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Vergesst die Armen nicht – für ein Konjunkturprogramm gegen Armut!

Mit einer repräsentativen Umfrage geht der Paritätische der Frage nach, ob die in Hartz IV und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vorgesehenen Regelsätze zum Leben ausreichen. 80 Prozent der Bevölkerung sind der Ansicht: Nein, es braucht mehr Geld. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, kommentiert im folgenden Beitrag die Umfrageergebnisse und ordnet sie in die aktuelle Diskussion um die Bewältigung der Coronakrise und die Debatten um Konjunkturpakete für die deutsche Wirtschaft ein.

Fragt man Menschen auf der Straße, sind es im Durchschnitt 728 Euro im Monat, die ein Alleinstehender – ohne Wohnkosten – braucht, um seinen Lebensunterhalt zu decken. Es sind nicht 432 Euro, wie die Statistiker des Bundesarbeitsministeriums glauben machen wollen und wie sie derzeit mit dem Regelsatz in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung regierungsamtlich zur Sicherung des "soziokulturellen Existenzminimums" vorgesehen sind. Dass man mit maximal 432 Euro tatsächlich über den Monat kommen könnte, glauben gerade einmal 20 Prozent der Befragten.

Dass man sich als alleinlebender erwachsener Mensch von nur 150 Euro im Monat ausgewogen und gesund ernähren kann, glauben sogar nur 14 Prozent. Doch ist dies genau der Betrag, der nach den Berechnungen des Arbeitsministeriums dafür vorgesehen ist. Im Schnitt gehen die Befragten von etwas über 300 Euro aus, die ein Erwachsener pro Monat für eine gesunde und ausgewogene Ernährung benötigt.

108 Euro im Schnitt pro Monat braucht man ihrer Ansicht nach für Kleidung. Der Regelsatz sieht gerade einmal 37,84 Euro vor. Das halten lediglich 5 Prozent der Bevölkerung für hinreichend.

Für Körperpflege- und Drogerieprodukte geben die befragten Personen im Durchschnitt ein benötigtes Budget von 47 Euro an. Im Regelsatz ist für Körperpflegeartikel lediglich ein Anteil von 15,12 Euro pro Monat veranschlagt. Nur 10 Prozent gehen davon aus, dass man mit weniger als 16 Euro im Monat für entsprechende Produkte hinkommt. Die Hälfte dagegen meint, dass sogar mehr als 50 Euro monatlich notwendig sind.

Die Regelsätze in Hartz IV und Altersgrundsicherung bedeuten bittere Not

Im Grunde können die heute vorgelegten Ergebnisse der repräsentativen Umfrage zu den Kosten des täglichen Bedarfs nicht überraschen: Das, was von der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung als notwendiger Betrag angesehen wird, um den alltäglichen Lebensunterhalt zu decken, geht weit über das hinaus, was die Bundesregierung Menschen im Bezug von Hartz IV oder Altersgrundsicherung zubilligt. Nur ein äußerst kleiner Teil der Befragten nennt Beträge, wie sie sich derzeit in den Regelsätzen abbilden.

Es ist uns gerade in diesen Corona-Zeiten ein Anliegen, den politisch Verantwortlichen vor Augen zu halten, wie groß die Diskrepanz ist zwischen der Alltags-Expertise der Menschen in diesem Land und der vermeintlichen statistischen Expertise, nach denen die Regelsätze festgelegt werden.

Die Höhe der Regelsätze, dies zeigt unsere Umfrage einmal mehr in entblößender Klarheit, hat mit der Lebenswirklichkeit, mit Praxis und Alltagserfahrung der Menschen nichts zu tun. Die Regelsätze sind trickreich kleingerechnet, lebensfern und in keiner Weise bedarfsgerecht. Im Ergebnis handelt es sich bei den Regelsätzen um beschämende Armutssätze, die ein Leben mit Hartz IV oder in Altersgrundsicherung grundsätzlich zum mühseligen und zermürbenden Alltagskampf werden lassen. In Krisen-Zeiten wie jetzt während der Corona-Pandemie bedeuten die viel zu geringen Grundsicherungsleistungen bittere, existenzielle Not.

Wir haben bei aller großen Wertschätzung dessen, was die Bundesregierung in den letzten Wochen in sehr kurzer Zeit an Schutzmaßnahmen für viele auf den Weg gebracht hat, keinerlei Verständnis dafür, dass ausgerechnet für die Ärmsten keinerlei echte Hilfen bereitgestellt werden, obwohl corona-bedingte Belastungen gerade sie in existentielle Krisen stürzen. Wichtige Stützen wie das kostenlose Schulessen oder Verpflegung durch Tafeln sind im März zum Teil schlagartig weggefallen. Genauso schlagartig wurde deutlich, dass Schulessen und Tafeln schon lange keine Add-ons mehr sind, sondern echte Armenspeisung, für die allermeisten unverzichtbar, weil die Regelsätze es alleine nicht hergeben. Hinzu kommen zum Teil sprunghafte corona-bedingte Preissteigerungen für Lebensmittel, die mit den Kleinbeträgen, die für Ernährung vorgesehen sind, ebenfalls nicht aufgefangen werden können. Schließlich kommen Aufwendungen für teure Hygieneartikel und Schutzmasken hinzu - bei Regelsätzen von je nach Alter zwischen 250 und 432 Euro ein echter Kostenblock, für den nichts im Budget ist.

Die Möglichkeit, dass Schulcaterer das Essen nun zu den Kindern nach Hause bringen, ist nach innerverbandlichen Recherchen bei unseren Kreisgruppen im Übrigen praktisch vernachlässigenswert und nicht mehr als ein politisches Placebo: Die Regelungen sind praktisch kaum umsetzbar, wenn dennoch irgendwo versorgt wird, dann häufig trotz der Regelungen, nicht deswegen.

Es braucht finanzielle Soforthilfe für die Ärmsten

Gerade jetzt, wo Milliarden schwere Konjunkturprogramme diskutiert und vorbereitet werden, erneuern wir unsere Forderung an die Bundesregierung nach sofortigen Hilfen für alle Bezieher*innen existenzsichernder Leistungen.

Wir fordern:

  • die sofortige Erhöhung der Regelsätze in Hartz IV und Altersgrundsicherung um 100 Euro pro Kopf und Monat bis zur ohnehin gesetzlich geforderten Neufestsetzung der Regelsätze zum 1.1.2021,
  • eine sofortige Einmalzahlung an alle Grundsicherungsbeziehenden von 200 Euro,
  • eine sofortige entsprechende Leistungsanpassung beim BAföG und im Asylbewerberleistungsgesetz.

Bereits Anfang Mai haben wir gemeinsam mit Vertreter*innen aus DGB, Wohlfahrts- und Sozialverbänden, Verbraucherschutzorganisationen, dem Deutschen Kinderschutzbund und dem Deutschen Kinderhilfswerk unter dem Motto #100EuroMehrSofort einen Aufruf für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und für Solidarität gerade auch mit den Ärmsten vorgelegt. Zwischenzeitig haben sich aktuell schon mehr als 30 Bundesorganisationen hinter die Forderung nach finanzieller Soforthilfe für Menschen, die auf existenzsichernde Grundleistungen angewiesen sind, versammelt - von Attac, Foodwatch und Campact über AWO und Diakonie bis zu SoVD und dem VDK Deutschland, die zusammen Millionen Haupt- und Ehrenamtliche vertreten.

Dass die Große Koalition aus SPD und Union bis heute mauert und trotz des enormen zivilgesellschaftlichen Drucks ausgerechnet den Ärmsten in ihrer Not während dieser Krise hartnäckig finanzielle Hilfe verweigert, ist ein sozialpolitisches Armutszeugnis.

Konjunkturprogramme müssen wirkungsvoll, sozial und gerecht sein

Es ist schlechterdings nicht hinnehmbar, wenn auf der einen Seite anlässlich der Coronakrise Prämien für Wohlhabende für den Kauf von Neufahrzeugen diskutiert werden und auf der anderen Seite die Probleme der Ärmsten unter uns, derjenigen, die Corona tatsächlich noch weiter unter die Armutsgrenze drückt, faktisch völlig ausgeblendet werden.

Es ist auch nicht mehr vermittelbar, wenn ein einmaliger Kinderbonus aus der Gießkanne diskutiert wird, sogar für die Reichsten unter uns, während für eine Million Beziehende von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die in bitterer Not leben, überhaupt nichts getan wird.

Eine solche Krisenbewältigungspolitik ist weder akzeptabel, noch vernünftig. Im Gegenteil: Es ist unsozial und es ist ungerecht. Es trägt zur weiteren Abspaltung der Armen von dieser Gesellschaft bei.

Es ist darüber hinaus auch konjunkturpolitisch nicht nachvollziehbar, wenn ausgerechnet die Ärmsten bisher von der Bundesregierung weitgehend ignoriert werden. Jeder Cent, um den ich die Regelsätze coronabedingt kurzfristig erhöhe, geht sofort und zu 100 Prozent in den Konsum, während einkommensunabhängige Boni oder Prämien bei wohlhabenden Haushalten lediglich Mitnahmeeffekte erzeugen und die Sparquote erhöhen – verpulvertes Geld. Auch unter dem Aspekt der regionalen Verteilung sorgt eine Erhöhung der Regelsätze zuverlässig dafür, dass die konsumstimulierenden Mittel vor allem in Regionen fließen, die besonders von Armut betroffen und damit besonders förderungswürdig sind.

Corona wirkt wie ein Brennglas, das soziale Schieflagen verschärft. Und: Corona birgt die reale Gefahr, dass unsere ohnehin tief gespaltene Gesellschaft an den Folgen der Krise auseinanderbricht. Menschen müssen ihr mühsam und wenig Erspartes aufbrauchen. Es sei daran erinnert, dass in Deutschland zwischen 30 und 40 Prozent der Haushalte praktisch von der Hand in den Mund lebt. Noch mehr Menschen werden Schulden machen müssen, einfach um ihren Alltag zu bewältigen. Die Quote der überschuldeten Menschen, die mit 10 Prozent jetzt schon erschreckend hoch ist, wird weiter steigen und die Zahl der Armen, derzeit bei 15,5 Prozent wird ebenfalls noch weiter in die Höhe gehen, wenn die Bundesregierung nicht sofort und massiv gegensteuert.

Die Konjunkturprogramme, die jetzt gestrickt werden, müssen sich nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch gesellschaftspolitisch bewähren. Sie müssen im Ergebnis und in ihrer Verteilungswirkung diese Gesellschaft zusammenhalten. Sie müssen die Menschen, so gut es geht, vor dem Absturz in die Armut bewahren, und die, die bereits in Armut sind, vor dem Fall ins Bodenlose. Gesellschaftspolitisch bewähren müssen sich die Hilfs- und Konjunkturprogramme aber auch insofern, als sie die Akzeptanz der Menschen finden müssen. Sie müssen mit anderen Worten wirkungsvoll, sozial und gerecht sein.

Deshalb unser dringender Appell: Vergesst die Armen nicht!

Weitere Informationen:
Umfrage-Ergebnisse: Regelsätze zu niedrig: Umfrage zu Kosten des täglichen Lebensunterhalts untermauert Notwendigkeit finanzieller Soforthilfen für die Ärmsten

Autor:
Ulrich Schneider

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de