EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Unter uns
Frau E. aus Eschenlohe sagt, dass sie nichts sagt; eine kleine, gebeugte Frau, die sich jetzt wünscht, sie hätte die Haustür nicht aufgemacht, damit auch ihr Gesicht nichts sagen kann. Allein der Name dieser Menschen hat es zusammenzucken lassen wie nach einer Ohrfeige. »Verstehen Sie, das sind meine Nachbarn, ich muss mit denen ja weiterleben.«
Frau W. aus Eschenlohe hat schon alles gesagt. Erst bei der Polizei, dann, vor ein paar Wochen, vor Gericht. Sie hat über diese Familie hergezogen, über Hans Georg H., 59, dessen geschiedene Ehefrau Irene, 54, und deren Sohn Christian, 25. Und sie hat erzählt, wie Oma Trinchen, Hans Georgs Mutter, schier verrückt war vor Angst, von den eigenen Verwandten umgebracht zu werden. Inzwischen möchte Frau W. nichts mehr sagen; Frau W. möchte am liebsten Personenschutz.
Auch die Familie H. selbst sagt nichts, warum sollte sie auch, jetzt nach den drei Freisprüchen im Mordprozess. So wird viel geschwiegen im bayerischen Eschenlohe nahe der Zugspitze, aber es ist ein Schweigen, das niemandem seine Ruhe lässt.
Im August des vergangenen Jahres ist die Rentnerin Katharina H., 82, in der Ferienpension ihrer Familie, dem Gästehaus »Zur Mühle«, erstickt worden. Einer der Angehörigen, davon war die 1. Strafkammer beim Landgericht München II im »Oma-Mord-Prozess« überzeugt, hat sie getötet. Vielleicht waren es auch zwei, vielleicht alle drei; jedenfalls urteilte Richter Klaus Rebhan, »dass der oder die Verantwortlichen auf der Anklagebank sitzen«.
Aber weil es kein Geständnis gibt, keinen Beweis, wer es getan haben soll, leben 1650 Eschenloher jetzt mit ihrer Angst: Die Mörder sind unter uns, sie wohnen in einem weiß verputzten Einfamilienhaus hinten rechts. Dort, wo der rote Mäher auf dem geschnittenen Rasen steht, wo die braunen Wolldecken zum Lüften über der Balkonbrüstung hängen. Wo das Alltägliche zur Bedrohung wird und die Bedrohung zum Alltäglichen.
Denn: Hat es jemals Verdächtige gegeben, die sich so ungeniert verdächtig benommen haben wie die Familie H.?
Tatort Mühlstraße, damals im August: Erst kam der Notarzt; die Schwiegertochter Irene faltete weiter ihre Wäsche auf. Dann der Hausarzt, »Todesursache ungeklärt«, notierte der Mediziner, aber als er die Polizei anrufen wollte, herrschte ihn Christian an, er solle sich gefälligst woanders ein Telefon suchen. Mittags die ersten Polizisten: Christian warf die Streifenbeamten vom Hof.
Etwa um diese Zeit rief er auch beim Bestattungsinstitut Baddack in Berlin an. Ob sie eine Leiche holen können. Wann? Schnell. Wohin? Weit weg. Nach Berlin.
Um zwei Uhr nachts stürmte schließlich ein Sondereinsatzkommando das Einfamilienhaus. Das SEK fand auch den Schreckschussrevolver, mit dem Irene kurz vorher vom Balkon auf sie gefeuert hatte.
Ein Schuss in der Nacht - so etwas hallt in diesem stillen Winkel lange nach, nicht Sekunden, sondern Jahrzehnte. Hier waren die H.s vor 100 Jahren mit ihrem Sägewerk reich geworden; am Ende blieb von der Größe nur noch der Größenwahn und das Gästehaus samt einiger Grundstücke - heutiger Wert: zwei Millionen Euro.
Hat die Angst, auch diesen Rest Reichtum zu verlieren, sie zu Mördern gemacht? Weil die Oma wegwollte? Weil ihre Pflege dann zu viel gekostet hätte, wie der Staatsanwalt vermutete? Die Gedanken sind frei, sie schwirren wie Schrapnells durchs Dorf. Einer weiß: »Irene war's«, ein anderer sagt: »der Christian«, und auch Hans Georg traut man nicht, weil »der manchmal mit einer Waffe herumlief«.
Früher haben die Eschenloher so was als Tick abgetan und sind auf Abstand gegangen. Wie viel Abstand aber kann man in einem kleinen Dorf zu Menschen halten, die man für Mörder hält? Die einem so monströse Fragen in den Kopf zwingen, wie sie sich der Nachbar Carsten Stütz stellt: »Sind die gemeingefährlich, oder wollten die nur ihre Oma weghaben?«
»Wie Luft« will ein anderer die Familie behandeln, »einfach übersehen .« Wenn das so einfach wäre. Im März, der Richter hatte die U-Haft aufgehoben, standen plötzlich alle drei in der Schulturnhalle, um als brave Staatsbürger bei der Kommunalwahl ihre Stimme abzugeben. Ignatz Berchtold, der Chef der Jagdgenossen und Waldbauern, hofft nur, dass sich sein zahlendes Mitglied Hans Georg H. nie mehr blicken lässt, denn »ausschließen kann ich den nicht, dem ist ja nichts nachgewiesen«.
Nachgewiesen aber ist, wer gegen die Familie ausgesagt hat, im Prozess und vorher bei der Polizei, jeder Nachbar, jedes Wort, alles in den Akten. Dass die H.s die Wohnung der Alten hätten verdrecken lassen, ihr angeblich kaum was zu essen gaben. Deshalb rechnet nun die Zenzi aus der Metzgerei mit allem: »Sollen sie mich eben erschießen.«
Da sind nämlich noch diese alten Briefe von Christian an seine Mutter, die der Richter vorlas. Der Teufel solle ihre Feinde »bei lebendigem Leib über den Spieß drehen«, schrieb er, kämpfen müsse man »ohne Rücksicht auf fremde Verluste«.
Was den Eschenlohern bleibt, ist die Hoffnung, dass die Familie H. bald alles verkaufen muss, weil kein Feriengast mehr in die Pension kommt. Oft sehe man sie nicht im Dorf, den Hund führten sie nur abends aus - akribisch sammeln die Nachbarn Hinweise, dass die H.s endlich gehen. Und wenn nicht?
Hätte man doch nur geschwiegen.
JÜRGEN DAHLKAMP