Drama | Deutschland/Belgien 2018 | 89 Minuten

Regie: Ziska Riemann

Eine frischgebackene Synchronsprecherin identifiziert sich zunehmend mit ihrer Sprechrolle einer Anime-Superheldin und ist bald davon überzeugt, dass sie ihre Heimatstadt Hamburg und die ganze Welt vor dem Untergang retten muss. Bei ihrer Umwelt stößt sie damit auf wenig Verständnis. Der poppig inszenierte Film löst die Grenzen zwischen Realität und Wahn auch erzählerisch auf, indem er nahtlos in animierte Szenen wechselt und nicht nur von einer wahnhaften Realitätsverzerrung erzählt, sondern ebenso auch den Umgang der Gesellschaft mit dem „Nicht-Konformen“ befragt, die Abweichungen höchstenfalls duldet. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Belgien
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Niko Film/Wüste Film/WDR/A Private View
Regie
Ziska Riemann
Buch
Dagmar Gabler · Luci van Org · Angela Christlieb · Ziska Riemann
Kamera
Hannes Hubach · Andrés Lizana Prado
Musik
Ingo Frenzel
Schnitt
Fridolin Körner
Darsteller
Victoria Schulz (Mia) · Björn von der Wellen (Jakob) · Hans-Jochen Wagner (Kristoph) · India Antony (Joanne) · Anna Amalie Blomeyer (Esther)
Länge
89 Minuten
Kinostart
11.07.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Farbfilm/Lighthouse (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Poppiges Drama um eine frischgebackene Synchronsprecherin, die sich zunehmend mit ihrer ersten Sprecherrolle einer Anime-Superheldin identifiziert und die Welt retten zu müssen glaubt.

Diskussion

Die 23-jährige Mia, die in einer Bar kellnert, Gedichte schreibt und kreuz und quer durchs Leben hoppelt, hat plötzlich einen Job: Sie soll die Hauptfigur in einem japanischen Anime synchronisieren. Kimiko, so der Name ihrer Sprechrolle, muss Tokio vor den Yokai-Dämonen retten, die in Stromkabeln und WLAN-Netzen lauern und den Menschen ihren Willen rauben.

Das ist eine coole Geschichte. Die Superheldin mit blauen Haaren und gelbem Mantel ist genau nach Mias Geschmack. Das Problem, zumindest für die Außenwelt, besteht allerdings darin, dass Mia alsbald außergewöhnliche Fähigkeiten an sich wahrnimmt und sich zunehmend selbst für die Weltenretterin Kimiko hält. „Die Zukunft so vieler Menschen liegt in meinen Händen!“

Eine Riege von „Riotgirls“

Anzeichen für eine drohende Apokalypse erkennt sie überall: Stromblitze aus Steckdosen, die gut getarnte Schaltzentrale des Bösen im Hamburger Hafen, das weiße Rauschen der digitalen Welt. Ihren von der Menschheit enttäuschten Nachbarn Kristof ernennt Mia zum „Co-Helden“ und ist fortan nicht mehr zu halten.

Mia ist eine Figur, die sich die Regisseurin Ziska Riemann unter anderem zusammen mit Lucie van Org ausgedacht hat. Die erst dunkel- und dann bald blauhaarige junge Frau reiht sich in die Riege der „Riotgirls“ ein, die man aus Riemanns Debütfilm „Lollipop Monster“ kennt. Jung, hübsch, provozierend sexy und eigenwillig, aber auch ziemlich verloren im Hier und Jetzt leben sie in einer bonbonfarbenen Welt, die sie sich zurechtlegen „widewidewie“ es ihnen gefällt.

Die Spießer sind immer die anderen. Ständig ist die Kamera in Bewegung, oft blickt sie aus schrägen Perspektiven auf das Geschehen in einem künstlich wirkenden Setting. Was Realität ist und was Fantasie, hebt sich in „Electric Girl“ vollends auf, auch bildlich, wenn sich Mia äußerlich immer mehr der Manga-Comic-Heldin anpasst und ihre Abenteuer in animierten Sequenzen fortsetzt, die das belgische Trickfilmstudio Lunamine realisiert hat. Diese Szenen fügen sich nahtlos in den Erzählstrom ein, was Erinnerungen an „Lola rennt“ weckt.

Poppig-erschreckendes Krankheitsbild

Irgendwann steckt man in Mias Kopf, die ihren ganz eigenen Film fährt. Man ahnt schnell, dass das selbst ernannte Supergirl zunehmend die Kontrolle über ihr ohnehin atemloses Leben verliert. Immer ist sie auf dem Sprung, wechselt von der Kneipe in den Club, schiebt nebenbei eine schnelle Nummer mit ihrem Chef und zieht morgens in ihrer Bude die Vorhänge zu. Die Welt da draußen soll bitte draußen bleiben. Dass ihr Vater sterbenskrank ist, schiebt sie schleunigst beiseite.

Man kann „Electric Girl“ als poppig inszeniertes, aber auch erschreckendes Krankheitsbild lesen: die Geschichte einer manischen Persönlichkeit, die als größenwahnsinnige Weltenretterin sich und andere gefährdet. Man versteht die genervten Freunde, die entsetzte Familie, die nicht eine Heldin, sondern eine Verrückte sehen, die unter Strom steht, sich wild gebärdet und wirren Verschwörungstheorien anhängt. Die Inszenierung will aber auch, dass man sich in Mia einfühlt, die sich im Wahn unverwundbar wähnt und die ihre Mission – koste es, was es wolle – zu Ende führen muss; dann überschreitet sie auch in der Realität Grenzen, ohne dass die Folgen derartiger Aktionen gezeigt werden.

Der Umgang mit dem „Nicht-Konformen“

Wenn man sich auf diesen Perspektivwechsel einlässt, erzählt „Electric Girl“ nicht nur die Geschichte einer Frau, die einen massiven Realitätsverlust erleidet, sondern man blickt auch auf eine Gesellschaft, in der das „Nicht-Konforme“ meist negativ auffällt. Wie geht man mit Menschen um, die neben der Spur laufen?  In welchem Maße wird Abweichendes, wenn überhaupt, (er)duldet?

„Electric Girl“ schlägt sich ganz auf die Seite seiner irrlichternden Hauptfigur, die plötzlich übernatürliche Kräfte besitzt. Hinweise für eine psychische Erkrankung lassen sich in Mias Ruhelosigkeit, im Elternhaus vermuten, doch an einer ernsthaften Problematisierung ist der Regisseurin Ziska Riemann nicht gelegen. Sie interessiert vielmehr der Zustand des Wahns und zeigt, dass Leute wie Mia unbedingt „Co-Helden“ wie Kristof brauchen.

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