Webbild Parag

Foto: Hart Tan

Autor und Politologe im Interview über Menschen als Nomaden und Lebensorte der Zukunft – mit Video

Parag Khanna: Schmelztiegelei ist unser Schicksal

Im Jahr 2050 wird die Hälfte der Weltbevölkerung nomadisch leben. Diese These entwirft der Politologe Parag Khanna in seinem Buch Move – Das Zeitalter der Migration. Die Gründe für diese Massenmigration sind vielfältig: Klimawandel, politische Unruhen, demographische Ungleichgewichte und wirtschaftliche Vertreibung beschleunigen die Mobilität. Mit Futurium-Onlineredakteurin Ludmilla Ostermann hat Khanna über das Bedürfnis nach Bewegung in einer Welt voller Grenzen gesprochen.

Webbild Parag

Foto: Hart Tan

Sie sind in Indien geboren, haben in Dubai, Deutschland, England und den USA gelebt und gearbeitet und wohnen derzeit in Singapur. Wo werden Sie in 30 Jahren leben? Und warum?

Parag Khanna: Immer mehr Menschen werden ständig in Bewegung sein. Wir werden pendeln zwischen klimatisch stabilen Orten. Was ich tatsächlich vorhabe, ist in Berlin in den Ruhestand zu gehen. Allerdings glaube ich auch stark an die Zukunft von Singapur. Es ist eine vom Klimawandel bedrohte Insel, zugleich aber auch eine Klimaoase. Dort stehen die angemessenen Mittel zur Verfügung, sich gegen steigenden Meeresspiegel und andere Klimaauswirkungen zu schützen. Irgendwie werde ich mich wohl immer entlang an der Seidenstraße bewegen, mit Europa an einem und Singapur am anderen Ende. Ich besitze die singapurische Staatsbürgerschaft, fühle mich aber gleichzeitig als Europäer. Teilzeit-Europäer und Teilzeit-Singapurer also!

Ungarn, Polen, die Türkei, Russland: Viele Länder begegnen der Unzufriedenheit mit den Folgen der Globalisierung mit dem Versprechen auf Schutz und Geborgenheit im Nationalstaat. Welche Zukunft haben diese politischen Modelle in einer Welt, in der im Jahr 2050 laut Ihrer Prognose die Hälfte der Bevölkerung nomadenhaft unterwegs sein wird?

Khanna: Das Konzept des Nationalstaates passt mit der Massenmigration zusammen. Das 19. und 20. Jahrhundert waren Zeitalter der Massenmigration und Nationalstaaten zugleich. Das sind keine entgegengesetzten Begriffe. Denn gerade Staaten, die nationalistisch agieren, sind Auswanderungsstaaten. Es sind Staaten, in denen auch die eigenen Einwohner*innen nicht bleiben wollen. Das ist das große Paradox am Nationalismus. Der Drang nach Bewegung hat immer den Nationalismus überwunden. Andernfalls gäbe es ethnisch pure Nationalstaaten. Das sind wir aber nicht. Wir sind demografisch und ethnografisch verwässerte Staaten. Per Definition gibt es nur ganz wenige Nationalstaaten auf der Welt: China, Japan, Bangladesch gehören dazu. In der Politikwissenschaft bedeutet Nationalstaat, dass 90 Prozent der Bevölkerung aus der dominierenden ethnischen Gruppe bestehen. Wir orientieren uns immer noch am Begriff des Nationalstaates, die Realität hat diese Definition aber längst überholt.

Trotz Trump sind die USA vielfältiger geworden.

Parag Khanna

1990 gab es zwölf Mauergrenzen weltweit, heute sind es laut dem Soziologen Steffen Mau ganze 70 physische Grenzen. Hinzu kommen sogenannte Smart Borders, die Einwanderung etwa an Flughäfen kontrollieren. Wie kann da überhaupt eine Migration der Massen entstehen?

Khanna: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die meisten Grenzen entstanden. Die Anzahl der Staaten auf der Weltkarte hat sich verdreifacht. Bei Gründung der UN gab es 51 Staaten, heute sind es 200 Mitglieder. Gleichzeitig gab es die meisten Bewegungen über Grenzen hinweg. Je mehr Staaten und Identitäten man zur Verfügung hat, desto mehr mögliche Reise- und Auswanderungsziele gibt es für Migrant*innen. Das Argument, dass die Migration durch Zäune gehindert wird, hebt sich auf. In den USA sind die Staaten in den letzten fünf bis zehn Jahren noch vielfältiger geworden. Es gibt dort mehr Amerikaner*innen, die sich als multiethnisch identifizieren, weil die Rate zwischenethnischer Ehen rasant angestiegen ist. Trotz der Präsidentschaft von Donald Trump sind die USA noch vielfältiger geworden. Das ist der beste Beweis dafür, dass Grenzen niemanden hindern.

Haben Grenzen denn dann überhaupt eine Zukunft?

Khanna: Als Politikwissenschaftler habe ich viel darüber geschrieben und Hypothesen formuliert, und dass wir zyklische Schwankungen in der Anzahl von Staaten haben. Im Zeitalter des Imperialismus gab es nur wenige Reiche, die in die heutigen 200 Staaten zerfallen sind. Aktuell befinden wir uns an einem Zeitpunkt, an dem Staaten sich wieder zusammenschließen, in föderalistischen Einheiten wie der Europäischen Union. Auch in Afrika und Asien gibt es Bestrebungen. Es geht aber nicht darum, dass die physischen Grenzen der Mitgliedsländer einfach verschmelzen, wohl aber in ihrer Funktion. Das ist ein wesentlich bedeutsamerer Prozess als der Zaun an der bulgarisch-türkischen Grenze. Ich bin für Grenzen und Staatlichkeit und die damit verbundene Selbstbestimmung. Ich glaube, dass je mehr Grenzen wir haben, wir auch mehr Frieden auf der Welt haben. Denn wir werden die Grenzkonflikte gelöst haben. Es wird Spannungen geben, aber es wird weniger Grenzkonflikte geben.

Was macht die Massenmigration mit dem Verhältnis zwischen arm und reich? Wird sie gerecht ablaufen?

Khanna: Wenn wir uns wirklich bemühen möchten, den ärmeren Menschen im Süden zu helfen, würden wir sie migrieren lassen. Das ist die Lösung schlechthin für den Ausgleich unterschiedlicher menschlicher Zustände. Es gibt bewohnbaren Boden in der nördlichen Hemisphäre. Die Mehrheit der Menschen aber wohnt in zunehmend unbewohnbaren Gebieten wie Afrika, Südostasien oder Lateinamerika. Ein Ausgleich dieser ungleichen Zustände ließe sich sofort mit der freien Migration lösen. Aber wir nehmen natürlich jeden Umweg, um dies zu vermeiden. Wir haben Angst davor, dass wir unsere Souveränität verlieren. Diese Souveränität drücken wir durch die Kontrolle von Menschen an Grenzen aus. Eine Pandemie, Computerhacks, Luftverschmutzungen, Drogenhandel – diese Dinge lassen sich nicht kontrollieren. Menschen schon.

Es geht darum, unsere Spezies zu retten.

Parag Khanna

In Ihrem Buch begeben Sie sich auf die Suche nach neuen lebenswerten Orten, die aufgrund des Klimawandels bewohnbar werden. In Kasachstan – aktuell 20 Millionen Einwohner – werden 80 Millionen Menschen leben. Wo finden wir andere Zukunftsregionen?

Khanna: Weitere Zukunftsregionen sind Teile von Kanada, Russland, Japan oder Skandinavien. Es gibt gewisse Kriterien, die lebenswerte Regionen der Zukunft ausmachen: klimatische Bedingungen, Infrastruktur, die politische Lage und wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Orte, an denen wir gerade wohnen (Singapur und Berlin), erfüllen diese Bedingungen aktuell. Aber auch Kasachstan ist ein Einwanderungsland. Von den ehemaligen Sowjetstaaten ist Kasachstan der einzige, dessen Bevölkerung durch die Aufnahme neuer Einwanderer*innen wächst. Das ist ein Beleg für die Stabilität des Staates, die Weitsicht der Regierung aber auch die Offenheit gegenüber Einwanderung.

Was sind die psychosozialen Auswirkungen einer Massenmigration?

Khanna: Trotz aller schlechten Nachrichten befinden wir uns auf fruchtbarem Boden, um einen neuen kosmopolitischen Utilitarismus entstehen zu lassen, der das Wohlergehen aller Betroffenen im Blick hat. Wir werden uns bewusst darüber, dass die Spezies Mensch in ihrer Anzahl begrenzt ist. Wir sind nur acht Milliarden, erreichen den Hochstand in den nächsten zehn Jahren, bevor die Bevölkerungszahl schnell abnimmt. Ängste vor einer Flut einwandernder Menschen brauchen wir nicht mehr haben. Es geht darum, unsere Spezies zu retten. Das ist ein krasser Drehpunkt in der Psychologie. Wie viele andere Lebewesen ist der Mensch eine nomadische Spezies. 95.000 der vergangenen 100.000 Jahre waren die Menschen unterwegs. Und das können wir wieder sein. Die Mittel, die uns heute dafür zur Verfügung stehen, können uns vor den Konsequenzen des Klimawandels retten. Wir sind ohnehin längst auf dem Weg: Seit 1.000 Jahren kommt es immer mehr zu einer Schmelztiegelei, wenn man das so nennen will. Das ist unser Schicksal. Das sehen wir an den großen globalen Städten: New York, London, Dubai, Singapur, Los Angeles, Hongkong, aber auch Berlin. Bewegung ist eingewebt im großen Bogen menschlicher Entfaltung und Evolution.

Am Samstag, 18. September, war Parag Khanna zu Gast im Futurium. Im Gespräch mit Direktor Stefan Brandt hat er das Thema sein Buch und seine Thesen vorgestellt:

Bitte einen Moment Geduld. Das Video wird geladen.