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Neues vom Turmbau zu Babel

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 42/1993

Die Richter in Karlsruhe hatten eine Aufgabe zu bewältigen, vor die wohl noch kein seriöses Verfassungsgericht der Welt gestellt war. Ernsthaft konnten sie nicht erwägen, die Verträge von Maastricht in ihrer jetzigen Form abzulehnen und Neuverhandlungen zu verlangen. So bedienten sie sich des üblichen Richtertricks. Sie gaben der Bundesregierung grünes Licht und führten in ihrer 85 Seiten starken Begründung aus, warum sie eigentlich den Klägern hätten recht geben müssen.

Hätte Deutschland als einziges Land die schludrig und inkonsequent ausgehandelten Verträge zu Fall gebracht, wäre dies einer Katastrophe gleichgekommen. Dergleichen durfte man von den Richtern nicht erwarten.

Aber wie kam es dazu, daß die Richter in eine solche Lage gerieten? Weil in der Bundesrepublik bis in die Regierungsspitze hinein nicht ernsthaft über die Probleme, die zu Maastricht führten, diskutiert worden war. Die Wähler mußten arglos gehalten werden.

So billigte die Bundesregierung in Maastricht ein Monstrum, das weder einen Bundesstaat zum Ziel hatte noch einen föderativen Staatenbund. Den Richtern fiel dazu das schöne Wort »Staatenverbund« ein, sie konnten nicht gut, wie Margaret Thatcher, die Definition »künstlich geschaffener Mega-Staat« wählen. Da sie sich selbst bisher etliche Befugnisse zuerkannt hatten, die nicht in die Rubrik höchstrichterliche Selbstbeschränkung fallen, mußte nicht nur jetzt verhandelt werden; es sind weitere Klagen zu erwarten.

Alle Welt stimmt nun darin überein, daß die Regierungen und die Euro-Bürokratie ihre Mittel ausgereizt hätten. Der Bundespräsidentschaftskandidat der Union, Steffen Heitmann, weist darauf hin, daß Europa nicht von oben verordnet werden könne. Künftig müßten die Regierungen vor ihren Wählern genauer begründen und rechtfertigen, warum und mit welchen Zielen sie Hoheitsrechte abgeben wollen.

Aber hier liegt ja der Hase im Pfeffer. Man hat den Deutschen eindeutig zu verstehen gegeben, daß sie es seien, deren Mark man schwächen wolle, indem man sie vergesellschafte. Sogar Präsident Mitterrand hat sich in vornehmer Weise an diesem unlauteren Spiel beteiligt. Hätten er und seine Büchsenspanner das nicht getan, wäre Maastricht schon an dem Referendum der Franzosen gescheitert.

Le Figaro, altberühmte Tageszeitung Frankreichs, verglich Maastricht frohgemut mit dem Versailler Vertrag von 1919, der beträchtlich zum Zweiten Weltkrieg beigetragen hat. So ließ er sich vernehmen: _____« Die Gegner von Maastricht fürchten auch, daß die » _____« Einheitswährung und die europäische Zentralbank die » _____« Überlegenheit der Mark und der Bundesbank festigen » _____« würden. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn der » _____« Vertrag angewandt wird, muß Deutschland seine Geldmacht » _____« teilen, die es heute gebraucht und mißbraucht, indem es » _____« sich die Wiedervereinigung vom Ausland bezahlen läßt. » _____« »Deutschland wird zahlen«, sagte man in den zwanziger » _____« Jahren. Heute zahlt es: Maastricht, das ist der » _____« Versailler Vertrag ohne Krieg. »

Diese Argumentation war bei uns nicht werbewirksam. Auch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber schrieb an Kohl, er halte Maastricht für einen Irrweg.

Obwohl man sich im Kreise der Regierungschefs befriedigt zeigt, machen die Ministerialbeamten säuerliche Gesichter. Zu deutlich haben die Karlsruher Richter die Klippen des Vertrages aufgezeigt.

Sie haben im Geschichtsbuch nachgeblättert und herausgefunden, daß die stufenweise Entwicklung der nationalen Einheit Deutschlands im 19. Jahrhundert eben nicht durch einen vorherigen Währungsverbund oder auch eine Währungseinheit zustande gekommen ist. Offenbar meinen einige Richter, ohne eine vorhergegangene politische Union sei die gewollte Währungsunion überhaupt nicht zu verwirklichen, und dann müsse man sich eben neu zusammensetzen. Auch sei das Datum 1999 für die letzte Stufe der Währungsunion nicht »unter allen Umständen« verbindlich.

Letztlich dürfe »beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft« auch eine Lösung aus der Gemeinschaft möglich sein, als Ultima ratio gewissermaßen.

Dies klingt ein wenig weltfremd. Wohl ist möglich, ja wahrscheinlich, daß eine Stabilitätsgemeinschaft nicht zustande kommt. Als Inflations- und Interventionsgemeinschaft könnte sie sich aber etablieren; wie sollten die Deutschen dann noch aussteigen?

Gemeinhin sagt man über eine Politik nichts Gutes, wenn man sie für abenteuerlich erklärt. Maastricht ist solch ein Abenteuer, und dazu fällt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung der aparte Satz ein: »Wer nicht wagt, der verliert.«

Nicht ganz so leichtherzig haben das die Verfassungsrichter beurteilt. Sie behalten sich vor einzugreifen, wenn sie Grundrechte durch die Europa-Politik verletzt sehen. Und da man mit dem europäischen Gerichtshof in Luxemburg tatsächlich keine guten Erfahrungen gemacht hat, statuieren die Richter, auch europäische Hoheitsakte könnten in Karlsruhe angefochten werden. Man weiche hier von einer früheren Entscheidung ab, vermerkt das Urteil lapidar und in Klammern. Ein deutsches »Übergericht« also?

Anstatt sich durch neue rasche Schwindeleien neue Trostpreise zu verschaffen, sollte eine Denk- und Erfahrungspause eingelegt werden. Durch überstürzten Aktionismus wird man nicht an den realen Problemen vorbeilavieren können, die ja in der Tat durch die Nationen allein nicht bewältigt werden können.

Dem Gericht sei Dank, daß es so viel Mut und Weisheit gezeigt hat, wie ihm auch von den Engländern bescheinigt wird. Einen Vorteil jedenfalls hat diese Entscheidung: Sie beseitigt vorerst die lastende Unsicherheit und schafft Raum für neues Planen, neue Initiativen. Freilich, wer sich so leichtfertig vom immer wieder beschworenen »Bundesstaat Europa« getrennt hat, der war bisher eben gedankenlos und wird erst einmal beweisen müssen, daß er überhaupt in der Lage ist, sich Gedanken zu machen.

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