsaals bekannt, als Kindt-Kiefer auch schon eine Gegenerklärung umlaufen ließ, in der es ebenso klar und rücksichtslos hieß, der Kanzler lüge, wenn er durch Herrn von Brentano die Behauptung aufstelle, daß das Genfer Gespräch über Berlins Stellung zum Bund mit dem behaupteten Inhalt nicht stattgefunden habe.

Im Sitzungssaal attackierte derweil der CSU-Abgeordnete Freiherr von Guttenberg den Deutschlandplan der SPD mit so harscher Polemik, daß die Abendsitzung zu einer jener nächtlichen Redeschlachten mit Verbalinjurien auszuarten drohte, die der Ältestenrat nach bösen Erfahrungen fürchtet und deshalb zu vermeiden sucht. FDPAbgeordnete planten zwar, den Kanzler nun persönlich zu stellen. Bevor sie aber dazu kamen, ihm die Aussagen seines einstigen Vertrauten Kindt-Kiefer vorzuhalten, nahm die Debatte ein jähes Ende.

Der SPD-Fraktionsvorstand schickte zum Präsidenten Gerstenmaier und ließ fragen, ob der Herr Bundeskanzler noch als Redner vorgesehen sei. Der Präsident verneinte das, worauf der SPD-Emissär erkennen ließ seine Partei sei nicht daran interessiert, sich nur mit der zweiten CDU-Garnitur herumzustreiten.

Auch CDU-Fraktionsgeschäftsführer Rasner plädierte für Schluß der Debatte und stellte schließlich »namens der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und DP« einen entsprechenden Antrag. Die durchaus angriffslustigen Freien Demokraten waren überrumpelt. Alle weiteren Auseinandersetzungen mit dem Kanzler waren unmöglich geworden.

Dem um den Effekt geprellten Dr. Dr. Kindt-Kiefer blieb nichts mehr übrig, als mit äußerster Bestimmtheit zu erklären, er stehe zu seinen Behauptungen, habe seine dokumentarischen Beweise und könne sagen, das strittige Gespräch mit Bidault habe Ende Mai 1949 »etwa vierzehn Tage nach Verabschiedung des Grundgesetzes in Bonn« in einem Privathaus in der Genfer Rue St. Laurent, im zweiten Stock, mittags, während der Sitzungspause einer christlichen Nothilfe-Konferenz, stattgefunden.

CDU-Fraktionsbank noch Mendes Attacke (vorn l.: Guttenberg). Obskure Informationen?

Enthüller Kindt-Kiefer

»Berlin nicht Bundesland (soz.)«

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