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Die Wasserpredigt

aus DER SPIEGEL 31/1959

Inmitten des hitzebedingten, allgemeinen Verfalls der westdeutschen Kleiderordnung und der Laxheit sommerlicher Badesitten gibt das oldenburgische Städtchen Friesoythe bei Cloppenburg in diesen Wochen ein schönes Beispiel intakter Moral.

An der 5000-Seelen-Gemeinde (meist katholische Seelen) erweist sich, was ein seelsorgerisches Wort - zur rechten Zeit, am rechten Platz - auch in den gegenwärtigen Zeitläuften zu wirken vermag. Auf dringliche Empfehlung des rangältesten Ortspfarrers beschloß der Friesoyther Stadtrat, im städtischen Freibad die Geschlechter nur noch getrennt baden zu lassen. Nur für Familien wird das strenge Bade-Reglement für ein paar Stunden in der Woche aufgehoben. Die ledigen Bürger und Bürgerinnen der kleinen Stadt baden zu verschiedenen Zeiten - damit das »vorzeitige Erkennen der Geschlechter« verhütet werde.

Das Wächteramt vor dem Baum frühreifer Erkenntnis versieht in Friesoythe der Dechant August Wehage. Gerade noch früh genug - bevor die Hitzewelle seine Pfarrkinder enthemmen und unsortiert nach Mann und Weib ins Freibad treiben konnte - forderte der geistliche Herr Mitte Juni die Trennung der Geschlechter.

Von der Kanzel der örtlichen St.-Marien-Kirche herab wetterte der 50jährige Geistliche gegen das »gemeinschaftliche Baden von Personen verschiedenen Geschlechts«. Die moderne Badekleidung, sei sie auf figurbetonende Effekte hin geschnitten oder nicht, fördert nach Ansicht des Pfarrers die Entdeckerfreude auch zehnjähriger Kinder schon so ungemein, daß von diesem Alter an nur das getrennte Baden der, Geschlechter Sitte und Moral gewährleisten kann.

Am 14. Juni hatte Dechant Wehage seinen Sitten-Kodex verkündet. Erklärungen ähnlichen Inhalts ließ er von den Kanzeln der anderen Kirchen seines Dekanats verbreiten.

Alsbald erwies sich, daß Kanzelworte in Friesoythe nicht ungehört verhallen, sondern ohne Aufschub ihren Niederschlag im Alltag der Gemeinde finden: Schon fünf Tage nach der »Wasserpredigt« - wie die Friesoyther, obwohl zu keiner Opposition gegen die geistliche Macht geneigt, die Ausführungen des, Dechanten verstohlen nennen - trat der Stadtrat zusammen, um die städtische Badeordnung zu revidieren.

Die Ratssitzung fand in der Gastwirtschaft Maas statt und hatte, was in Friesoythe eine Seltenheit ist, sogar Zuhörer. In der Regel tagt das Kommunal-Parlament ohne Publikum: Die Friesoyther sind gute Kirchgänger und erfahren so zumeist schon vor den Ratsbeschlüssen, was der Gemeindepolitik frommt.

Der Ratsherr Kühling führte in der Bade-Sitzung als Berichterstatter aus, es gebe »Frauen und Männer vorgeschrittenen Alters und in einer körperlichen Verfassung, die sich nicht in Badeanzügen zeigen möchten«. Für sie müsse es getrennte Badezeiten geben.

Während so den Greisen und Greisinnen das Wort geredet wurde, die in Friesoythe ebensowenig wie anderswo zum eigentlichen Besucherstamm städtischer Freibäder gehören, richtete sich die nach der Rede des Ratsherrn Kühling beschlossene Badeordnung vornehmlich gegen die Jüngeren Jahrgänge. Es wurde beschlossen,

> daß die Männer montags, donnerstags und sonntags von 14 bis 17 Uhr und dienstags und freitags von 17 Uhr bis Sonnenuntergang das Freibad benutzen dürfen und

> daß dies den Frauen dienstags und freitags von 14 bis 17 Uhr und montags, donnerstags und sonntags von 17 Uhr bis Sonnenuntergang gestattet sei.

Bei der Ablösung der Geschlechter wird peinlich darauf geachtet, daß frivole Blicke unmöglich sind - für den Geschlechtswechsel wird jeweils das ganze Freibad vorher geräumt.

Im Einverständnis mit der Dekanatsleitung wird allerdings den verheirateten Friesoythern an wenigen Stunden in der Woche - mittwochs und sonnabends von 14 Uhr bis Sonnenuntergang - das Recht auf ein Familienbad eingeräumt.

Das bedeutet freilich nicht, daß Eltern und Kinder sich schrankenlos im Freibad amüsieren dürfen. Getreu den Kanzel-Richtlinien des Dechanten August Wehage bestimmte der Stadtrat, daß unter Kindern, die ihrer Eltern im Badetrikot ansichtig werden dürfen, nur solche bis zum Alter von zehn Jahren zu verstehen sind. Das heißt für die Friesoyther: Eltern, die etwa eine neunjährige Tochter und einen elfjährigen Sohn haben, dürfen mitnichten mit beiden Kindern das Familienbad besuchen.

Der Stadtrat von Friesoythe darf sich rühmen, mit der von ihm beschlossenen Badeordnung den sogenannten Zwickel -Erlaß* des Reichskommissars Dr. Bracht

aus dem Jahre 1932 in der moralischen und sittlichen Wirksamkeit der Maßnahmen weit übertroffen zu haben. Wenn sich der Zwickel-Erlaß nur gegen bestimmte Badeanzug-Schnittmuster gewandt hatte, so haben die Friesoyther Stadträte, vom Dechanten entsprechend ermahnt, rundweg den ganzen Körper des jeweils anderen Geschlechts neugierigen Blicken entzogen.

Der Triumph der Moral war aber auch in Friesoythe kein vollkommener: Zwei Ratsherren stimmten gegen den von sittlichem Verantwortungsbewußtsein - bestimmten Beschluß über die neue Badeordnung. Ratsherr Sengbusch meinte gar, die Sünde beim zweigeschlechtlichen Baden beginne erst »bei schlechten Gedanken und Begierden«.

Einen zaghaften Durchbruch der unbekümmerten Friesoyther Ackerbürger-Natur - unter den Zuhörern der Freibad-Sitzung des Stadtrats erhob sich leises Gelächter - vermochte Bürgermeister Block mit einem Hinweis auf den ernsten und schwerwiegenden Verhandlungsgegenstand zu unterdrücken.

Die neue Badeordnung ist, so groß der Erfolg für Dechant Wehage auch sein mag, für den Friesoyther Geistlichen nur ein Abschnitt in seinem immerwährenden Kampf um die Hebung der öffentlichen Moral mittels Bekleidungsvorschriften.

Ebenfalls von der Kanzel hatte August Wehage früher schon gerügt, daß Landarbeiter häufig mit freiem Oberkörper arbeiten. Appellierte der geistliche Herr an die bäuerlichen Arbeitgeber: »Sie müßten so viel Courage haben, den Arbeitern das zu verbieten und sie nötigenfalls, wenn sie den Anordnungen nicht nachkommen, zu entlassen.«

Wehage will »lieber heute als morgen sterben«, falls er in seinem Sitten-Feldzug unterliegen sollte. Ihrem geistlichen Hirten eine solche Niederlage zu bereiten, liegt den Friesoyther Bürgern allerdings ganz fern. Die Verbundenheit von geistlicher und weltlicher Obrigkeit wurde in dem Städtchen erst im vergangenen Jahr auch architektonisch erwiesen, als ein neues Rathaus genau an dem Platz gebaut wurde, an den es verkehrstechnisch am allerwenigsten paßte: in eine zentrale Straßenkreuzung hineinragend.

Warum dem so sein mußte, erklärte Bürgermeister Block so: »Das Rathaus steht im Schatten der Kirche, die alle Mitbürger mahnt, nach dem zu streben, was über dem Irdischen ist ... Mögen Kirche und Rathaus nicht nur räumlich zusammenstehen, sondern aus echter innerer Überzeugung zusammengehören.«

Tatsächlich steht das neue Friesoyther Rathaus denn auch genau gegenüber der St. Marien-Kirche, dem Predigtort des Dechanten Wehage. Nach der seinerzeitigen Baudebatte resignierten zwei sowohl vom Zentrum als auch von der CDU unabhängige Ratsherren. Sie legten ihr Mandat nieder.

* Aus dem Zwickel-Erlaß vom 28. September 1932: »... Frauen dürfen nur dann öffentlich baden, falls sie einen Badeanzug tragen, der Brust und Leib an der Vorderseite des Oberkörpers vollständig bedeckt, unter den Armen fest anliegt sowie mit angeschnittenen Beinen und einem Zwickel versehen ist ... Männer dürfen öffentlich nur baden, falls sie wenigstens eine Badehose tragen, die mit angeschnittenen Beinen und einem Zwickel versehen ist ...«

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