Pier Paolo Pasolini: Literat, Filmemacher, Provokateur
Mord an Regisseur Pasolini "Ich weiß, wer ihn getötet hat"

David Grieco, Jahrgang 1951, ist Regisseur, Drehbuchautor und Journalist. Der gebürtige Römer war 16 Jahre alt, als Pasolini ihm eine Rolle in dessen Film "Teorema" auf den Leib schrieb. Grieco stellte schnell fest, dass er kein Schauspieler sein möchte - und wurde Assistent von Pasolini sowie von Bernardo Bertolucci.
Rom an Allerseelen 1975, ein regnerischer Samstag, 22.30 Uhr: Pier Paolo Pasolini gabelt vor dem Termini-Bahnhof Pino Pelosi auf. Der Skandalregisseur, 53, braust mit dem Stricher, 17, im metallicgrauen Alfa Romeo Richtung Meer nach Ostia. Auf einem verdreckten Bolzplatz, zwischen Unkraut, Schutt und Baracken, kommt es zum Sex für 20.000 Lire. Und zur Bluttat.
Als der Freier gewalttätig wird, schlägt Pelosi ihn zusammen, schnappt sich den Alfa, überfährt Pasolini beim Wenden aus Versehen. Um 1.30 Uhr gerät er in eine Polizeikontrolle und gesteht die Tat wenig später. So weit die offizielle Version.
Der bekennend schwule Provokateur, niedergemetzelt in Notwehr von einem Strichjungen: Das grausige Ende Pasolinis in der Nacht auf den 2. November 1975 hätte seinem brutalen Lumpenproletariatsroman "Una vita violenta" entstammen können. Die jahrelang verbreitete Lesart des Mordfalls bedient alle Klischees - und hat mit der Realität wohl wenig zu tun.
Obwohl alles gegen eine Alleintäterschaft sprach, wurde Pino Pelosi, genannt "la rana" ("der Frosch"), 1979 zu neun Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Seit 40 Jahren rätselt Italien, wer wirklich hinter dem Mord steckt. Jetzt meldet sich David Grieco zu Wort, Freund und Mitarbeiter von PPP, wie Pasolini oft abgekürzt wurde. Und will die wahren Schuldigen ausgemacht haben. "Ich weiß, wer ihn getötet hat. Ein Staatsverbrechen war das", sagt er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
"Die Wahrheit über den Tod hinaus" lautet der programmatische Untertitel von Griecos jüngstem Buch "La Macchinazione" (Die Machenschaft). Der gleichnamige Film soll im Februar 2016 starten, eine Kopie hat Grieco bereits an Berlinale-Chef Dieter Kosslick geschickt.
Mordakte Pasolini: Spuren verwischt, Zeugen ignoriert
Mal wieder einer, der wissen will, wie es gewesen ist. Einer aus der Phalanx der Pasolini-Deuter, die den Verschwörungstheoretikern seit vier Jahrzehnten regelmäßig Frischfutter vor die Füße werfen. Was ist dran an den Vorwürfen Griecos?
Akribisch hat der Regisseur und Journalist, der Pasolini "Vater, Bruder, Quell der Inspiration" nennt, Puzzleteil um Puzzleteil zusammengetragen, Zeugen befragt, Indizien aufgehäuft. Er richtet den Scheinwerfer auf einen der mysteriösesten Mordfälle Italiens - dessen juristische Aufarbeitung von Anfang an höchst fragwürdig war.
Noch in der Tatnacht verhedderte sich Pelosi in Widersprüche. Der Athlet Pasolini war bestialisch hingerichtet worden - dazu wäre der 1,70 Meter große, 60 Kilo leichte Junge schon rein körperlich kaum fähig gewesen. Zumal er wenige Kampf- und Blutspuren aufwies, der Körper des Opfers dagegen von Brüchen, Wunden, Prellungen übersät war. Beweismittel verschwanden, Spuren wurden verwischt, wichtige Zeugen ignoriert. Ein zu ehrgeizig ermittelnder Polizist wurde versetzt. Alles sprach dafür, dass mehrere Menschen am Tatort waren. Und doch wurde nur der "Frosch" belangt.
"Pasolini hat seinen Tod gesucht", befand damals achselzuckend Giulio Andreotti, konservativer Politiker der Partei Democrazia Cristiana (DC) - und sprach vielen Landsleuten aus der Seele. Der skandalumwitterte Intellektuelle hatte sich mit allen angelegt, ob mit Katholiken oder Faschisten, Linken oder Rechten, Studenten oder Kapitalisten. Mit selbstzerstörerischer Radikalität hatte Pasolini die Gesellschaft gepiesackt, die regierende DC des Terrors und der Korruption bezichtigt.
33 Mal stand er wegen seiner Provokationen vor Gericht, flog sogar aus der Kommunistischen Partei. Und wegen seines letzten Films "Salò oder Die 120 Tage von Sodom" erhielt Pasolini Morddrohungen von Neofaschisten aus ganz Europa. Doch die Ultrarechten trifft laut Grieco keine Schuld. Und auch Pelosi nicht, der 2005 überraschend sein Geständnis widerrief und drei Unbekannte mit süditalienischem Akzent belastete.
Der Lockvogel und die Hintermänner
"Pelosi war nur der Lockvogel", sagt Grieco. Die eigentlichen Killer stammen seinen Recherchen zufolge aus dem Umfeld der Vorstadgang, die ab 1976 als "Banda della Magliana" Rom terrorisierte. Doch auch sie handelten laut Grieco nur im Auftrag. Die wahren Hintermänner des Verbrechens sieht er in der Führungsriege Italiens, damals angeblich infiltriert vom US-Geheimdienst CIA, dem Nato-Netzwerk Gladio sowie der italienischen Freimaurerloge P2.
Pasolini wurde nach Griecos Überzeugung also just von jenen ominösen Zirkeln ermordet, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren, Italiens "Bleierner Zeit", blutige Anschläge mit Hunderten von Toten verübten. "Staatsterrorismus" nennt Grieco diese Form der Gewalt - mit dem Ziel, die Regierung zu stärken und den in Italien damals besonders populären Kommunismus einzudämmen.
Was wie ein wirrer Thriller klingt, ist in weiten Teilen belegt: 1990 bestätigte der damalige Regierungschef Andreotti öffentlich die Existenz der mit CIA-Hilfe gegründeten Organisation Gladio. Die Attentate jener Jahre, zitierte DER SPIEGEL das Fazit einer Untersuchungskommission des Senats im Jahr 2000 , "wurden organisiert oder unterstützt von Personen in Institutionen des italienischen Staats und Männern, die mit dem amerikanischen Geheimdienst in Verbindung standen". Und 2005 legte der Historiker Daniele Ganser eine umfassende Studie über die Verwicklungen von staatlichen Eliten, Terrorismus, Geheimdiensten und Geheimorganisationen im Westeuropa des Kalten Kriegs vor.
Doch warum soll gerade Pasolini einem politischen Mordkomplott zum Opfer gefallen sein? "Er wusste zu viel. Er klagte an, nannte Namen und Vornamen", so Grieco. In Gefahr begeben habe sich Pasolini vor allem mit seinem letzten Buch "Petrolio". Es sollte die kriminellen Machenschaften von Eugenio Cefis, damals Chef des Energieriesen Eni, enthüllen und blieb unvollendet.
Auch mit Zeitungsartikeln machte sich Pasolini Feinde. "Ich weiß. Ich kenne die Namen der Verantwortlichen", schrieb er im "Corriere della Sera" vom November 1974. Er wisse, wer die Attentate von Mailand 1969, von Brescia und Bologna Anfang 1974 verübt habe. Welche Mächtigen sich für einen "antikommunistischen Kreuzzug" mit der CIA eingelassen hätten. "Ich kenne alle Namen und alle Fakten", so PPP. "Aber ich habe keine Beweise."
Auch Grieco fehlt es an harten Beweisen; wirklich neue Erkenntnisse sucht man in "La Macchinazione" vergeblich. Was der Autor bietet, ist lediglich eine Fülle von Argumenten, angereichert durch persönliche Erinnerungen. Etwa jene an die Begegnung mit Laura Betti: "Stoppe ihn! Stoppe ihn, bevor es zu spät ist!" Mit diesen Worten habe sich die Schauspielerin an ihn gewandt, erinnert sich Grieco an ein "gruseliges" Treffen. Pasolini, der mit am Tisch saß, habe nur gelächelt.
"Pier Paolo wird gewinnen"
Der damalige Jungredakteur vermochte den notorischen Unruhestifter nicht zu stoppen. Umso vehementer tritt er nun dafür ein, die Mörder zu enttarnen. Griecos Version der Tat: Pasolini sei in eine raffinierte Falle gelockt worden. Nachdem römische Kriminelle im Herbst 1975 mehrere Rollen des noch nicht erschienenen Skandalfilms "Salò oder Die 120 Tage von Sodom" entwendet hatten, habe man Pasolini die Rückgabe in jener Nacht versprochen. Von Pelosi sei er nach Ostia gelotst worden - wo Auftragskiller ihn kaltblütig ermordet hätten.
2010 wurde der Fall auf Drängen eines Cousins von Pasolini erneut aufgenommen. Fünf verschiedene DNA-Spuren konnten an der Kleidung des Opfers identifiziert werden. Aber nicht, zu wem sie gehören und von wann genau sie stammen. Im Mai 2015 schlossen die Richter die Akte Pasolini wieder - ohne Ergebnis.
Grieco drängt die italienische Regierung, sich abermals mit dem ungelösten Fall zu befassen. 6000 Unterschriften zählt die Petition bereits, die er gemeinsam mit dem Anwalt Stefano Maccioni ins Netz gestellt hat. Für November ist ein Treffen mit der Präsidentin der Abgeordnetenkammer anberaumt.

David Grieco:
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Kindle bei Amazon: David Grieco "La macchinazione: Pasolini. La verità sulla morte (Saggi italiani)" Buch bei Thalia David Grieco "La macchinazione: Pasolini.""Pier Paolo ist das einzige Opfer all jener staatlichen Terrorakte, das immer noch spricht, das über seinen Tod hinaus lebendig ist. Er wird gewinnen", sagt Grieco zuversichtlich. Zwei Wochen vor Pasolinis Tod sah er seinen väterlichen Freund ein letztes Mal. Sie trafen sich per Zufall in der römischen Via della Croce und tranken einen Kaffee. Aufgeregt wie ein Kind, mit strahlenden Augen habe Pasolini ihm vom Alfa 2000 GT Veloce erzählt, den er kaufen wollte - "eine wunderschöne Erinnerung".
Die Grieco sich nicht durch den Anblick der entstellten Leiche verderben lassen wollte: Als einer der Ersten traf er an jenem Morgen des 2. November 1975 am Tatort ein. Der Vater seiner damaligen Freundin, ein berühmter Gerichtsmediziner, untersuchte gerade den notdürftig von einem Laken verdeckten Leichnam und bedeutete Grieco näherzutreten, um Abschied von Pasolini zu nehmen. Was Grieco entschieden ablehnte.
"Vergesst unverzüglich die großen Siege und fahrt fort, unerschütterlich, hartnäckig, ewig in Opposition, zu fordern: fahrt fort, euch mit dem Andersartigen zu identifizieren, Skandal zu machen, zu lästern!"
Diese Rede schrieb Pasolini kurz vor seinem Tod, er wollte sie am 4. November 1975 vor dem Kongress der Radikalen Partei in Florenz halten. Die Mission des David Grieco - sie scheint von eben dieser Hartnäckigkeit beflügelt.