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Die AfD Fraktion im Bundestag Ende März

© imago/Metodi Popow

Warum das AfD-Gutachten immer noch nicht vorliegt: Der Verfassungsschutz ist nicht allein schuld

Bis heute wurde die AfD nicht als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft. Das ist ein Skandal, den auch die Bundesinnenministerin verantwortet.

Sebastian Leber
Eine Kolumne von Sebastian Leber

Nun ist schon Mitte April, und der Verfassungsschutz hat sein Gutachten zur AfD immer noch nicht vorgelegt – also jenes dringend erwartete Dokument, das nach Einschätzung aller ernst zu nehmenden Experten zur unmittelbaren Hochstufung der Gesamtpartei als „gesichert rechtsextremistisch“ führen wird.

Eigentlich wollte das Bundesamt für Verfassungsschutz dieses Gutachten bereits im vergangenen Jahr vorlegen – bis es im November hieß, man müsse leider erst die vorgezogene Bundestagswahl abwarten, bis man es vorlegen könne.

Doch seit der Bundestagswahl sind nun auch schon wieder 50 Tage vergangen, das Gutachten ist immer noch nicht da. Stattdessen erklärte das Bundesinnenministerium auf Tagesspiegel-Anfrage, das Gutachten könne überhaupt nicht vorgelegt werden. Es sei nämlich noch gar nicht fertig.

Über diesen Skandal haben wir kürzlich ausführlich berichtet. Doch die Ungeheuerlichkeiten hören hier nicht auf.

Ein zentraler Grund, weshalb das Gutachten immer noch nicht vorliegt, ist das Versäumnis von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), den wichtigsten Posten innerhalb der Bundesbehörde neu zu besetzen: nämlich den ihres Präsidenten. Seit dem Rückzug von Thomas Haldenwang im November 2024 ist er verwaist.

Dabei hatte Faeser versprochen, den Posten so schnell wie möglich nachzubesetzen – und dabei auch die Dringlichkeit genau dieses Schrittes betont. Im November erklärte sie gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), sie halte es „nicht für verantwortbar, dass wir das Amt in diesen Zeiten mit so großen Bedrohungen für unsere innere Sicherheit über eine längere Zeit nicht besetzen“. Recht hatte sie.

Deshalb versprach Faeser damals: „Ich werde über die Nachfolge von Thomas Haldenwang im Amt des Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz so schnell wie möglich entscheiden. Und das bedeutet: vor der Bundestagswahl und möglichst noch in diesem Jahr.“ 

Doch Nancy Faeser brach ihr Wort. Stattdessen entschied sich die Bundesregierung, den Spitzenposten zur Verhandlungsmasse künftiger Koalitionsverhandlungen zu machen. Zu dem Zeitpunkt gehörten noch SPD und Grüne der Bundesregierung an.

Ein folgenreicher Wortbruch

Kommuniziert wurde dies zunächst nicht. Erst im März erklärte das Innenministerium gegenüber dem Tagesspiegel, die wichtige Personalentscheidung bleibe „der neuen Bundesregierung vorbehalten“. Eine Begründung für den radikalen Sinneswandel nannte das Ministerium nicht.

Faesers Wortbruch hat Folgen. Denn aus Sicherheitskreisen heißt es nun, das AfD-Gutachten werde frühestens vorgestellt, wenn der Posten des Behördenchefs neu besetzt ist, was wiederum erst nach Vereidigung eines neuen Innenministers geschehen kann, denn dieser muss Haldenwangs Nachfolger ernennen.

Sollte dies zutreffen, bedeutet das: Die Weigerung der Bundesinnenministerin, den Posten endlich zu besetzen, hat auf direktem Weg dazu geführt, dass das AfD-Gutachten heute nicht vorliegt.

Als Nancy Faeser 2021 den Ministerposten übernahm, hatte ich ganz kurz Hoffnung, ihre Amtszeit würde eine andere Handschrift tragen als die ihres Vorgängers Horst Seehofer (CSU). Denn sie hatte sich als innenpolitische Sprecherin der hessischen SPD-Landtagsfraktion und als engagierte Obfrau im dortigen NSU-Untersuchungsausschuss Verdienste erworben.

Nicht das einzige Versagen der Innenministerin

Meine Hoffnung erwies sich schnell als unbegründet. Die zahlreichen Arten, auf die Nancy Faeser als Innenministerin komplett versagte und Antidemokraten so das Leben erleichterte, lassen sich nicht alle in einer einzigen Kolumne darstellen.

Deshalb nur ein Beispiel: Faeser versäumte es, die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ zu verbieten. Der Verfassungsschutz hatte diese bereits im April 2023 als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft. Da es sich nicht um eine Partei handelte, hätte Faeser die „Junge Alternative“ nach Vereinsrecht verbieten können. Das Vereinsvermögen wäre eingezogen, das Aufbauen einer Ersatzorganisation unter Strafe gestellt worden. Exakt so, wie dies zum Beispiel mit Rocker- oder Reichsbürgergruppen erfolgreich praktiziert wird.

Stattdessen wartete das Innenministerium ab, bis sich die Junge Alternative, um die Überfälligkeit ihres Verbots wissend, im Februar 2025 selbst auflöste.

Das allein durch Faesers Nichtstun möglich gewordene Manöver der Rechtsextremen nutzt das Innenministerium nun übrigens ernsthaft als Begründung, um das eigentlich bereits fertige AfD-Gutachten doch noch einmal aufzuschnüren: Man müsse jetzt halt abwarten und im Gutachten ergänzen, wie ehemalige Mitglieder der Jungen Alternative nach der Selbstauflösung künftig innerhalb der AfD agieren werden.

Das Stillhalten des Vizepräsidenten

Für ihre Inaktivität hat Faeser aufseiten des Bundesamts für Verfassungsschutz einen perfekten Counterpart gefunden: Solange die Stelle von Thomas Haldenwang nicht nachbesetzt ist, wird das Amt unter anderem von Vizepräsident Sinan Selen geleitet. Aus Sicherheitskreisen heißt es, dessen Neigung zur Passivität sei geradezu verstörend. Eine Führungskraft mit derart geringer Eigeninitiative werde ganz sicher kein AfD-Gutachten verantworten.

Nancy Faeser und Sinan Selen haben eine riesige Chance verpasst: Sie hätten dem Bundesamt eine Imagekorrektur ermöglichen können. Das Gutachten nicht zu verschleppen, sondern endlich vorzulegen, hätte in der Bevölkerung neues Vertrauen aufbauen können – Vertrauen, dass der Geheimdienst durch sein Komplettversagen beim NSU-Komplex, seine Verhinderung einer gründlichen Aufarbeitung des Skandals und natürlich auch die katastrophale Amtsführung durch Hans-Georg Maaßen massiv beschädigte.

BfV-Vize Sinan Selen

© IMAGO/photothek.de/Felix Zahn

Nach Maaßens viel zu später Absetzung wurde Thomas Haldenwang Präsident. Dieser schaffte es binnen weniger Jahre, das Ansehen der Behörde zumindest punktuell wiederherzustellen. Haldenwang ist ein integrer und engagierter Akteur im Kampf gegen den Rechtsextremismus – eben genau das, was die Bevölkerung vom Leiter ihres Inlandsgeheimdienstes auch erwarten können sollte.

Für Haldenwang sprach zudem, dass er Vertrauen in seine Abteilungsleiterin Felor Badenberg hatte, die mit ihrem Team das AfD-Gutachten von 2021 erstellte. Badenbergs Mitarbeiter gingen gründlich, präzise und mit Nachdruck vor. So wurde die AfD zum Verdachtsfall. Die Partei wollte das Gutachten juristisch anfechten und scheiterte mit ihrem Versuch.

Warum sich das Hingucken lohnt

Die aktuelle Verschleppung des neuen Gutachtens hat den Ruf des Bundesamts in der Öffentlichkeit erneut beschädigt. In den sozialen Netzwerken lese ich Verschwörungstheorien, wonach der Verfassungsschutz in seiner Gesamtheit das AfD-Gutachten heimlich verhindern wolle und so einen geheimen Plan umsetze. Das ist kompletter Unsinn, und ich verstehe nicht, weshalb erwachsene Menschen solche Narrative verbreiten. Es ist nicht hilfreich.

Mit dem Verfassungsschutz verhält es sich wie mit den meisten Dingen im Leben: Es lohnt sich, hinzugucken. Und je intensiver man guckt, umso differenzierter und realistischer wird der eigene Blick.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist eine Bundesbehörde. Sie ist also, wie jede Behörde, keine homogene Masse. In ihr arbeiten sehr unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und auch unterschiedlichen Gründen, weshalb sie sich für diesen Berufsweg entschieden haben.

Leider erschwert Intransparenz das Hingucken. Bei Geheimdiensten ist Intransparenz naturgemäß ausgeprägt. Als Journalist frustriert mich das. Auf Anfragen bei der Pressestelle erhalte ich regelmäßig unbrauchbare Antworten wie: „Wir bitten Sie um Verständnis, dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz grundsätzlich nicht zu internen Arbeitsabläufen äußert.“

Zum Glück müssen Journalisten in der Bundesrepublik ihre Recherche nicht einstellen, sobald eine Pressestelle abblockt. Und wer recherchiert, erfährt erhellende Details. So durfte ich beim Verfassungsschutz immer wieder überzeugte Demokraten kennenlernen, denen die Bekämpfung von Rechtsextremismus ein zentrales Anliegen ist. Für dieses Anliegen sind sie bereit, sehr viele Überstunden zu leisten. Ihre Motivation ist simpel: Sie wollen auch künftig in einem Land mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung leben.

Solche Mitarbeiter haben übrigens auch das Gutachten von 2021 zusammengestellt. Darunter waren nicht nur Juristen und ausgebildete Verfassungsschützer, sondern auch Linguisten, Mathematiker, Politik- und Sozialwissenschaftler. Bis zu 60 Frauen und Männer. Sie freuten sich gemeinsam, als Gerichte die Versuche der AfD, gegen das Gutachten vorzugehen, zurückwiesen.

Freundentränen und Pizza für alle

Als im Mai 2024 schließlich das Oberverwaltungsgericht in Münster die Berufungsklage der AfD zurückwies, versammelten sich die Macher des Gutachtens anschließend noch einmal im Büro. Thomas Haldenwang bestellte zur Feier des Tages Pizza für alle. Es flossen Tränen der Freude.

Felor Badenberg hat die Behörde leider inzwischen verlassen, ist aktuell Justizsenatorin in Berlin. Seit Badenberg und Haldenwang weg sind, gibt es nach Einschätzung aus Sicherheitskreisen niemanden mehr, der noch die Courage hätte, das Gutachten zu veröffentlichen.

Besonders hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang immer wieder der fehlende Eifer des aktuellen Vizepräsidenten Sinan Selen (CDU). Dass unter diesem Mann kein Gutachten veröffentlicht werde, sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit, heißt es.

So oder so wird das Gutachten kommen, nur eben mit großer Verspätung. Die Befürchtung, der nächste Innenminister könnte das Schriftstück – aus welchem hypothetischen Grund auch immer – im Giftschrank verschwinden lassen, ist unrealistisch. Innerhalb der Behörde existieren bereits viel zu viele Datensätze des Gutachtens mit sämtlichen Belegen.

Sobald das AfD-Gutachten also vorliegt und die rechtsextreme Partei endlich auch vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft ist, hat es die Bundesrepublik viel leichter, Extremisten der AfD vom Staatsdienst fernzuhalten, etwa bei sicherheitsrelevanten Tätigkeiten. Für die jeweils nötigen Einzelfallprüfungen wird der Begründungsaufwand dann nämlich deutlich geringer ausfallen.

Vor allem wird die Hochstufung massiv die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es endlich zum AfD-Verbotsverfahren kommt. Viele Unions- und SPD-Abgeordnete haben intern bereits angekündigt, im Bundestag für ein solches Verfahren zu stimmen, sobald der Verfassungsschutz die AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft hat.

Vorbehalte auch unter Demokraten

Ich weiß, dass es Vorbehalte gegen ein Verbotsverfahren gibt, oft sogar Ängste. Diese rühren meiner Ansicht nach daher, dass sich bestimmte Politiker, die sich mit der Materie noch gar nicht oder jedenfalls kaum befasst haben, regelmäßig in der Öffentlichkeit gegen ein Verbot aussprechen.

Ihre Argumente basieren nicht auf Fakten, sondern auf Geraune und eigenen Befindlichkeiten. Diese Politiker verbreiten ihre eigenen diffusen Sorgen weiter, obwohl es doch eigentlich ihre Aufgabe wäre, sich zunächst gründlich zu informieren. Zum Beispiel haben sie bis heute nicht die beiden vorherigen Gutachten des Bundesamts über die AfD gelesen (was sie hier und hier leicht nachholen könnten).

Wer sich mit der Materie beschäftigt, begreift, dass die meisten Sorgen vor einem möglichen Scheitern des Verbotsverfahrens unbegründet sind. Über manche von ihnen habe ich vorige Woche hier geschrieben.

Über andere werde ich Ende Mai auf der re:publica sprechen dürfen. Der Vortrag trägt den Titel „Four more years“. Das ist die Zeit, die uns jetzt noch bleibt, um die Rechtsextremen nachhaltig zurückzudrängen. 

Eine Sorge lässt sich nicht in Luft auflösen: jene, das Verbotsverfahren könne trotz der erdrückenden Beweislast dennoch scheitern, und zwar aus einem Grund, von dem wir heute noch gar nichts ahnen.

Diese Sorge kann ich nachvollziehen. Doch man sollte sie unbedingt in Relation setzen zu all den Sorgen, die wir als Individuen und als Gesellschaft haben werden, sollte die AfD 2029 noch einmal zur Bundestagswahl antreten. Spätestens dann wird es nämlich ganz sicher keine Brandmauer mehr geben, auch nicht auf Bundesebene. Wahrscheinlich käme die AfD dann an die Macht.

Die Angst vor dem Verbotsverfahren kommt mir mittlerweile vor, als säße man in einem Wagen, der vom Weg abgekommen ist und jetzt unkontrolliert einen Abhang herunterbrettert. Aber niemand will die Bremse ziehen, denn es könnte sich ja herausstellen, dass diese Bremse defekt ist.

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