Ulrich Schneider

„Wo die Menschen herkommen, die bei uns unter Armut leiden, ist zweitrangig“

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Von Jörg WimalasenaPolitischer Korrespondent
Veröffentlicht am 19.06.2024Lesedauer: 6 Minuten
Ulrich Schneider mit seiner Franz-Beckenbauer-Trainingsjacke
Ulrich Schneider mit seiner Franz-Beckenbauer-TrainingsjackeQuelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

Seine Gegner nennen ihn „Soziallobbyist“: Ein Vierteljahrhundert lang leitete Ulrich Schneider den paritätischen Gesamtverband, kämpfte für mehr Sozialstaat. Jetzt ist Schluss. Im Interview zieht er desillusioniert Bilanz. Für „linke Politik“ sieht er keine Mehrheit mehr.

25 Jahre lang war Ulrich Schneider Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. In dieser Rolle war er einer der prominentesten Kämpfer für die Interessen der Armen. Jetzt ist der 65-Jährige, den seine Gegner „Soziallobbyist“ nennen, im Ruhestand. Er will nun Bücher schreiben und Vorträge halten.

WELT: Herr Schneider, wie fühlt sich das Rentner-Leben an?

Ulrich Schneider: Anders. Wenn ich früher morgens aufwachte, war mein Adrenalin meist schon auf 100. Ich musste mich auf den neuesten Informationsstand bringen. Was tut sich gerade in der Sozialpolitik? Dann hatte ich 1000 Termine. Das werde ich – ganz ehrlich – nicht vermissen. Jetzt kann ich ausschlafen und zusammen mit den anderen Rentnern die Supermarktkassen verstopfen, wenn alle anderen Feierabend haben. (lacht)

WELT: Seit Jahrzehnten setzen Sie sich für Umverteilung und einen Ausbau des Sozialstaats ein. Laut Ihrem jährlichen Armutsbericht verringert sich die Armut in Deutschland allerdings nicht. War Ihre Arbeit vergebens?

Schneider: Meine Frau sagte neulich zu mir: „Du rennst zweimal die Woche ins Fitnessstudio. Wann sieht man denn mal was?“ Ich antwortete ihr: „Was meinst du, wie ich aussähe, wenn ich gar nicht dahin gehen würde?“ Aber ja, wenn man mich als „Soziallobbyist“ bezeichnen will, muss ich eingestehen: Ich bin wahrscheinlich der erfolgloseste Lobbyist, der in Berlin herumläuft.

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WELT: Sie wirkten oft wie jemand, der eher an die Solidarität in der Gesellschaft appelliert – und weniger wie ein Klassenkämpfer, der die Verhältnisse auf den Kopf stellen will. Waren Sie zu zahm?

Schneider: Vielleicht war ich lange zu zaghaft. Es gab Zeiten, in denen ich angesichts der sozialen Ungerechtigkeiten im Land fast demütig an das Wohlwollen der Reichen appelliert habe. Aber mittlerweile benenne ich deutlich, wer eigentlich von Armut profitiert. Es sind selbstverständlich die Reichen, die ihre Profite sichern.

Was den Klassenkampf angeht: Es gibt Menschen, die gehen nicht auf Demos, die stecken bis zum Hals in Alltagsproblemen – um diese Menschen muss man sich erst einmal kümmern. Da sage ich: Helft ihnen zuerst mal dabei, die fucking Formulare fürs Amt auszufüllen und lasst sie mit eurem Klassenkampf in Ruhe, bis sie wieder etwas Land sehen.

WELT: Im Oktober 2022 riefen Gewerkschaften, Klima- und andere Aktivisten zu einem „solidarischen Herbst“ auf. Zur Demo kamen in Berlin damals nur wenige Tausend Leute. Am selben Tag demonstrierten knapp 80.000 Menschen für Frauenrechte im Iran. Interessieren sich die Menschen in Deutschland einfach nicht für soziale Ungerechtigkeit?

Schneider: Dieser Tag hat mich tatsächlich sehr mitgenommen. Er war im Grunde der Anlass für mein neues Buch. Ich war endlos frustriert und habe lange darüber nachgedacht, was da alles schiefgelaufen ist und warum wir uns in Deutschland so schwertun mit einer solidarischen Bewegung für die Armen.

WELT: Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Schneider: Was diesen misslungenen Tag der Solidarität anbelangt, glaube ich, dass die Themen der einzelnen Akteure einfach zu weit auseinander lagen. Die Gewerkschaften wollten vor allem ihre steuerfreie Entlastungspauschale und den Gaspreisdeckel. Für die Forderungen der Menschen ganz unten machten sie sich im Bund mit Ausnahme von Ver.di kaum stark. Wir aus den Sozialverbänden wollten die Konzentration der Hilfen auf die wirklich Notleidenden.

„Wenn ich mich aus der Zivilgesellschaft heraus um das Thema Armut kümmere, habe ich ja keine echte politische Verhandlungsmasse“
„Wenn ich mich aus der Zivilgesellschaft heraus um das Thema Armut kümmere, habe ich ja keine echte politische Verhandlungsmasse“Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

WELT: Vielleicht waren Sie aber auch thematisch zu breit aufgestellt. Ihr Bündnis stand für Ukraine-Solidarität, den Kampf gegen den Klimawandel statt nur für sozialen Ausgleich. Schreckt das nicht jene ab, die zwar auch Umverteilung wollen, aber bei diesen Themen anderer Meinung sind?

Schneider: Für uns war klar: Die Ökologie gehört dazu. Es geht um unser aller Lebensgrundlage auf diesem Planeten. Wir mussten allen Versuchen offensiv entgegentreten, Soziales gegen Ökologisches auszuspielen. Und erst recht wollten wir niemandem ein Forum bieten, der der Meinung war, die Sanktionen gegen Russland seien aufzuheben, um unsere Energiepreisprobleme zu lösen.

WELT: Unter dem Strich bleibt aber: Eine schlagkräftige Bewegung für einen Ausbau des Sozialstaats gibt es in Deutschland nicht. Und auch keine politischen Mehrheiten.

Schneider: Ja, die Situation ist beschissen. Es gibt derzeit keine sichtbare parteipolitische Mehrheitskonstellation, die linke Politik umsetzen könnte.

WELT: Dabei haben ja Grüne und SPD zumindest rhetorisch eine Abkehr von der Agenda 2010 vollzogen. Doch mit Beginn der Rezession erinnern die Debatten über vermeintlich faule Arbeitslose doch wieder an die damalige Zeit.

Schneider: Stimmt, aber es hilft ja nichts. Man muss gegenhalten und aufklären.

WELT: Aber das tun ja viele. Fehlerhafte Rechnungen zu Bürgergeld-Beziehern, die vermeintlich mehr Geld bekämen als Arbeitnehmer, sind journalistisch widerlegt worden. Trotzdem stoßen Vorurteile gegenüber Arbeitslosen auf enormen gesellschaftlichen Widerhall. Woran liegt das?

Schneider: Viele Menschen haben gerade Angst vor einem sozialen Abstieg in die Armut. Es gibt ihnen eine Scheinsicherheit. Es ist ihre Art, mit ihrer Angst umzugehen, sich in einer „arbeitenden“ Mehrheit zu wähnen und andere abzulehnen, denen es schlechter geht. Die Union hat schnell erkannt, wie sie daraus politisches Kapital schlagen kann, und hat eine echte Kampagne gegen Menschen in Hartz IV gefahren. SPD und Grüne standen hilflos daneben.

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WELT: Im Fernsehen waren Sie immer sehr präsent. Ihre Gegner werfen Ihnen einen gewissen Selbstdarstellungsdrang vor.

Schneider: Klar habe ich auch ein Ego, ich stehe gerne auf der Bühne. Aber ich bin auch immer gut vorbereitet und bleibe bei den Fakten. Ich lasse mich nicht zu Falschinformationen oder unfairen Attacken hinreißen. Ich suche keinen billigen Applaus.

WELT: Schmälern Ihre öffentlichen Anprangerungen nicht Ihren politischen Einfluss? Wer redet schon gern mit jemandem, der ständig nur an der Regierungspolitik rumnörgelt.

Schneider: Im Gegenteil. So wie Lobbyismus in unserer Mediengesellschaft nun einmal funktioniert, bekommt man mit einer starken Medienpräsenz Politiker-Termine, die man sonst nicht bekäme. Wenn ich mich aus der Zivilgesellschaft heraus um das Thema Armut kümmere, habe ich ja keine echte politische Verhandlungsmasse, außer der Drohung, die öffentliche Meinung beeinflussen zu können.

WELT: Ihre Kritiker werfen Ihnen auch vor, die sozialen Verhältnisse in Deutschland bewusst schlecht darzustellen und Umstände auszublenden, die ihnen nicht in die Agenda passen. Man könnte zum Beispiel problematisieren, dass ein großer Teil der Armut in Deutschland mit der massiven Asylzuwanderung zu tun hat.

Schneider: Das Faktum wird ja gar nicht geleugnet. Aber wofür soll das ein Argument sein? Wo die Menschen herkommen, die bei uns unter Armut leiden, ist zweitrangig. Sie sind arm, und sie sind hier, und im Übrigen endet unsere soziale Verantwortung als weltweit drittstärkste Wirtschaftskraft nicht an unseren Grenzen.

WELT: Haben Sie noch eine Botschaft an Ihre Kritiker?

Schneider: Ich hab keine Kritiker, alle lieben mich… (lacht)

Ulrich Schneiders Buch „Krise: Das Versagen einer Republik“ erscheint am 24. Juni.


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