Nando von Arb zeichnet seine Mutter als Vogel, der die Mitglieder der Patchworkfamilie mit seinen Flügeln schützt. (Bild: Edition Moderne)

Nando von Arb zeichnet seine Mutter als Vogel, der die Mitglieder der Patchworkfamilie mit seinen Flügeln schützt. (Bild: Edition Moderne)

Die Eltern, diese unbekannten Wesen

Väter und Mütter stehen im Mittelpunkt zahlreicher neuerer Comics. Die Autoren versuchen dabei nicht nur, problematische familiäre Beziehungen aufzuarbeiten. Die Biografie der Eltern bietet oft auch einen Zugang zur Zeitgeschichte.

Christian Gasser
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Die Mutter liegt sterbenskrank im Spital. Erst jetzt erfährt Antonio Altarriba – und nur durch Zufall –, dass sie ihren linken Arm nicht bewegen kann. Wie sie nun eingesteht, ist das von jeher so. Fassungslos fragt sich Altarriba, wie das möglich sei: «Meine Mutter hat ihr Leben lang ihren linken Arm nicht bewegt . . ., und ich merke es erst kurz vor ihrem Tod?» Die erste Szene von «Der gebrochene Flügel» ist stark. Sie bringt die Diskrepanz zwischen familiärer Intimität und Distanz bildhaft zum Ausdruck.

«Der gebrochene Flügel» ist kein Einzelfall. Nach dem autobiografischen Ansatz, der den Autoren-Comic jahrelang geprägt hat, erscheint nun eine ganze Reihe von Werken, die das Leben der Mütter und Väter in den Mittelpunkt setzen. Beweggründe dafür gibt es viele. Entsprechend unterschiedlich fallen die Formen dieser Annäherung aus.

Verlogenes Familienambiente

Alison Bechdel etwa wählte in ihrem epochalen «Fun Home» (2006) einen sehr persönlichen Ausgangspunkt. In ihrer nüchternen Abrechnung mit den Lebenslügen in ihrer dysfunktionalen Familie stellte sie die verheimlichte Homosexualität ihres Vaters in den Fokus, die auch ihre Pubertät und Sexualität verkorkste. Ihre Chronik einer bedrückenden Kindheit mauserte sich zum Bestseller, den das Nachrichtenmagazin «Time» als «bestes Buch des Jahres» feierte.

Etienne Davodeaus Motivation hingegen war eher historiografischer Art, als er seine Eltern für «Les mauvaises gens. Une histoire de militants» (2005) interviewte: Er wollte ihr politisches Engagement im Kontext der in Frankreich starken katholischen Arbeiterbewegung zwischen 1950 und 1980 verstehen. So entwarf er damit das Porträt einer ganzen Generation.

Im Falle von Altarribas «Der gebrochene Flügel» wiederum ist das private Leben mit der Geschichte verstrickt. Nach der fulminanten Eingangsszene erwartet man eigentlich die Aufarbeitung der Mutter-Sohn-Beziehung. Stattdessen legt der Sohn als auktorialer Erzähler eine lückenlose Lebensgeschichte der Mutter vor und hält fest, wie die einfache Frau in einem ländlichen, konservativen und katholischen Milieu aufwuchs. Seine Schilderung hat der Zeichner Kim mit realistischen und detailreichen Zeichnungen illustriert.

In «Der Gebrochene Flügel» kombiniert Antonio Altarriba die Biografie der Mutter mit teils fiktiven Episoden der spanischen Geschichte. (Bild: Avant-Verlag, Berlin)

In «Der Gebrochene Flügel» kombiniert Antonio Altarriba die Biografie der Mutter mit teils fiktiven Episoden der spanischen Geschichte. (Bild: Avant-Verlag, Berlin)

Die Mutter in der Männerwelt

Es scheint ein stilles, frommes Frauenschicksal in einer Männerwelt zu sein, ein Leben voller Entbehrungen, Armut, enttäuschter Hoffnungen und patriarchaler Unterdrückung. Und doch streifte die Mutter die grosse Geschichte: Sie arbeitete als Haushälterin eines Generals, dessen Tod bis heute nicht geklärt ist.

In Altarribas Erzählung konspirierte der General gegen Franco und wurde von dessen Heeresminister hingerichtet. Dieses erfundene Detail legt nahe, dass sich der in Spanien als Krimiautor bekannte Altarriba auch in der Vita seiner Mutter Freiheiten herausnahm. Und so beginnt man als Leser zu zweifeln: Wie glaubwürdig ist es etwa, dass diese fromme und prüde Frau anderen erzählt, wie sie als Jugendliche vergewaltigt wurde und gleich danach ihren Papa beim Beischlaf mit einer Nachbarin ertappte?

Statt sich einer persönlichen Reflexion zu stellen, verwendet Altarriba – wie schon im Vorgänger «Die Kunst zu fliegen» über seinen kommunistischen Vater – die Person der Mutter primär als Prisma zur Veranschaulichung der bewegten spanischen Geschichte. Über das Familienleben erfährt man so vergleichsweise wenig. Und der gelähmte Arm? Der Vater wollte die Neugeborene gleich nach dem Tod ihrer Mutter im Wochenbett erschlagen. Glücklicherweise traf er nur den linken Arm.

Ein fragmentarisches Umkreisen

Bis heute arbeitet der norwegische Comic-Autor Steffen Kverneland am alten Pult seines Vaters. Wo dieser Erfindungen skizzierte und entwickelte, zeichnet Kverneland heute Comics. Damals sass er manchmal auf dem Schoss seines Vaters – heute schaut ihm sein eigener Sohn beim Arbeiten zu. Die Arbeitsfläche dieses Pults, ein materielles Bindeglied zwischen Vater und Sohn, wird zur Projektionsfläche, auf der sich Vergangenheit und Gegenwart verschränken.

Der Vater Odd Kverneland nahm sich 1981 das Leben. Steffen war 18-jährig. Auf der Suche nach Erklärungen umkreist er in «Ein Freitod» den Suizid des Vaters. Dabei geht er von seinen Erinnerungen aus, von Träumen, aber auch von Fotos, alten Zeichnungen, Briefen und Gesprächen mit Verwandten.

Der Vater und sein Sohn in «Der Freitod» von Steffen Kverneland. (Bild: Avant-Verlag, Berlin)

Der Vater und sein Sohn in «Der Freitod» von Steffen Kverneland. (Bild: Avant-Verlag, Berlin)

Erinnerungen speichern wir in Bildern ab, weniger in Worten. Deshalb eignet sich der Comic ausgesprochen gut für Erinnerungsarbeit. Allerdings wird sich Kverneland schon bald bewusst, dass er den Bildern ebenso wenig trauen kann wie den Erinnerungen. Und bald sieht er ein, dass sein Wissen über seinen Vater lückenhafter und oberflächlicher ist als erwartet.

Im Gegensatz zu Altarriba schliesst Kverneland die Lücken nicht. Er erzählt keine Biografie, sondern schafft ein zerstückeltes, fragmentarisches Bild seines Vaters und ihrer Beziehung. Er behauptet nichts, vielmehr formuliert er Fragen und Mutmassungen. Er setzt, wenn er nicht weiterkommt, neu an. Er korrigiert sich, wiederholt Szenen und Bilder, variiert sie; und kommt so seinem Vater immer näher.

Um sein Nachdenken sichtbar zu machen, nutzt er das ganze Spektrum zwischen opulent ausgemalten Bildern und brüchigen Skizzen oder gar Leerflächen. «Ein Freitod» erweist sich so als ein ausgesprochen visuelles Buch. Es unterstreicht die Bedeutung der Zeichnungen für Gedächtnis und Reflexion.

Krisenanfälliges Patchwork

Als entschieden ichbezogen und subjektiv erscheint der junge Schweizer Nando von Arb in «Drei Väter»: In einer Reihe von launigen, witzigen, aber immer melancholisch grundierten Anekdoten schildert er aus kindlicher Perspektive sein Aufwachsen in einer Patchworkfamilie, bestehend aus der liebevollen, aber oft überforderten Mutter und ihren Lebensabschnittspartnern: Nandos leiblicher Vater; Kiko, der Vater von Nandos ältester Halbschwester; und Zelo, der derzeitige Freund der Mutter, der unerwartet erkrankt.

Dass er keinen Anspruch hat auf eine realistische Kindheitsgeschichte, macht Nando von Arb mit seinen stilisierten Zeichnungen und der metaphorischen Gestaltung der Erwachsenen deutlich. Seine Mutter ist ein Vogel, der seinen Nachwuchs unter seinen Flügeln schützt, aber auch verletzlich ist. Der leibliche Vater ist ein Fuchs, Zelo ein wuchtiger Felsbrocken mit der Aura eines archaischen Kunstwerks.

Von Arb nutzt die Zeichnung, um seine Erinnerungen und Erfahrungen visuell zu vermitteln, ohne den geradezu ballettartigen Bilderfluss durch zu viele Textbalken zu behindern. So bleibt er möglichst nahe an der Perspektive eines kleinen Buben. Stilistisch gehört «Drei Väter» zu den verblüffendsten, eigenwilligsten und einfallsreichsten Comics seit langem. Diese Kindheit war nicht immer einfach, die familiäre Situation war unruhig und krisenanfällig und forderte von den Kindern einiges ab. Doch von Arb schildert sein Aufwachsen mit so viel Schmiss, Leichtigkeit und Komik, dass man auch den Reichtum dieser familiären Konstellation spürt.

Steffen Kverneland: Ein Freitod. Avant-Verlag, Berlin. 120 S. – Antonio Altarriba / Kim: Der gebrochene Flügel. Avant-Verlag, Berlin. 264 S. – Nando von Arb: Drei Väter. Edition Moderne, Zürich. 304 S.