Newsticker
Schlagzeilen, Meldungen und alles Wichtige
Die Nachrichten heute: Newsticker, Schlagzeilen und alles, was heute wichtig ist, im Überblick.
Zum Newsticker
  1. Home
  2. Dossiers
  3. Hat die Europäische Union zu viel Macht?
  4. EU-Debatte: Europa entmachtet uns und unsere Vertreter

Hat die Europäische Union zu viel Macht? EU-Debatte

Europa entmachtet uns und unsere Vertreter

Roman Herzog Roman Herzog
Befürchtet eine Entmachtung des Bundestages: Roman Herzog
Quelle: dpa/Jens Kalaene
Bundespräsident a.D. Roman Herzog und Lüder Gerken, Direktor des Centrums für Europäische Politik, schlagen Alarm: Immer mehr Entscheidungen deutscher Politik werden in Brüssel vorbestimmt. Ist Deutschland noch eine parlamentarische Demokratie?

Ohne Zweifel: Die Europäische Union steht an einer Wegmarke. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden ist es dringend notwendig, eine fundierte Bestandsaufnahme vorzunehmen und – danach – ein Leitbild zu entwickeln, wie es mit der europäischen Integration weitergehen soll, weitergehen kann. Die Ratspräsidentschaft Deutschlands gibt Anlass, diese Diskussion zu führen. Dabei helfen Schönwetter-Reden über Europa, wie sie immer wieder aus allen politischen Lagern zu hören sind, nicht weiter.

Die Menschen sind verunsichert, und sie sind zunehmend zurückhaltend und skeptisch gegenüber der EU, weil sie den Integrationsprozess nicht mehr durchschauen, weil sie das Gefühl einer immer stärkeren, oft sachwidrigen Zentralisierung von Zuständigkeiten beschleicht, und weil sie nicht erkennen können, wer für welche Politik verantwortlich ist. Diese Sorgen sind sehr ernst zu nehmen, zumal sie nicht aus der Luft gegriffen sind.

Die europäische und Teile der deutschen Politik wünschen, dass der Verfassungsvertrag für die EU trotz seines Scheiterns in Frankreich und den Niederlanden doch noch in Kraft gesetzt wird. Insbesondere wollen sie denjenigen Teil retten, der die Befugnisse der Organe und das Gesetzgebungsverfahren der EU neu regelt. Aber gerade da liegen entscheidende Probleme und Schwächen. Denn der Verfassungsvertrag schreibt letztlich die widersprüchlichen und intransparenten Strukturen der EU fort, die maßgeblich für die Probleme verantwortlich sind, vor denen wir heute stehen.

Wie soll unser Europa aussehen?

Diese Probleme sind zurückzuführen auf die Existenz zweier sich ausschließender Vorstellungen über die endgültige Gestalt der EU. Auf der einen Seite stehen die Intergouvernementalisten, die einen Verbund dauerhaft souveräner Staaten, ein „Europa der Vaterländer“ anstreben. Sie konstatieren mit Sorge eine zunehmende Zentralisierung der Politik auf EU-Ebene, die mit einer Ausdünnung der Befugnisse der Mitgliedstaaten einhergeht.

Diese Entwicklung führen die Intergouvernementalisten darauf zurück, dass die Kommission und das Europäische Parlament, aber auch der Europäische Gerichtshof – wie alle im politischen Kraftfeld agierenden Institutionen – nach immer weiterer Machtfülle streben. Als Ausweg sehen die Intergouvernementalisten eine starke Rolle des EU-Ministerrates, der sich aus den Vertretern der mitgliedstaatlichen Regierungen zusammensetzt und von dem jedes EU-Gesetz gebilligt werden muss. Dahinter steht der Gedanke, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten aus eigenem Machterhaltungstrieb einer übermäßigen, sachwidrigen Zentralisierung Einhalt gebieten werden.

Auf der anderen Seite stehen die Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstreben. Sie beklagen massive institutionelle Defizite bei den Organen und Entscheidungsverfahren auf EU-Ebene, die ineffektiv, intransparent und undemokratisch seien, und empfinden diese Defizite als umso gewichtiger, je weiter sich die Europäische Union entwickelt. Sie fordern vollständige staatliche Strukturen für die EU im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre, insbesondere ein Parlament als souveräne Legislative und eine Regierung als souveräne Exekutive – ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Rat Sand ins Getriebe streuen können.

Der institutionelle Aufbau der EU ist ein Kompromiss aus diesen beiden idealtypischen Vorstellungen: Die Kommission ist eine Art Regierung, die es sich aber nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten, die im Rat mitbestimmen, verscherzen darf. Die Legislative besteht aus zwei Organen: dem Rat und dem Europäischen Parlament, wobei das Parlament bei vielen, aber bei Weitem nicht allen Angelegenheiten neben dem Rat mitentscheidet; den größeren Einfluss hat der Rat.

So bestimmt die EU deutsche Politik

Unbestreitbar treffen die Problemdiagnosen sowohl der Intergouvernementalisten als auch der Föderalisten zu. Zunächst zur Feststellung der Intergouvernementalisten. In der Tat sind wir einer immer weiteren, oft sachwidrigen Zentralisierung von Kompetenzen weg von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union ausgesetzt.

Das Bundesjustizministerium hat für die Jahre 1998 bis 2004 die Zahl der Rechtsakte der Bundesrepublik Deutschland und die Zahl der Rechtsakte der Europäischen Union einander gegenübergestellt. Ergebnis: 84 Prozent stammten aus Brüssel, nur 16 Prozent originär aus Berlin. Diesen Zahlen darf man nicht entgegenhalten, dass die „wichtigeren“ Gesetze in Berlin gemacht würden. Die Binnenmarktgesetzgebung, die Umweltrichtlinie „Fauna-Flora-Habitat“ und das Diskriminierungsrecht, um einige Beispiele zu nennen, sind europäische Rechtsakte, welche die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung grundlegend verändert haben und nachhaltig prägen.

Woher rührt die Tendenz zur Zentralisierung?

Anzeige

Eine erste Ursache liegt darin, dass auch EU-Politiker Politiker und EU-Beamte Beamte sind. Egal ob sie in einem Ministerium oder in einer EU-Generaldirektion tätig sind: Wenn sie den Auftrag haben, die Umwelt oder potenziell diskriminierte Gruppen zu schützen, dann tun sie das möglichst weitreichend und schaffen so Regulierung.

Bei diesem Streben – bisweilen als gut gemeinter Versuch, Probleme zu lösen, bisweilen als simples Streben nach Einfluss und Macht – spielt es oft nur am Rande eine Rolle, ob die Union die erforderliche Kompetenz besitzt und ob eine EU-weite Lösung wirklich erforderlich ist.

Bei der Verfolgung der letztlich ja politisch vorgegebenen Ziele geschieht es daher auch immer wieder, dass die Europäische Union Dinge reguliert, die beileibe nicht EU-weit vereinheitlicht werden müssen oder für die die EU eigentlich gar keine Kompetenz besitzt. Als Rechtfertigung dient dabei immer wieder das Argument, dass die Mitgliedstaaten keine vergleichbare Regulierung verfügt hätten und daher das Problem nur von der EU gelöst werden könne.

Ein Beispiel sind die massiven Eingriffe in das materielle Arbeitsrecht durch die Diskriminierungsgesetzgebung der Union, obwohl die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.

Spiel über die Bande in Brüssel

Eine zweite Ursache für sachwidrige Zentralisierung ist das in Brüssel sogenannte Spiel über Bande. Ein nationales Ministerium, etwa das deutsche Bundesumweltministerium, das ein Regulierungsvorhaben auf nationaler Ebene nicht durchsetzen kann – weil zum Beispiel der deutsche Arbeitsminister Widerstand leistet oder es im Bundestag nicht mehrheitsfähig wäre –, „ermutigt“ die zuständige Generaldirektion in der Europäischen Kommission diskret, dieses Vorhaben EU-weit zu verwirklichen. In Brüssel trifft dies aus den soeben geschilderten Gründen meist auf ausgeprägte Bereitwilligkeit. Das EU-Vorhaben durchläuft dann den üblichen Gesetzgebungsprozess. Am Ende entscheidet der Ministerrat darüber. In dem sitzen aber im Regelfall genau dasjenige Ministerium, das den Vorschlag überhaupt erst angestoßen hat, und die entsprechenden Fachministerien der anderen Mitgliedstaaten, im Beispiel also 27 Umweltministerien.

Die erforderliche Abwägung auf nationaler Ebene, oft genug auch auf EU-Ebene, etwa mit arbeitsmarktpolitischen Belangen, kommt als Folge dieses Spiels über Bande regelmäßig zu kurz, denn andere Ministerien und vor allem die Parlamente in den Mitgliedstaaten werden nicht einmal näherungsweise in den Entscheidungsprozess eingebunden, wie es für Rechtsakte auf nationaler Ebene selbstverständlich ist und wie es die Verfassungen der Mitgliedstaaten eigentlich vorschreiben.

Vieles, was auf nationaler Ebene nicht durchsetzbar ist, wird so über den Umweg nach Brüssel umgesetzt – jetzt sogar europaweit. Folge ist eine fortschreitende Zentralisierung, angestoßen durch nationale Partikularinteressen.

Welche Rolle spielt der Ministerrat?

Anzeige

Als dritte Ursache sind die sogenannten „package deals“ im Ministerrat zu nennen. Um Mehrheiten bei der Beschlussfassung zu bilden, werden zwischen den Vertretern der Mitgliedstaaten Allianzen geschlossen und dabei oft sachlich nicht zusammengehörige Vorhaben gebündelt und Kompensationsgeschäfte vereinbart. Gemäß der politischen Verhandlungslogik führen solche Bündnisse im Regelfall zu mehr Regulierung, nicht zu weniger.

Die vierte Ursache für sachwidrige Zentralisierung ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Er offenbart in seinen Urteilen zu Kompetenzfragen die systematische Neigung, zugunsten einer EU-Zuständigkeit zu entscheiden, solange sich dafür irgendwie eine Begründung finden lässt.

Er betreibt, in der Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts, die Auslegung des EU-Rechts „im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse“. Dies verwundert nicht. Denn auch der EuGH wird, durch Art. 1 und Art. 5 des EU-Vertrages, darauf verpflichtet, bei der „Verwirklichung einer immer engeren Union“ mitzuwirken.

Beispiele aus der Praxis

Ein Beispiel ist das Urteil vom November 2005 (Rs. C-144/04). Mit ihm erklärte der EuGH die im Hartz-I-Paket – einem Kernelement der Schröderschen Arbeitsmarktreformen – geregelte unbeschränkte Möglichkeit zu befristeten Arbeitsverhältnissen älterer Arbeitnehmer für nichtig, mit der die Langzeitarbeitslosigkeit in dieser Bevölkerungsgruppe hatte verringert werden sollen. Gegenüber der verblüfften Fachwelt zauberte der EuGH die Rechtfertigung aus dem Hut, „das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters“ sei „ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“.

Ein weiteres Beispiel ist das Urteil vom Januar 2006 (Rs. C-2/05) zu den sogenannten E-101-Bescheinigungen. Sie bestätigen, dass ein vorübergehend ins EU-Ausland entsendeter Arbeitnehmer in seinem Heimatland sozialversichert ist, sodass er in dem Land, in das er von seinem Arbeitgeber entsendet wurde, von der Sozialversicherungspflicht befreit ist. Sozialversicherungsbetrüger erschleichen sich unter Angabe falscher Tatsachen im Ausland E-101- Bescheinigungen, um im Inland keine Sozialabgaben bezahlen zu müssen.

Der EuGH hat nunmehr den nationalen Gerichten kategorisch jede gerichtlich verwertbare Prüfung untersagt, ob E-101-Bescheinigungen erschlichen worden sein könnten. Dieses Prüfungsverbot führt dazu, dass, wie kürzlich geschehen, überführte deutsche Sozialversicherungsbetrüger, die die Entsendung von Arbeitnehmern vorgetäuscht haben, in Deutschland freigesprochen werden müssen. Der EuGH hat mit diesem Urteil die Notwendigkeit für eine EU-Regelung in einem Bereich geschaffen, der zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten gehört.

Die Problemanalyse der Intergouvernementalisten, dass die Europäische Union sich immer weitere Kompetenzen aneignet, trifft also zu.

Die EU leidet unter einem Demokratiedefizit

Aber auch die Problemdiagnose der Föderalisten trifft zu, dass die politischen Entscheidungsstrukturen der EU – angesichts ihres heute nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Einflusses – unzulänglich, intransparent und vor allem wenig demokratisch sind. Woran liegt das?

Eine zentrale Rolle spielt der Ministerrat. Da er einerseits aus den jeweiligen Fachministern der Mitgliedstaaten, also aus Vertretern der Exekutive besteht, andererseits aber – formal neben, de facto aber vor dem Europäischen Parlament – Teil der europäischen Legislative ist, besitzt er eine Zwitterstellung: Die wesentlichen europäischen Legislativfunktionen liegen entgegen allen Grundsätzen der Gewaltenteilung bei Mitgliedern der Exekutive.

Dies mag in der Anfangsphase der europäischen Integration hinnehmbar gewesen sein, als es vor allem um den Abbau von Handelsschranken ging. Heute hat Brüssel aber in ganz erheblichem Umfang – Stichwort: 84 Prozent – positive Regelungs- und vor allem Regulierungskompetenzen. Vor diesem Hintergrund ist die Zwitterstellung des Ministerrates überaus problematisch.

Dies gilt zum einen unmittelbar für die europäische Ebene selbst, auch wenn es dort ein Europäisches Parlament gibt, das sich zunehmend Geltung verschafft. Es gilt zum anderen und ungleich stärker für die nationale Ebene: Die verfassungsmäßigen Kompetenzen der staatlichen Organe in den Mitgliedstaaten, vor allem der Parlamente wie des Bundestages, sind – zumal angesichts des bereits erwähnten, von der nationalen Exekutive betriebenen Spiels über Bande – einem substanziellen Aushöhlungsprozess ausgesetzt.

Das Parlament verliert an Macht

Die Zahlen des Bundesjustizministeriums verdeutlichen es: Über den weitaus größten Teil der in Deutschland geltenden Gesetze beschließt im Ministerrat die Bundesregierung, nicht der Deutsche Bundestag. Und jede Richtlinie, die die Bundesregierung im Ministerrat verabschiedet, muss der Bundestag in deutsches Recht umsetzen. Das Grundgesetz sieht jedoch das Parlament als den zentralen Akteur der Gestaltung des politischen Gemeinwesens vor. Es stellt sich daher die Frage, ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann.

Denn die Gewaltenteilung als grundlegendes, konstituierendes Prinzip der verfassungsmäßigen Ordnung Deutschlands ist für große Teile der für uns geltenden Gesetzgebung aufgehoben. Angesichts der überragenden Machtstellung der nationalen Exekutive bei der Gestaltung der EU-Politik fühlen sich heute viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages einem erheblichen Einflussverlust ausgesetzt. Ausfluss dieses verbreiteten Gefühls ist die „Vereinbarung“, die der Bundestag im September 2006 mit der Bundesregierung geschlossen hat, um seine Rechte zu schützen.

Zwar verpflichtet sich die Bundesregierung, den Bundestag über Entwicklungen in Brüssel frühzeitig zu informieren, diesem die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und die Auffassung des Bundestages bei den Verhandlungen im Ministerrat zu berücksichtigen.

Delikat ist jedoch der Teil der Vereinbarung, welcher der Bundesregierung ausdrücklich das Recht zubilligt, „in Kenntnis der Voten des Deutschen Bundestages“ „aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen“. Im Klartext: Die Bundesregierung kann und darf auch gegen ausdrückliche Beschlüsse des Bundestages handeln.

Auch die Problemanalyse der Föderalisten trifft also zu: Die institutionellen Strukturen der EU leiden in besorgniserregender Weise unter einem Demokratiedefizit und einer faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung.

Die Verfassung löst diese Probleme nicht

Was lässt sich tun, um die Hauptprobleme – den Mangel an Demokratie und Gewaltenteilung sowie die sachwidrige Zentralisierung – in den Griff zu bekommen? Bietet der Verfassungsvertrag eine Lösung? Wie könnte eine Ordnung für Europa aussehen, die den Sorgen sowohl der Föderalisten als auch der Intergouvernementalisten Rechnung trägt?

Die europäische Integration ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass das Demokratiedefizit und die weitgehende Aufhebung der Gewaltenteilung mit all ihren negativen Folgen einer Lösung zugeführt werden müssen.

Ein vollwertiges Europäisches Parlament als Legislative ist hierfür zwingende Voraussetzung. Zu begrüßen ist daher, dass der Verfassungsvertrag dem Europäischen Parlament deutlich mehr Mitentscheidungsrechte als bisher zubilligen will. Was der Verfassungsvertrag dagegen nicht leistet, ist die Eindämmung des Spiels über Bande, welches nationale Ministerien über den Ministerrat systematisch betreiben. Transparenz und die klare Zuweisung von Verantwortung für gute oder schlechte Politik werden also gerade nicht hergestellt.

Eine Zentralisierung ließe sich stoppen

Hierzu hätte der Rat, zumindest im Bereich der Gesetzgebung, zu einer zweiten Kammer im Sinne eines klassischen Zwei-Kammer-Systems weiterentwickelt werden müssen – einer Kammer, die zwar einer sachwidrigen Zentralisierung Einhalt gebietet, jedoch nicht selbst eine treibende Kraft für sachwidrige Zentralisierung darstellt, indem sie national nicht durchsetzbare Partikularinteressen über die Europäische Union durchsetzt.

Auch im Verhältnis zwischen nationaler Exekutive und nationalem Parlament kann nicht von einer Entschärfung des Problems gesprochen werden. Zwar sollen die nationalen Parlamente das Recht erhalten, an EU-Gesetzesentwürfen einen ihres Erachtens bestehenden Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen. Jedoch bindet eine solche Rüge eines nationalen Parlaments die EU-Organe nicht, sodass sie keine zwingenden Konsequenzen hat.

Vor allem aber räumt der Verfassungsvertrag mit der sogenannten Passerelle-Klausel den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten – also der nationalen Exekutive, nicht den nationalen Parlamenten – das Recht ein, EU-Zuständigkeiten, für die das Erfordernis der Einstimmigkeit gilt, in Zuständigkeiten mit Mehrheitsentscheidungen umzuwandeln. Mit anderen Worten: Die Exekutive wird ermächtigt, eigenständig und ohne dass das nationale Parlament zustimmen muss, einen völkerrechtlichen Vertrag zu modifizieren, der für den einzelnen Mitgliedstaat von fundamentaler Bedeutung ist.

Das Widerspruchsrecht reicht nicht

Das sechsmonatige Widerspruchsrecht der nationalen Parlamente ist kein zureichender Ausgleich, weil es eine erheblich höhere Hürde darstellt, einen bereits gefassten Beschluss der Staats- und Regierungschefs zu Fall zu bringen, als die erforderliche Zustimmung zu einer geplanten Vertragsänderung von vornherein zu versagen. Das Demokratiedefizit und die Auflösung der Gewaltenteilung behebt der Verfassungsvertrag also keinesfalls.

Von ganz zentraler Bedeutung ist außerdem die zweite Frage, wie sich die Tendenz zur sachwidrigen Zentralisierung unterbinden lässt. Die Beantwortung dieser Frage enthält vier Bestandteile.

Notwendig ist erstens ein abschließender Kompetenzkatalog, der Umfang und Grenzen der EU-Zuständigkeiten festlegt. Der Verfassungsvertrag enthält einen solchen nicht, obwohl er bei den Verhandlungen im Verfassungskonvent zum Teil dezidiert gefordert wurde. Insbesondere leistet die nicht abschließende Zuständigkeitsordnung im ersten Teil der Verfassung dies nicht. Denn dort wird für den Umfang der EU-Zuständigkeiten auf die jeweiligen Regelungen zu den konkreten Gemeinschaftspolitiken im dritten Teil verwiesen, wo es aber kaum Änderungen zur heutigen Situation gibt.

Im Gegenteil droht sogar mit der Einführung der „gemischten Kompetenzen“ im ersten Teil ein neues Einfallstor für eine noch dynamischere Aneignung von Zuständigkeiten. Mehr noch: Der Verfassungsvertrag sieht für viele Politikbereiche den Übergang von Einstimmigkeits- zu Mehrheitsentscheidungen bei der Beschlussfassung im Rat vor.

Vieles spricht für einen Kompetenzkatalog

Die Inkraftsetzung des Verfassungsvertrages würde daher den Prozess der oft sachwidrigen, schleichenden Zentralisierung infolge der einfacheren Beschlussfassung sogar noch verstärken, statt ihn zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen.

Die Einführung eines abschließenden Kompetenzkatalogs, der die Zuständigkeiten von EU und Mitgliedstaaten trennscharf abgrenzt, wurde im Verfassungskonvent vor allem mit dem Hinweis abgelehnt, dass dadurch die „dynamische Entwicklungsfähigkeit“ der EU beeinträchtigt würde. Genau das ist jedoch der Punkt, der für einen solchen Katalog spricht.

Im Übrigen lässt sich ein Kompetenzkatalog jederzeit anpassen, wenn sich erweisen sollte, dass eine Ausweitung bestimmter EU-Kompetenzen sinnvoll ist.

Zweitens muss das sogenannte Diskontinuitätsprinzip auf der EU-Ebene eingeführt werden. Es besagt, dass Gesetzesvorhaben, die innerhalb einer Legislaturperiode nicht verabschiedet worden sind, automatisch verfallen, sodass das Verfahren in der neuen Legislaturperiode von vorne beginnen muss. Dies ist in Deutschland selbstverständlich. Nicht so auf der EU-Ebene. Hier müssen sich die EU-Organe immer wieder mit Gesetzesinitiativen befassen, die zehn Jahre und älter sind. Der Verfassungsvertrag verzichtet darauf, das Diskontinuitätsprinzip in die EU-Gesetzgebung einzuführen.

Drittens muss den Mitgliedstaaten über den Europäischen Rat das Recht eingeräumt werden, der europäischen Ebene die Zuständigkeit über einen Politikbereich wieder zu entziehen und sie auf die nationale Ebene zurückzuverlagern.

Eine reale Drohung

Die Gefahr einer inhaltlichen Ausgestaltung der EU-Kompetenzen, die den Vorstellungen in der Mehrheit der Mitgliedstaaten entgegenläuft, und vor allem auch die Gefahr von Maßnahmen, die letztlich von den der EU eingeräumten Kompetenzen nicht gedeckt werden, wird so deutlich reduziert.

Denn wenn diese Möglichkeit besteht, werden Kommission und Europäisches Parlament aus eigenem Interesse die ihnen eingeräumten Kompetenzen zurückhaltend und nicht exzessiv ausüben, um der Gefahr vorzubeugen, dass sie ihnen vollständig wieder entzogen werden.

Damit diese Drohung real ist, muss das Rückholungsrecht auf der Basis einer Mehrheitsabstimmung statt auf Einstimmigkeit erfolgen.

Der Verfassungsvertragsentwurf enthält die Möglichkeit zur Rückverlagerung einzelner Kompetenzen als verfassungsimmanente Zentralisierungsbremse nicht. Er setzt weiter auf die bisherige Einbahnstraße in Richtung auf eine immer weitere Zentralisierung.

Viertens muss die schleichende Zentralisierung über die europäische Rechtsprechung des EuGH gestoppt werden. Voraussetzung hierfür ist ein neben dem EuGH einzurichtender, eigenständiger „Gerichtshof für Kompetenzfragen“, der ausschließlich über Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene entscheidet.

Wir brauchen einen Kompetenzgerichtshof

Ein solcher Gerichtshof für Kompetenzfragen sollte sich, um seine Unabhängigkeit zu gewährleisten, aus Mitgliedern der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte zusammensetzen. Ihm müssen nicht nur die Rechtsakte und politischen Maßnahmen von Kommission und Europäischem Parlament vorgelegt werden können, sondern auch die Urteile des EuGH, soweit die Kompetenzabgrenzung entscheidungserheblich ist. Klagebefugt sollten neben den Organen der EU und den Regierungen der Mitgliedstaaten auch die nationalen Parlamente und, was für föderale Staatswesen wie die Bundesrepublik Deutschland wichtig ist, die Länder sein. Der Verfassungsvertrag sieht zwar vor, dass die nationalen Parlamente und der Ausschuss der Regionen bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip Klage erheben können. Dieses Recht läuft jedoch weitgehend leer, weil der Adressat mit dem EuGH ein Gericht ist, welches als institutioneller Teil der EU-Ebene die Kompetenzvorschriften soweit irgend möglich zugunsten der EU auslegt. Daher bedarf es zwingend eines unabhängigen Gerichts in Gestalt eines Kompetenzgerichtshofes. Diesen sieht der Verfassungsvertrag jedoch nicht vor.

Die vier beschriebenen institutionellen Vorkehrungen – der abschließende Kompetenzkatalog, das Diskontinuitätsprinzip, die Möglichkeit zur Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten und der Gerichtshof für Kompetenzfragen – können im Verbund der Tendenz zur sachwidrigen Zentralisierung erfolgreich begegnen. Sie übernehmen für die Tagespolitik die Funktion des Subsidiaritätswächters, die bislang allein dem Rat aufgegeben war, die dieser jedoch, wie die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre offenkundig zeigt, nicht ausreichend effektiv ausfüllen konnte.

Diese Vorkehrungen zur Verhinderung sachwidriger Zentralisierung stehen auch nicht der notwendigen Beseitigung eines weiteren höchst gravierenden Defizits des derzeitigen Verfassungsvertragsentwurfs entgegen: Dieser Vertrag würde insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen denjenigen Mitgliedstaaten, die dies wollen, praktisch unmöglich machen, da hierfür die Zustimmung sämtlicher EU-Mitgliedstaaten erforderlich ist. Er schadet daher den globalpolitischen Interessen Europas und ist auch deshalb abzulehnen.

Europa braucht eine ehrliche Debatte

Mit den hier vorgeschlagenen Reformen können in Europa sowohl die von den Föderalisten diagnostizierten Probleme – Intransparenz, Demokratiedefizit und Aufhebung der Gewaltenteilung – als auch die von den Intergouvernementalisten identifizierte Schwäche – die fortschreitende sachwidrige Zentralisierung – angegangen werden.

Die europäische und Teile der deutschen Politik wollen dagegen in einem zweiten Anlauf den europäischen Verfassungsvertrag, ungeachtet der Ablehnung in Frankreich und Holland und einer deutlich skeptischen Haltung der Bevölkerung auch in anderen Mitgliedstaaten, doch noch durchsetzen. Sie lehnen eine konstruktive Diskussion der Frage ab, ob dieser Vertrag Europa wirklich zum Besten gereichen würde, denn sie befürchten, dass sie nicht noch einmal die Kraft zu einem großen Wurf finden. Diese Diskussion muss aber gleichwohl geführt werden. Denn durch den Verfassungsvertrag würden die beschriebenen Defizite, die an den Grundfesten der EU rühren, verfestigt. Es besteht daher die Gefahr, dass die Politik eines „Weiter so“ für den europäischen Integrationsprozess das Gegenteil von dem erreicht, was sie bezweckt: statt der Stabilisierung dessen weitere Erosion.

Mehr Mut zur öffentlichen Kritik!

Unbestreitbar wären für eine Umorientierung hin zu der oben skizzierten Organisation der EU in erheblichem Maße etablierte Strukturen und vor allem die auf Machterhalt ausgerichteten politischen Interessen der mitgliedstaatlichen Regierungen zu überwinden. Aber genau das muss man von der Politik erwarten und verlangen, wenn sich, wie heute, offenkundig abzeichnet, dass der in den vergangenen Jahrzehnten beschrittene und mit dem Verfassungsvertrag fortgesetzte Weg in die Sackgasse zu führen droht, weil sich die EU übernimmt, wenn sie sich nicht auf die wirklich wesentlichen europaweiten Probleme konzentriert, und weil die Menschen diesen Weg nicht mehr mitzugehen bereit sind. Das Argument, eine solche Verfassungsordnung für Europa sei politisch nicht durchsetzbar, zieht daher nicht. Im nicht-öffentlichen Gespräch äußern sich deutsche Politiker, im Bund wie in den Ländern, heute immer wieder kritisch und besorgt über die Entwicklung, die die europäische Politik genommen hat und weiter nimmt.

Aber kaum einer bringt seine Sorgen und Bedenken öffentlich zum Ausdruck – aus Angst, dies könnte den weiteren Einigungsprozess beschädigen. Das Gegenteil wäre der Fall. Die Menschen in Deutschland sind weiter, als mancher Politiker meint. Die meisten Menschen stehen der europäischen Integration im Grundsatz positiv gegenüber. Gleichzeitig aber beschleicht sie das immer mächtiger werdende Gefühl, dass da etwas nicht stimmt; dass eine intransparente, komplexe und verflochtene Mammut-Institution entstanden ist, die, losgelöst von Sachproblemen und nationalen Traditionen, immer weitere Regelungsbereiche und Kompetenzen an sich zieht; dass die demokratischen Kontrollmechanismen versagen; kurz: dass es so nicht weitergehen kann.

Die Menschen wünschen sich gerade auch von der Politik eine differenzierende Haltung zu Europa: Bei einem grundsätzlichen Ja zur europäischen Integration muss über das Wie konstruktiv diskutiert werden. Dies ist eine große Herausforderung. Wir sollten die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen, um einen solchen Diskussionsprozess in Gang zu setzen – im Interesse Europas.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema