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Kühler Strich: Eine Seite aus „Die Reise des Marcel Grob“.

© Splitter

„Die Reise des Marcel Grob“: In den Fängen der SS

Philippe Collin und Sébastien Goethals beleuchten im Comic „Die Reise des Marcel Grob“ ein wenig bekanntes Kapitel der NS-Geschichte.

Wie hätte ich mich selbst verhalten? Es ist vor allem diese Frage, die sich viele Franzosen gestellt haben dürften, die in den vergangenen neun Monaten zu einem ungewöhnlichen Auflagenerfolg beigetragen haben.

Rund 100 000 Mal ist „Die Reise des Marcel Grob“, die Comic-Erzählung über den Zwangsdienst eines 17-Elsässers bei der Waffen-SS, im Nachbarland seit ihrem Erscheinen im vergangenen Oktober inzwischen verkauft worden. Jetzt ist das Buch im Splitter-Verlag auf Deutsch erschienen (Übersetzung Harald Sachse, 192 S., 29,80 €).

Deserteure bekommen eine Kugel in den Kopf

Der Erfolg von „Die Reise des Marcel Grob“, das inzwischen auch in einer spanischen Version vorliegt, kommt nicht ganz überraschend. Comics zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen spielen im Nachbarland eine deutlich größere Rolle als in Deutschland.

Einiges Aufsehen hat zum Beispiel 2015 das Buch „La Présidente“ erregt. In dem Comic von François Durpaire und Farid Boudjellal wurde den Lesern die Vision eines Wahlsieges von Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl von 2017 vor Augen geführt. Die Helden in „La Présidente“ resignieren aber nach dem Wahlsieg der Front-National-Chefin nicht, sondern begeben sich in ihrem Heimatland, das in den Totalitarismus abgleitet, in den Widerstand.

In Frankreich ein Bestseller: Eine weitere Seite aus „Die Reise des Marcel Grob“.
In Frankreich ein Bestseller: Eine weitere Seite aus „Die Reise des Marcel Grob“.

© Splitter

So viel Gradlinigkeit konnte Marcel Grob, den nun also auch die deutschen Leser kennenlernen, nie beweisen. Seiner Einberufung zur Waffen-SS kann sich der junge Mann aus dem elsässischen Kirchberg im Juni 1944 nicht verweigern, weil seine Eltern ansonsten von den Nazis drangsaliert worden wären.

Zunächst kommt er in eine Ausbildungseinheit nach Stralsund. Dort erlebt er fassungslos mit, dass Deserteure kurzerhand eine Kugel in den Kopf bekommen – im Comic spiegelt sich das brutale Vorgehen der Vorgesetzten in den Gesichtszügen des jungen Marcel Grob wider.

Anschließend wird Grob selber zum Schuldigen. Während des Italien-Feldzuges nimmt er im September 1944 am Massaker von Marzabotto teil, bei dem die Waffen-SS 770 Zivilisten tötet.

Das Schweigen des Großonkels

Der junge französische Soldat, der in die Fänge der SS geriet, hat tatsächlich gelebt. Er ist der Großonkel des Historikers und Journalisten Philippe Collin, der gemeinsam mit dem Zeichner Sébastien Goethals „Die Reise des Marcel Grob“ realisiert hat.

„Am Ende eines Familienessens hat mir ein Onkel gesagt, dass mein Großonkel in der Waffen-SS gewesen ist“, erinnert sich Philippe Collin. Daraufhin stellte der damals 20-Jährige Collin den alten Mann zur Rede, aber der wollte nicht sprechen.

„Ich machte den Fehler, das Schweigen meines Großonkels, der für mich in meiner Jugend die Rolle eines Ersatz-Großvaters spielte, als Schuldeingeständnis zu werten“, sagt der Autor heute. Es kam zum Bruch mit dem Großonkel, auch zu dessen Beerdigung vor zehn Jahren erschien Collin nicht.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Splitter

Nach dem Tod von Marcel Grob tauchte dann dessen SS-Soldbuch auf. Dort fehlten allerdings die drei Buchstaben „FRW“, die Abkürzung für „Freiwilliger“. So wie Grob waren damals tausende junger Elsässer im letzten Kriegsjahr zur SS gezwungen worden.

Aufruf zur Erinnerung an die Gräuel der Waffen-SS

Angesichts dieser Erkenntnis habe er sich dann entschlossen, „die Geschichte zu erzählen, um die Dinge wieder zu reparieren“, erzählt Collin mit Blick auf das zerrüttete Verhältnis zu seinem Großonkel. Er griff in seinem Buch zur Figur eines imaginären Untersuchungsrichters, ganz offensichtlich das Alter Ego des Autors, der den 83-Jährigen in der Jetztzeit einem stundenlangen Verhör unterzieht.

Um eine Exkulpation der SS-Angehörigen geht es Collin und dem Zeichner Goethals aber keineswegs. Das Grauen des Kriegsverbrechens im italienischen Marzabotto wird schon durch die nuancierte Farbgebung deutlich, zu der sich Goethals entschieden hat.

Die anfänglichen Dialoge in der Rahmenhandlungen zwischen Grob und dem Untersuchungsrichter, bei denen sich die Schuld des alten Mannes nach und nach herausstellt, werden von Magenta-Tönen dominiert. Als die Erzählung ins Jahr 1944 zur Rekrutierung des ahnungslosen 17-Jährigen zurückspringt, wird die Unterwerfung des jungen Mannes unter das SS-Regime mit kühlem Strich zunächst in Schwarzweiß geschildert.

In Marzabotto, wo die Entmenschlichung der in einer Kirche eingeschlossenen Opfer ihren Höhepunkt erreicht, kehrt dann wieder die Signalfarbe vom Anfang zurück.

In Frankreich wurde „Die Reise des Marcel Grob“ auch als Aufruf zur Erinnerung der Gräuel der Waffen-SS verstanden, die im Dorf Oradour-sur-Glane elf Monate vor Kriegsende 642 Zivilisten niedermetzelte. Über mehrere Monate hinweg ist Collin in 59 französischen Städten mit dem erfolgreichen Comic auf Lesetour gewesen, und immer wieder gab es Kritik an der Figur eines Untersturmführers, der selbst menschliche Züge aufweist und Tschechows „Kirschgarten“ liest.

Neue Leserschichten erschlossen

Dieser Charakter sei nur imaginiert, gibt Collin zu. Er gibt aber zu bedenken, dass die Rolle von Intellektuellen in der SS-Maschinerie geschichtlich gut belegt ist, etwa durch den belgischen Historiker Christian Ingrao. „Der Nazismus ist das Produkt unserer europäischen Kultur“, findet Collin.

Inzwischen ist der Comic in Frankreich mit dem Literaturpreis „Prix Historia“ in der Kategorie des besten Geschichtscomics ausgezeichnet worden. Bemerkenswerterweise hat das Buch auch neue Leserschichten erschlossen: Leser im Alter zwischen 60 und 70 Jahren, von denen viele vorher noch nie Geld für Comics ausgegeben hatten, machen nach Angaben des Verlages die Hälfte der Käufer aus.

Die Geschichte der „Malgré Nous“, die von den Nazis zwangsrekrutiert wurden, ist nach den Worten des Autors „jenseits des Elsass wenig bekannt“. Collin hat einen Beitrag geleistet, dass sich dies ändert.

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