150 Euro. Das ist für manche Leute ein Abendessen, für manche ein Urlaubswochenende im Ferienhaus, für andere das Budget für einen verkaufsoffenen Sonntag.

Und für manche sind 150 Euro die exakt einzige und einmalige Zahlung, die der Staat ihnen als sogenannte Hilfe in der Corona-Krise anbietet.

150 Euro, das hat der Koalitionsausschuss aus SPD und CDU/CSU Mittwochnacht beschlossen, sollen arme Kinder jetzt von ihren Schulen bekommen, um sich ein digitales Endgerät kaufen zu können, das es ihnen möglich macht, zu Hause für die Schule zu lernen.

Es ist wirklich ein Glück, dass es diese 150 Euro jetzt gibt. Denn diese 150 Euro sind wie ein Vergrößerungsglas, unter dem sich ganz genau erkennen lässt, was an der Fürsorge für arme Kinder in Deutschland noch nie funktioniert hat und jetzt weiterhin nicht funktioniert. Diese 150 Euro sind so grotesk, dass es fast schon wieder lustig ist. Weil es einen doch erstaunt: wie sehr sich ein Koalitionsausschuss von den tatsächlichen Bedürfnissen tatsächlicher Menschen entfernen kann.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Man sieht diese Kinder gerade noch weniger als sonst, weil ihre Eltern kein Homeoffice haben, in dem die Kinder stören. Die Eltern haben winzige Wohnungen, in die gerade so ein Schreibtisch passt. Die Eltern sind vom Beschweren über Kita-Schließungen ausgeschlossen, denn ihr Leben hat sich durch das Coronavirus nicht sonderlich verändert: Sie hatten noch nie Geld, um irgendwohin zu gehen, und sie hatten auch vor Corona keine Arbeit. Den Kindern konnten sie noch nie etwas kaufen oder ihnen sogenanntes "gesundes" Essen kochen, also machen sie das auch jetzt nicht. Diese Eltern werden sich niemals im Namen ihrer Kinder beschweren. Denn sie haben längst keine Stimme mehr. Der Ausnahmezustand, die Katastrophe, die Angst vor dem Abstieg, all das war ihnen bereits bekannt. Es ist ihr ganzes Leben.


Die Politik traut den Eltern nicht

Den Kindern, die keinen funktionierenden Computer haben und kein Handy, auf dem man PDF-Dateien lesen kann, fehlt es meistens an ganz essenziellen Dingen: Kleidung zum Beispiel, oder Essen, oder sogar das Betrachten von Orten, an denen es keine Plattenbauten gibt. Jahrelang hat Sozialpolitik das Leben dieser Kinder nicht verbessert. Stattdessen wurde ihnen der Aufstieg durch Bildung versprochen. Wenn sie sich nur genug anstrengen würden, gute Noten schreiben, Bücher lesen, dann könnten sie eventuell "der Armut entkommen". Die Schule sollte alle gleich machen, weshalb man versäumte, die Leben der Kinder auch außerhalb der Schule zu verbessern. Man gab ihnen kostenlose Nachhilfe, kostenlose Mitgliedschaften in Vereinen, kostenlose Mittagessen in Schulen – und vergaß dabei völlig, dass es Kindern niemals gut gehen wird, wenn ihre Eltern arm sind. Dass die Ausgrenzung und die psychische Belastung, die aus Armut entsteht, jedes Kinderhirn sowieso verkümmern lassen.

Im Lockdown ist die Familie nun das einzige System, das weiterhin da ist. Das, woran sich nun viele halten. Arme Kinder hingegen bekommen die 150 Euro ausgerechnet über ihre geschlossenen Schulen ausgezahlt. Das sagt alles über das Verhältnis des Staates zu den Eltern der armen Kinder. Man vertraut diesen Eltern nicht. Man traut ihnen nicht zu, das Beste für ihre eigenen Kinder zu wollen.

Es wäre natürlich möglich, den Familien 150 Euro pro Kind zu überweisen – damit sie Dinge kaufen können, die ihnen gerade wichtig sind, um diese Zeit zu überleben. Stattdessen aber lässt man ihre Kinder den demütigenden Gang zum Klassenlehrer machen, um nach läppischen 150 Euro zu fragen. Wahrscheinlich müssen die Kinder später noch den Kassenbon einreichen, um zu beweisen, dass sich ihre Eltern mit dem Geld auch bloß keinen Alkohol gekauft haben.

Die 150 Euro zementieren einen Blick auf die Armen, der ihnen kein eigenes, erfülltes Leben zugesteht. Stattdessen werden sie verwaltet: Die Eltern durch die Arbeitsagentur, die Kinder durch die Schulen.

In einer Krise, die psychischen und wirtschaftlichen Stress für die ganze Welt bedeutet, erdreistet es sich die deutsche Sozialpolitik, weiterhin so zu tun, als könne Bildung helfen. Als sei der Zugang zu Matheaufgaben das einzige, was arme Kinder bräuchten. Und als sei damit jede Pflicht des Staates erledigt, armen Kindern menschenwürdige Leben zu ermöglichen.

Besonders zynisch ist vor diesen Hintergrund das, was die Koalition sonst noch beschlossen hat: die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes etwa wird Deutschland über die nächsten Monate Millionen kosten, genauso die Absenkung der Mehrwertsteuer auf 7 Prozent für Gastronomiebetriebe. Alle bekommen jetzt Geschenke vom Staat, die eigentlich unbezahlbar sind. Menschen in Kurzarbeit sollen ihren Lebensstandard halten können, Cafés sollen nicht pleite gehen, Unternehmen sollen weniger Steuern zahlen müssen – all das ist richtig und gut. Aber den Armen gegenüber kann der Staat seine erzieherische, bevormundende Haltung selbst jetzt nicht aufgeben. Den armen Kindern sagt das alles darüber, wie wichtig ihr "Aufstieg" der Gesellschaft wirklich ist: nicht wichtig genug.