Studie „LSBTIQ+ Geflüchtete in Berlin – Auf dem Weg zur Teilhabe. Eine qualitative
Studie im Rahmen der Weiterentwicklung des Fachmonitorings des Gesamtkonzepts zur
Integration und Partizipation Geflüchteter“
Verfasst von Prof. Dr. Zülfukar Çetin
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung..........................................................................................................................3
2. Erhebungs- und Auswertungsmethode ...................................................................................4
2.1. Narrative Interviews mit queeren Geflüchteten..................................................................4
2.2. Expert*inneninterviews mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im Handlungsfeld...............5
2.3. Qualitative Inhaltsanalyse ..............................................................................................5
3. Teilhabe von LSBTIQ+ Geflüchteten in Berlin .......................................................................6
3.1
Zugang zu sicherer Unterbringung.................................................................................8
3.2 Zugang zu Wohnraum ................................................................................................ 10
3.3. Zugang zur Gesundheitsversorgung............................................................................... 11
3.4 Zugang zu Arbeit/Bildung ............................................................................................ 12
4. Weitere Faktoren, die Teilhabemöglichkeiten beeinflussen ..................................................... 14
4.1 Sicherheit................................................................................................................... 14
4.2 Diskriminierung und Antidiskriminierung ....................................................................... 16
4.3 Communitystrukturen .................................................................................................. 17
5. Fazit und Handlungsempfehlungen (Ausblick) ...................................................................... 19
5.1. Handlungsempfehlungen für sichere Unterbringung......................................................... 20
5.2. Handlungsempfehlungen für sicheren Wohnraum ............................................................ 21
5.3. Handlungsempfehlungen für Bildung und Arbeit ............................................................. 21
5.4. Handlungsempfehlungen für den Zugang zur Gesundheitsversorgung................................. 22
Literatur ............................................................................................................................. 25
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Kontakt und Impressum
Prof. Dr. Zülfukar Çetin
Evangelische Hochschule Berlin (EHB)
Teltower Damm 118-122, 14167 Berlin
Telefonnummer: +49 (0) 30 845 82 221
E-Mail: zuelfukar.cetin@eh-berlin.de
Autor*in:
Prof. Dr. Zülfukar Çetin
Das Projekt wurde gefördert von der Beauftragten des Senats für Integration und Migration aus
Mitteln der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und
Antidiskriminierung.
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1. Einleitung
Das Unterstützungssystem für queere beziehungsweise LSBTIQ*-Geflüchtete in Berlin ist von
Ambivalenzen geprägt. Einerseits erfährt es im Vergleich zu anderen Bundesländern
Anerkennung, da in Berlin eine vergleichsweise starke Zivilgesellschaft existiert, die sich
allgemein für queere Menschen einsetzt, insbesondere für diejenigen, die eigene
Fluchterfahrungen gemacht haben, um politischen Einfluss zu nehmen. Daher existiert eine starke
Unterstützungslandschaft für LSBTIQ+ Geflüchtete in Berlin. Andererseits wird das staatliche
Hilfesystem für Geflüchtete generell kritisiert, da es für viele Betroffene, und somit auch für
LSBTIQ+ Geflüchtete, als überbürokratisiert und unflexibel erscheint.
In diesem Kontext gestaltet sich der Zugang zu materiellen und immateriellen Ressourcen als
erschwert, was die Teilhabechancen in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
beeinträchtigt. Die Ursachen für diese Zugangserschwernisse und eingeschränkten
Teilhabechancen sind institutionell bedingt und gelten für alle geflüchteten Personen. Für
LSBTIQ+ Geflüchtete kommt jedoch hinzu, dass Behörden und andere (nicht-)staatliche
Institutionen nicht nur über unzureichend queersensible und rassismuskritische Ansätze verfügen,
sondern es ihnen auch an spezifischem Wissen über die Lebenslagen von Queers mit
Fluchterfahrung mangelt. Das erschwert den Zugang zu Teilhabe für diese Personengruppe
weiterhin.
Der vorliegende Forschungsbericht widmet sich sowohl diesen Wissenslücken als auch dem Stand
der Teilhabe queerer Geflüchteter in bestimmten Lebensbereichen. Zu diesem Zweck wurde im
Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Weiterentwicklung des Fachmonitorings zum
Gesamtkonzept zur Integration und Partizipation Geflüchteter, Querschnittsthema LSBTIQ+
Geflüchtete, die qualitative Studie durchgeführt, um Informationen über Teilhabechancen der
queeren Geflüchteten zu sammeln und Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:
• Inwiefern erfahren LSBTIQ+ Geflüchtete in Berlin Teilhabe?
• Welche Faktoren begünstigen oder erschweren dies?
• Wie ist der Stand der Teilhabe von LSBTIQ+ Geflüchteten in Berlin?
• Welche Erfolgsfaktoren und Barrieren lassen sich für die Teilhabe von LSBTIQ+ Geflüchteten
identifizieren, und welche Handlungsbedarfe ergeben sich ggf. daraus?
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2. Erhebungs- und Auswertungsmethode
Die Interviews zu der vorliegenden Studie wurde im Oktober und November 2023 durchgeführt.
Insgesamt fanden 13 Interviews statt, sieben narrative Interviews mit queeren Geflüchteten und
sechs Expert*inneninterviews mit Akteur*innen aus queeren community-basierten
Organisationen, die sich auch mit Flucht und Migration auseinandersetzen. Von den
Organisationen haben zwei zugestimmt, namentlich genannt zu werden. Dies sind die
Schwulenberatung Berlin und der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg. Weitere
Organisationen werden auf eigenen Wunsch nicht namentlich genannt.
2.1. Narrative Interviews mit queeren Geflüchteten
Narrative Interviews zielen darauf ab, detaillierte Erzählungen über spezifische, für die Forschung
relevante Lebensabschnitte und/oder Lebensgeschichten der interviewten Personen zu erhalten.
Die Interviewpartner*innen werden zunächst dazu aufgefordert, frei über ihr Leben oder einen
bestimmten Lebensabschnitt zu berichten. In dieser Studie wurden die interviewten Personen
gebeten, zunächst über ihre aktuelle Situation in Berlin zu erzählen. Nach der Haupterzählung
bzw. in der Nachfragephase wurden forschungsspezifische Fragen gestellt, um die narrativen
Interviews zielgerichtet aufrechtzuerhalten. Die Interviews mit LSBTIQ+ Geflüchteten verfolgten
das Ziel, das Erfahrungswissen der Erzähler*innen an ein Fachpublikum in den Bereichen Soziale
Arbeit, Verwaltung, Politik und Forschung zu vermitteln, um die Wissensgrundlage im
Themenfeld LSBTIQ+ Geflüchtete in Berlin zu verbessern.
Interviewpartner*innen und Zugang zu ihnen:
Ati*: Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Ati seit drei Monaten in Berlin. Sie ist eine 27-jährige
Transfrau und stammt aus der Türkei. Ati* befindet sich noch in der ersten Phase ihres
Asylverfahrens und ist derzeit in einer Unterkunft des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten
(LAF) untergebracht. Der Kontakt zu Ati* wurde durch den Türkischen Bund in Berlin
Brandenburg e. V. (TBB) vermittelt.
Ali* und Cem: Ali und Cem leben seit fünf Monaten in Deutschland und befinden sich noch im
Asylverfahren und warten auf den Bescheid zu ihrem Asylantrag. Sie sind als schwules Paar aus
der Türkei nach Berlin gekommen und haben bei ihrer Antragstellung auf ihre Partnerschaft
hingewiesen. Anders als bei heteronormativ lebenden Paaren oder Familien wurden sie aber als
ledig behandelt und ihr Antrag wurde individuell bearbeitet. Sie sind in derselben Unterkunft wie
Ati untergebracht. Ali und Cem wurden gemeinsam interviewt.
Shems: Shems lebt seit 20 Monaten in Berlin und hat zuvor zwei Jahre als Geflüchteter aus dem
Iran in Griechenland verbracht. Aufgrund der Dublin-Regelung ist sein Asylverfahren noch nicht
4
abgeschlossen. Shems lebt in der landeseigenen LSBTIQ+-Unterkunft, die vom LAF betrieben
wird, und bezeichnet sich als cis-schwul. Der Kontakt zu ihm wurde durch einen Verein, der nicht
namentlich genannt wird, vermittelt.
Harun*: Harun* lebt seit 2017 in Deutschland, ist zunächst aus Studienzwecken nach Deutschland
gekommen und musste aufgrund der Jina-Revolution im Iran einen Asylantrag stellen. Sein*ihr
Asylverfahren konnte innerhalb von zwei Monaten nach Antragstellung abgeschlossen werden.
Harun* ist eine non-binäre Person ohne Pronomen und lebt in einer eigenen Wohnung. Der
Kontakt zu Harun* wurde durch eine Organisation, die nicht namentlich genannt wird, hergestellt.
Ahmed: Lebt seit 2015 in Deutschland und ist aufgrund des Krieges aus Syrien geflüchtet. Sein
Asylverfahren wurde anfangs relativ schnell (in 2 Monaten) abgeschlossen. Seit 2016 lebt er in
einer eigenen Wohnung in Berlin und arbeitet als Sozialarbeiter in einer queeren Organisation.
Der Kontakt zu Ahmed wurde durch die Schwulenberatung Berlin gGmbH hergestellt.
Mehmed: Mehmed* lebt seit 2015 in Deutschland, stammt aus Syrien und arbeitet derzeit als
Sozialarbeiter in einer queeren Organisation mit queeren Geflüchteten und anderen queeren
Menschen unterschiedlicher Altersgruppen. Zusätzlich ist Mehmed als Sprachmittler tätig. Bei
seinem Asylantrag hat er sein Queerness nicht als Asylgrund angegeben. Mehmed lebt derzeit in
einer eigenen Wohnung, und der Kontakt wurde durch die Schwulenberatung Berlin gGmbH
hergestellt.
2.2. Expert*inneninterviews mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im
Handlungsfeld
Parallel zu den narrativen Interviews wurden ebenfalls Expert*innen interviewt, um mögliche
Problemfelder für die Zielgruppe zu identifizieren und um potenzielle Handlungsstrategien zu
entwickeln. Die Interviewpartner*innen sind Expert*innen im Bereich queer- und fluchtbezogener
Sozialarbeit und setzen sich für die Interessen der queeren Geflüchteten ein, indem sie politische
Forderungen stellen und Advocacy-Arbeit leisten. Die Expert*innen verfügen über
interdisziplinäres Fachwissen und bringen oft wertvolles Erfahrungswissen als queere Menschen
mit oder ohne eigene Flucht- und Migrationsgeschichte ein. Der Zugang zu Expert*innen wurde
durch die Weitervermittlung der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung
(LADS) und des Netzwerks des Interviewers erleichtert.
2.3. Qualitative Inhaltsanalyse
Die Interviews wurden nach Philipp Mayring anhand eines Analyseprogramms von F4-Transcript
und F4-Analyse inhaltsanalytisch ausgewertet. Qualitative Inhaltsanalyse erfolgt nach einem
deduktiven und/oder induktiven Kategoriensystem, das der Auswertung zugrunde liegt.
5
Untersuchungskategorien haben sich auf Grundlage der Fragestellungen, Ziele und weiteren
Erkenntnisinteressen der Studie deduktiv und induktiv herauskristallisiert. Zentrale
Untersuchungskategorien sind demnach, Stand der Teilhabe, Zugang zu sicherer Unterbringung
und zum Wohnraum, zur Bildung und Arbeit wie auch der Zugang zu gesundheitlicher
Versorgung. Außerdem wurden weitere Faktoren wie Sicherheit, Diskriminierungserfahrungen
und Communitystrukturen bei der Auswertung der Interviews berücksichtigt.
3. Teilhabe von LSBTIQ+ Geflüchteten in Berlin
Im Rahmen dieser Studie wird nicht ausführlich auf die theoretischen Aspekte der Begriffe
"Teilhabe" oder "Partizipation" eingegangen. Es ist jedoch von essenzieller Bedeutung, eine
wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch fundierte Definition beziehungsweise Konzeption von
Teilhabe und Partizipation zu bestimmen, um die durchgeführten Interviews auf dieser Basis
angemessen auswerten zu können. In der Literatur wird zwischen den beiden Begriffen kaum
differenziert; sie werden häufig als Synonyme betrachtet (vgl. Rudolf, 2017, S. 13). Trotz dieses
vorherrschenden Synonymverständnisses von Partizipation und Teilhabe liegt diesem Bericht eine
grundlegende Differenzierung zugrunde. Unter Berücksichtigung des Lexikons der Ergänzenden
unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) werden Teilhabe und Partizipation wie folgt
gegenübergestellt: Während Teilhabe nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) das "Einbezogensein in eine Lebenssituation" bedeutet, geht Partizipation darüber
hinaus. Partizipation umfasst die Beteiligung von Individuen an Entscheidungsprozessen und die
Beeinflussung ihrer Ergebnisse (EUTB, o. D.).
Es wird deutlich, dass der Begriff der Partizipation aufgrund von unsicherem Aufenthaltsstatus,
sexueller Orientierung und/oder Identität sowie fehlendem sozioökonomischem Kapital der
Zielgruppe nicht als Analysekategorie herangezogen werden kann, da die Zielgruppe – nach
aktuellem Stand ihrer Teilhabe – nur sehr bedingt Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse
nehmen kann. Dennoch ist es von erheblicher Relevanz zu erforschen, inwieweit die Zielgruppe
in verschiedenen Lebensbereichen einbezogen wird und Möglichkeiten zur Teilhabe am
gesamtgesellschaftlichen Leben hat. Auf diese Weise kann der Grad der Teilhabe von queeren
Geflüchteten anhand unterschiedlicher Kriterien ermittelt werden, beispielsweise
Zugangsmöglichkeiten zu Lebensbereichen wie Wohnen, Bildung, Arbeit und
Gesundheitsversorgung, das Führen eines selbstbestimmten Lebens, die Teilhabe an Chancenund Verteilungsgerechtigkeit, die Zufriedenheit mit dem Leben als queere Geflüchtete sowie die
Anerkennung und Wertschätzung als Individuen unabhängig ihrer Differenzkategorien (vgl.
EUTB, o. D.).
6
Die Interviewpartner*innen geben vorrangig an, dass sie das Stadtleben in Berlin überwiegend
positiv erleben. Unabhängig von strukturellen und institutionellen Herausforderungen im Umgang
mit Behörden und anderen Einrichtungen können sie ihren Alltag erfolgreich bewältigen.
Die Studie hat deutlich gemacht, dass die gesellschaftliche Teilhabe oder Nicht-Teilhabe durch
verschiedene Faktoren beeinflusst wird, darunter durch die Aufenthaltsdauer der
Interviewpartner*innen in Berlin bzw. Deutschland, die Phase ihres laufenden Asylantrags, der
Abschluss des Asylverfahrens sowie die Erlangung eines anerkannten Asyl- und Schutzstatus.
Auch der Zugang zu sicherer Unterbringung, Wohnraum, Arbeit, Bildung und
Gesundheitsversorgung spielt eine entscheidende Rolle. Queere Geflüchtete, die sich in den
frühen Phasen des Asylverfahrens befinden, kämpfen vor allem um den Zugang zu grundlegenden
Menschenrechten wie sichere Unterbringung, mentale und physische Gesundheit sowie
Ernährung. Der Zugang zu diesen Menschenrechten ist eng mit der Teilhabe verbunden. Alle
Interviews zeigen, dass in diesem Bereich institutionelle Probleme vorherrschen und angemessene
Teilhabe daher für die interviewten Personen kaum möglich ist. Die Interviews mit Expert*innen
verdeutlichen, dass das Hilfesystem in Berlin bzw. Deutschland verbesserungsbedürftig ist, da es
keinen angemessenen Zugang zu den genannten Menschenrechten gewährleistet. Dies zeigt sich
sowohl im Anhörungsprozess, bei dem die Anhörer*innen für queer-spezifische und
rassismuskritische Themen kaum sensibel sind, als auch in Erstaufnahmeeinrichtungen und
anderen Unterkünften, in denen Sicherheitspersonal, Leitungspersonal und Sozialarbeiter*innen
oftmals keine ausreichende Sensibilität für queere Lebensrealitäten aufweisen, es sei denn, es
kommt in der Unterkunft zu Gewalt, was zwangsläufiges Eingreifen erfordert. Die befragten
queeren Geflüchteten berichten zudem häufig von Sprachproblemen während der Anhörung oder
in den Unterkünften. Da in fast allen (Handlungs-)Bereichen westliche Sprachen dominieren und
diese noch nicht vollständig queersensibel sind, erreicht die beabsichtigte Unterstützung die
queeren Geflüchteten oft nicht. Da die Mehrheit der queeren Geflüchteten die westlichen
Sprachen nicht beherrscht, werden in der Regel Dolmetscher*innen eingesetzt, die tendenziell
nicht mit einer queersensiblen und diskriminierungsarmen Sprache vertraut sind, was sich negativ
auf das Asylverfahren und somit auf die Möglichkeit Teilhabe zu erfahren auswirkt. Die im
Asylverfahren involvierten Einrichtungen und ihre Mitarbeiter*innen verfügen nicht im
erforderlichen Maß über spezifisches Wissen über die Situation queerer Menschen in
Herkunftsländern, sodass das Asylverfahren nicht im Einklang mit dem Prinzip der "besonderen
Schutzbedürftigkeit" durchgeführt wird, was wiederum zu Ungunsten der queeren Asylsuchenden
sein kann, wie aus den Interviews mit Expert*innen hervorgeht.
7
3.1
Zugang zu sicherer Unterbringung
Nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im Kontext der umgebenden gesellschaftlichen
und strukturellen Rahmenbedingungen ist es essenziell, dass Menschen sich als integrale
Bestandteile der Gesellschaft empfinden. Unsichere Unterkünfte für geflüchtete bzw.
schutzsuchende Trans*Personen, schwule Paare und andere Mitglieder der queeren Community
stellen erhebliche Hindernisse für eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe dar. Diese
Unsicherheiten und Ängste führen oft zu psychischen Belastungen, einschließlich
posttraumatischer Störungen, Suizidgedanken und Isolation. Die Mehrheit der queeren
Geflüchteten, die interviewt wurden, beklagt Zugangsbarrieren, insbesondere in Bezug auf sichere
Unterkünfte. Sie berichten zudem häufig von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen, die sie
sowohl im Umgang mit anderen Bewohner*innen als auch mit Mitarbeiter*innen der zuständigen
Behörden sowie dem Personal der Unterkünfte, einschließlich Sozialarbeiter*innen, erlebt haben.
Die befragten Expert*innen betonen die Notwendigkeit, dass queere Geflüchtete als besonders
schutzbedürftige Gruppe Zugang zu sicheren und stabilen Unterbringungsstrukturen haben
sollten. Dort könnten ihre Teilhabechancen und Zukunftsperspektiven verbessert, während
Sicherheits- und Diskriminierungsrisiken minimiert werden.
Fall Beispiel I: Schwule Paare gelten nicht als Familie
Ali* und Cem*, ein schwules Paar aus der Türkei, flohen aufgrund ihrer sexuellen
Orientierung und wurden zunächst in einer LAF-Unterkunft untergebracht, mit einem
besonderen Bereich für besonders schutzbedürftige Gruppen wie Familien. Obwohl diese
Unterkunft für kürzere Aufenthalte vorgesehen ist, wurde ihnen zugesagt, dort bis zum
Abschluss ihres Asylverfahrens bleiben zu können. Dieses Versprechen konnte aufgrund
eines Gewaltereignisses mit dem Sicherheitspersonal nicht eingehalten werden. Ein
gewalttätiger Konflikt entstand, als die Sicherheitskraft das Paar nicht als Familie
anerkennen wollte. Innerhalb kurzer Zeit wurden Ali und Cem gezwungen, die Unterkunft
zu verlassen, mit der Begründung, dass neue Geflüchtete untergebracht werden. Ein
Partner konnte die Gewaltmomente aufzeichnen. Nach diesem traumatischen Vorfall
wurden sie ins Ankunftszentrum-Tegel verlegt, das sich als unsicher für das queere Paar
erwies. Trotz wiederholter Bitten erhielten sie keinen sichereren Raum. Diese Situation
führte zu fortwährender Furcht um ihre körperliche Sicherheit und erheblichem Stres s.
Ali und Cem wurden bereits bei der Asylantragstellung nicht als Paar und/oder Familie anerkannt,
da sie einen offiziellen Nachweis ihrer Partnerschaft nicht vorlegen können. Die heteronormative
und diversitätsignorierende Praxis des BAMF und des LAF wirkte sich negativ auf das
8
interviewte Paar aus, da es von speziellen Asylleistungen für Familien ausgeschlossen wurde.
Aufgrund der Tatsache, dass Familienmitglieder nicht getrennt werden dürfen, besteht die Gefahr,
dass die beiden Partner an unterschiedliche Orte in Deutschland verteilt werden, da sie nicht als
Familie gelten. Die ähnliche Erfahrung mit der Nicht-Anerkennung haben sie, wie in der
Falldarstellung ersichtlich, auch in der Unterkunft gemacht. Die heteronormative Praxis des
Unterkunftspersonals manifestierte sich in Form von Gewalt, Nicht-Anerkennung der
Partnerschaft und führte schließlich zum Rauswurf aus der Unterkunft.
Eine weitere Erkenntnis, die bei der sicheren Unterbringung eine wichtige Rolle spielt, ist die
(Nicht-)Berücksichtigung unterschiedlicher queerer Identitäten. LSBTIQ+-Communities sind
nicht homogen, und verschiedene geschlechtliche und sexuelle Identitäten sind unterschiedlich
stark von Sicherheitsrisiken bedroht.
Fallbeispiel II: Transfrauen* gelten nicht als „echte“ Frauen*
Ati, eine 27-jährige geflüchtete Transfrau aus der Türkei, erlebte in den ersten beiden
Unterkünften Transfeindlichkeit und Gewalt. Trotz Verlegung in eine für
LSBTIQ+Personen geeignet geltende Unterkunft musste sie ein Zimmer mit fünf CisMännern teilen, da sie vom LAF als Mann registriert wurde. Die Zwangslage führte zu
anhaltenden Ängsten und Retraumatisierungen.
Beispielhaft lässt sich feststellen, dass die Sicherheitsrisiken für eine non-binäre Person oder eine
Transfrau ohne geschlechtliche Anpassungsmaßnahmen anders zu bewerten sind als die eines cismännlichen schwulen Manns. Die Queerness des cis-männlichen schwulen Manns ist im
alltäglichen Leben möglicherweise nicht auf den ersten Blick zu erkennen, er erfährt jedoch
institutionelle Diskriminierungserfahrungen. Es ist daher wichtig, solche Unterschiede bei der
Gestaltung von sicheren Unterkünften zu berücksichtigen.
Laut einer*eines Expertin*en konnte in der queeren Unterkunft, als sie noch von der
Schwulenberatung Berlin gGmbH betrieben wurde, Rücksicht auf verschiedene LSBTIQ+Identitäten genommen werden. Die Wohngemeinschaften wurden demnach entsprechend den
spezifischen Identitätsmerkmalen oder Paarkonstellationen organisiert. Dadurch wurden
Diskriminierung und Ausgrenzung vorgebeugt und befördert, dass die Bewohner*innen sich in
mentaler Hinsicht sicherer fühlen konnten. Auch dort wurde ein intersektionales
Diskriminierungs- und Gewaltschutzkonzept partizipativ, gemeinsam mit den Bewohner*innen,
nach deren eigenen Bedürfnissen und Anforderungen entwickelt und eingesetzt. Dies stellt ein
Paradebeispiel für Teilhabe auf der Mikroebene des gesellschaftlichen Lebens dar.
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Auch wenn eine queere Unterkunft von vielen Akteur*innen und Adressat*innen als absolut
notwendig betrachtet wird, gibt es einige interviewte Expert*innen, die auch auf mögliche
Nachteile hinsichtlich der Sicherheit hinweisen. Der Zugang zu einer queeren Unterkunft ist mit
einem Outing bei verschiedenen Behörden und Institutionen verknüpft, was nicht von allen
queeren Schutzsuchenden* gewünscht ist. Dadurch fühlen sie sich nicht immer sicher. Dieses
(Zwangs)Outing kann zu emotionalen und psychologischen Belastungen führen.
Zusätzlich können auch queere Unterkünfte keine sicheren Räume für die Bewohner*innen
bieten, da diese aus verschiedenen sexuellen Orientierungen, sexuellen/geschlechtlichen
Identitäten und ethnischen/sozialen Hintergründen stammen. Das birgt die Gefahr von
Diskriminierungs- und Gewaltereignissen innerhalb der queeren geflüchteten „Communities“.
Einige der interviewten Expert*innen sprechen sich dafür aus, dass eine Durchmischung von
queeren und nicht-queeren Personen zu einer besseren Teilhabe beitragen kann, wobei ein
dezentrales Unterbringungskonzept von allen Beteiligten empfohlen wird.
3.2 Zugang zu Wohnraum
Der Zugang zu Wohnraum gestaltet sich für queere Geflüchtete als äußerst herausfordernd.
Während des Asylverfahrens ist der Umzug aus einer Aufnahmeeinrichtung bzw. einer Unterkunft
in den privaten Wohnraum mit hohen Hürden verbunden. Zugangsbarrieren bleiben auch trotz
eines positiven Asylbescheids bestehen. Der reguläre Wohnungsmarkt in Berlin ist bereits durch
eine hohe Nachfrage überlastet, wobei Wohnungsgesellschaften ihre Wohnungen auf Grundlage
intransparenter Kriterien vergeben. Hierbei spielen nicht nur Klassismus und Rassismus eine
maßgebliche Rolle, sondern auch Heteronormativität und anti-queere Positionen erschweren den
Zugang zu Wohnraum. Diese Barrieren rufen nicht nur verschiedene Angstzustände bei
Betroffenen hervor, sondern verhindern auch ihre Teilhabe an der Gesellschaft, da ohne sicheren
Wohnraum Zukunftspläne nur schwer realisierbar sind.
Ein*e interviewte Expert*in unterstreicht, dass ein dauerhafter Wohnraum den Menschen nicht
nur ein Gefühl der Sicherheit verleiht, sondern auch Existenzängste mindert. Daher bedarf es auch
für (queere) Geflüchtete sicherer und stabiler Wohnverhältnisse, um ein Gefühl der Sicherheit zu
entwickeln, sich entfalten zu können und Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Solange dieser
Zugang zu sicherem Wohnraum verwehrt bleibt, bleibt auch die Chance auf gesellschaftliche
Teilhabe gering bis nahezu unmöglich.
Eine weitere Fachperson bestätigt, dass der erfolgreiche Zugang zu Wohnraum stark vom sozialen
Status und vorhandenen Privilegien abhängig ist. Ein cis-schwuler Mann mit guten
Englischkenntnissen sowie abgeschlossenem Studium oder einer Ausbildung hat größere Chancen
im Vergleich zu anderen queeren Personen, die nicht über diese Ressourcen verfügen. Die
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ungleiche Verteilung von Ressourcen zeigt sich bei queeren Geflüchteten besonders gravierend
und beeinträchtigt den Zugang zu Wohnraum erheblich.
Trotz dieser Herausforderungen gelingt es einigen interviewten queeren Geflüchteten, Zugang zu
Wohnraum über ihre eigenen Communities oder private Netzwerke zu erlangen. Personen mit
akademischem Hintergrund oder Erfahrung im Aktivismus und Netzwerken haben dabei bessere
Chancen im Vergleich zu queeren Geflüchteten mit Verfolgungsgeschichte, fehlenden sozialen
und kulturellen Kapitalen sowie bestehenden Zugangsbarrieren.
3.3. Zugang zur Gesundheitsversorgung
Der Zugang zur medizinischen Versorgung gestaltet sich für queere Geflüchtete im Asylverfahren
als äußerst problematisch. Oftmals werden sie nicht ausreichend über verfügbare medizinische
Versorgungsmöglichkeiten bei Krankheiten oder gesundheitlichen Problemen informiert. Die
langwierige Dauer des Asylverfahrens erschwert den Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu
Krankenkassen. Die Betroffenen plädieren dafür, das Asylverfahren für besonders
schutzbedürftige Gruppen wie LSBTIQ+ zu verkürzen oder zu vereinfachen, da diese durch
verschiedene Faktoren existenziell bedroht sind.
Die Interviewten berichten vor allem von psychischen Problemen während des Asylverfahrens,
die auf Fluchtgeschichten, gesellschaftliche Zugangsbarrieren sowie Diskriminierungs- und
Gewalterfahrungen zurückzuführen sind. Strukturelle Probleme beim Zugang zur
Gesundheitsversorgung verschärfen diese Schwierigkeiten. Personen, die die deutsche Sprache
noch nicht beherrschen, haben geringere Chancen, psychotherapeutische Angebote zu erhalten, da
die psychiatrischen Dienste nicht nur monolingual, sondern auch unzureichend queersensibel und
diversitätsbewusst sind.
Monolinguale Psychotherapeut*innen, die ihre Dienste in einer binären Geschlechterordnung
anbieten, können dazu beitragen, dass die Weiterführung angefangener Hormontherapien
erschwert wird und können zusätzliche psychologische Belastungen und psychische Störungen bei
geflüchteten TIN-Personen (Trans*Inter*Non-Binär), die vor der Flucht mit Hormontherapie
begonnen hatten, begünstigen. Vertreter*innen eines queeren Vereins sind der Meinung, dass die
Situation von TIN-Personen in diesem Bereich verbessert werden muss. Trans-Geflüchtete wissen
oft nicht, ob sie gleich nach ihrer Ankunft oder Aufnahme in der Unterkunft Hormontherapien in
Anspruch nehmen können. Personen im Transitionprozess geben an, dass sie eigentlich
unmittelbar nach ihrer Ankunft ihre Hormontherapie fortsetzen müssen. Das Fehlen dieser
Therapie führt nicht nur zu körperlichen Komplikationen, sondern auch zu Problemen im
Nervensystem. Trans*Personen benötigen verstärkte medizinische und psychosoziale Versorgung,
die ihren Alltag maßgeblich beeinflusst. Die Interviewpartner*innen bestätigen, dass der Zugang
11
zur gesundheitlichen, psychotherapeutischen und medizinischen Versorgung aufgrund der neuen
Reformen im Gesundheitssystem zusätzlich erschwert ist.
Bürokratische Hürden, wie die Personenstandsänderung, werden für geflüchtete Interpersonen
nach einer Gesetzesänderung verunmöglicht (vgl. Personenstandsgesetz § 45b Erklärung zur
Geschlechtsangabe und Vornamensführung bei Personen mit Varianten der
Geschlechtsentwicklung). TIN-Geflüchtete müssen durch eine ärztliche Bescheinigung oder
Begutachtung nachweisen (vgl. ebd.), dass sie TIN-Personen sind. Allerdings wird der
Begutachtungsprozess von den Interviewten als demütigend empfunden, da Ärzt*innen oft über
falsche Informationen zu TIN-Realitäten verfügen und die Klient*innen falsch behandeln. Dies
führt zu grenzüberschreitendem Verhalten und Begutachtung nach binärer Geschlechterordnung,
was zusätzliche psychologische Belastungen für die Betroffenen bedeutet.
Eine angemessene Hilfestellung erfordert, so die Interviewten, auch eine queere und TIN-sensible
Sprachmittlung sowie Psychotherapie, die ohnehin nicht sofort in Anspruch genommen werden
kann. Es mangelt an Sensibilisierung der Psychotherapeut*innen und Mediziner*innen, die
beispielsweise die Notwendigkeit einer (Weiterführung) der Hormontherapie bescheinigen
müssen (vgl. Interview mit einer Organisation, die nicht namentlich genannt wird).
3.4 Zugang zu Arbeit/Bildung
Der Zugang zur Arbeit oder (Weiter-)Bildung
verschiedenen
Faktoren
beeinflusst
stellt ein komplexes Problem dar, das von
wird. Einerseits
spielen
die
Aufenthaltsdauer,
das
Asylverfahren und der Asylstatus eine entscheidende Rolle. Andererseits beeinträchtigen u.a.
psychische Gesundheit, Wohnsituation, Sprachkenntnisse den Zugang zu Arbeit und Bildung.
Es gibt bereits positive Beispiele von interviewten geflüchteten queeren Personen, die in kurzer Zeit
Zugang zur Hochschulbildung und anschließend zum Arbeitsmarkt erlangt haben. Diese Erfolge
werden auf bestehende Netzwerke zurückgeführt, die während des Asylverfahrens aufgebaut
wurden und Unterstützung boten. Einige Interviewte berichteten von Bewerbungen bei queeren
Organisationen nach einem positiven Asylbescheid, wodurch sie Zugang zu einem (dualen)
Studium und Arbeitsmöglichkeiten erhielten. Dies verdeutlicht, dass ein schnelles und positives
Asylverfahren positive Auswirkungen auf die Teilhabechancen und Zukunftsperspektiven haben
kann (vgl. Interviews mit Ahmed und Mehmed). Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass solche
Erfolgsgeschichten Ausnahmen sind, da sie oft auf zufällige Bewerbungen bei communitybasierten Organisationen zurückzuführen sind, die speziell auf Erfahrungswissen und Expertise von
Geflüchteten abzielen.
12
Der Zugang zu Arbeit und Bildung ist für geflüchtete Personen generell oft mit bürokratischen
Hürden verbunden, die durch asylrechtliche Bestimmungen bedingt sind. Der Zugang zu
Integrationskursen des BAMF wurde Anfang des Jahres 2023 zwar geöffnet; jedoch besteht je nach
Aufenthaltsstatus nicht zwangsläufig ein Rechtsanspruch auf Teilnahme am Integrationskurs 1 .
Das Erlernen der deutschen Sprache wird jedoch als entscheidend für eine ganzheitliche Teilhabe
im Bildungs- und Arbeitsbereich betrachtet. Das Land Berlin fördert seit mehreren Jahren
kostenlose Volkshochschul-Deutschkurse für Geflüchtete, die keinen Zugang zu den BAMF Integrationskursen haben.
Einige queere Geflüchtete, die keinen eigenen Wohnraum haben und sich in laufenden
Asylverfahren befinden sowie durch unzureichende Asylleistungen leben müssen, sind gezwungen,
eine Form von Survivor-Sex2 oder Sexarbeit zu betreiben. Dies wird sowohl von Schems als auch
von der Schwulenberatung Berlin in den Interviews bestätigt. Die damit verbundenen Risiken,
insbesondere die Kriminalis ierung aufgrund fehlender Asylbescheide und Arbeitserlaubnis s e,
sowie Gewaltrisiken während der Sexarbeit, werden von Schems anhand eigener Erfahrungen
beleuchtet.
Selbst bei einem positiven Asylbescheid bleibt der Zugang zu bestimmten Arbeitsfeldern für queere
Geflüchtete aufgrund struktureller und institutioneller Hürden problematisch. Einige könnten in
qualifizierten Bereichen tätig gewesen sein, können jedoch ihre Qualifikation nicht nachweisen
oder diese wird nicht anerkannt. Während die Anerkennung von Berufsabschlüssen für alle
geflüchteten Personen ein Problemfeld ist, ein Umstand der mit Rass ismus und Klassismus in
Zusammenhang gebracht werden kann, verflicht sich dies bei LSBTIQ+ Geflüchteten noch
zusätzlich mit Heteronormativität bzw. mit Homophobie und Transphobie, was den Zugang zum
Arbeitsmarkt für diese Personengruppe weiterhin erschwert.
Die Zugangsprobleme zum Studium ähneln dieser Situation. Es existieren unterschiedlic he
Zulassungsbedingungen, die für queere Geflüchtete, bzw. geflüchtete Personen generell, nicht
sofort erfüllbar sind. Selbst wenn sie einen Studienplatz erhalten, stellen das Studium in deutscher
Sprache als Fremdsprache sowie fehlender Nachteilausgleich
bei Prüfungsleistungen eine
Herausforderung dar. Hinzu kommt, dass Hochschulen oft nicht ausreichend auf besonders
schutzbedürftige Gruppen wie LSBTIQ-Geflüchtete
eingestellt
sind, was zu besonderen
1
siehe BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Ausländer mit Aufenthaltstitel ab 2005; Merkblatt
zum Integrationskurs für Asylbewerberinnen und Asylbewerber (bamf.de)
2
Mit dem Terminus "Survivor-Sex" wird die Situation beschrieben, in der eine Person sexuelle Dienstleistungen
anbietet, um ihr Überleben zu sichern oder ihren Lebensunterhalt durch die Ausübung von Sexarbeit mehr oder
weniger eigenständig zu finanzieren. (Erläuterung des Autors)
13
Schwierigkeiten an Hochschulen und Universitäten führt, wie in einem Interview mit der
Schwulenberatung herausgestellt wurde.
Die zu überwindenden Zugangsprobleme sind zwar erheblich, haben jedoch für queere
Asylsuchende eine geringere Priorität, solange sie mit existenzielleren Fragen beschäftigt sind, z. B.
weil sie sich noch im Asylverfahren befinden, keinen sicheren Wohnraum haben, mit Disability
leben und/oder unter Verarmung durch unzureichende Asylleistungen leiden, wie in den Interviews
mit Ali, Cem, Ati und Harun verdeutlicht wurde.
4. Weitere Faktoren, die Teilhabemöglichkeiten beeinflussen
Teilhabemöglichkeiten sind auch von weiteren Faktoren wie Sicherheit, Diskriminierung sowie
vorhandenen Communities als mögliche Schutzräume oder Hilfestrukturen abhängig. Diese
Themen wurden in den Interviews fast von allen Befragten angesprochen. Daher können sie im
Rahmen der qualitativen Analyse nicht ignoriert werden.
4.1 Sicherheit
Die Untersuchung verdeutlicht, dass das Sicherheitsverständnis präziser gefasst werden muss,
indem nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die Würde der Menschen in den
Fokus rückt, die durch symbolische Gewalt beeinträchtigt wird. 3 Derartige Verletzungen können
erhebliche psychische und mentale Belastungen für die Betroffenen nach sich ziehen. Häufig
berichten queere Geflüchtete von Existenzängsten aufgrund von unsicheren
Unterbringungsstrukturen oder der drohenden Wohnungslosigkeit.
Die Sicherheitsproblematik ist stark mit erlebten Gewaltvorfällen verknüpft, die nicht nur von
Mitbewohner*innen, wie im Ankunftszentrum Tegel ausgehen (vgl. Interview mit Ati), sondern
auch vom Sicherheitspersonal anderer Unterkünfte ausgehen können (vgl. Interview mit Ali und
Cem). Trotz in Aussicht gestellter Sicherheit konnte diesen Versprechen nicht nachgekommen
werden (vgl. Interview mit Ati).
Ein Beispiel für Unsicherheit und Diskriminierung erfährt Ati bei der Anmeldung im LAFAnkunftszentrum für Asylsuchende. Hier wurde sie nachts von Mitbewohner*innen verfolgt,
fühlte sich unsicher und meldete dies den entsprechenden Stellen. Trotz dieser Erfahrung blieb sie
3
Die Theorie der symbolischen Gewalt bzw. symbolischen Macht wurde vom französischen Philosophen Pierre
Bourdieu geprägt. Mit dem Begriff der symbolischen Gewalt wird eine Art von verdeckter Machtstruktur
beschrieben, die sich nicht durch physische Gewalt manifestiert, sondern sich auf verschiedenen Ebenen des
Alltags der Betroffenen legitimiert und normalisiert, ohne dass diese die Art der Macht erkennen und sich ihr
folglich unterwerfen. Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt beschreibt genau solche Mechanismen der
Macht, die subtil und unbemerkt in sozialen Strukturen wirken und zur Unterdrückung oder Dominanz
bestimmter Gruppen führen können (vgl. Moebius, S. und Wetterer 2011).
14
eine Weile in der Einrichtung. Ati betont, dass ihre psychische und mentale Sicherheit durch die
fehlerhafte Registrierung ihrer geschlechtlichen Identität während der Anhörung bedroht wurde.
Obwohl sie sich als Transfrau bzw. Frau* identifiziert, wurde sie als Mann eingetragen und war
somit transfeindlichen Risiken ausgesetzt. Trans*Personen, wie Ati, sind besonders gefährdet, da
sie sowohl von Mitbewohner*innen als auch von Mitarbeiter*innen in den Unterkünften
diskriminiert oder missverstanden werden. Ati gibt an, dass sie in der Unterkunft nicht immer
duschen kann, wenn andere Bewohner*, die als cis-männlich gelten, noch wach sind.
Besonders schutzbedürftige Gruppen, wie queere Geflüchtete, benötigen speziellen Schutz. Es
stellt sich die Frage, wer für die Sicherheit und den Schutz dieser Personengruppe verantwortlich
ist und nach welchen Kriterien Menschen in den Unterkünften als Sicherheitspersonal oder
Sozialarbeiter*innen eingesetzt werden. Diese Kriterien könnten beinhalten:
- Ein queeres Familienverständnis,
- Rassismuskritik und Queersensibilität,
- Privilegienbewusstsein gegenüber besonders schutzbedürftigen Gruppen,
- Fähigkeit zur gewaltfreien Kommunikation.
Die Studie zeigt, dass die im Bereich der queer-spezifischen Asylpolitik Beteiligten diese
Kriterien regelmäßig nicht angemessen erfüllen. Ein schwules Paar, Ali und Cem, berichtet von
Gewalterfahrungen durch Sicherheitskräfte und davon, dass sie weder als Paar noch als Familie
von den Sozialarbeiter*innen wahrgenommen oder anerkannt wurden, was dazu führte, dass sie
gewaltsam aus dem für besonders schutzbedürftige Familien vorgesehenen Bereich der
Unterkunft entfernt wurden. Ali und Cem geben an, dass sie das einzige schwule Paar im für
Familien vorgesehenen separaten Bereich waren und dass ihre Beschwerden über
Gewalterfahrungen zu ihrem schnellen erzwungenen Auszug führten.
Ali: Denn wir waren das einzige schwule Paar, das in der Familienabteilung wartete.
Cem: Er sagte uns, wir sollen gehen, er warnte uns beim ersten Mal sehr streng. […]
Cem: […] Plötzlich haben sie sich entschieden, uns fortzuschicken. Der*die
Sozialarbeiter*in kam zu uns, […] und drückte uns zwei Blätter in die Hand, auf denen
unsere Namen standen, und sagte uns, wir sollten innerhalb von 15 Minuten gehen, […]
Cem: Wir gingen unter Begleitung des Sicherheitspersonals zu unserem Zimmer. Der
Sicherheitsmensch öffnete die Tür, sagte, sammelt eure Sachen ein, schließt die Tür ab,
geh weg, und bevor eine Stunde vergangen war, kamen sie zurück und sagten, dass wir
gehen sollten […] diese Sicherheitsleute öffneten die Tür nach ihrer eigenen Willkür,
schrien und
15
Ali: und in diesem Moment [haben wir] sie gebeten, okay, gebt uns noch fünf Minuten für
die Koffer […] Sie haben uns nicht zugehört. Sie sind einfach hereingegangen.
Gewaltsam, also sie haben uns so gepackt, dass wir uns nicht wehren konnten. Ich sagte
mir selbst, dass das eine schreckliche Erfahrung ist, ich will einen Beweis haben. Ich habe
ein Video gemacht. Als sie merkten, dass ich aufnehme, schlugen mir auf die Hand, damit
ich das Video ausschalte. (Interview mit Ali und Cem)
Die Unsicherheit ist ebenso mit der Existenzsicherheit verbunden, die angemessene Ernährung,
gesundheitliche Versorgung und mentale Gesundheit einschließt. Da die Leistungen des
Asylbewerberleistungsgesetzes oft nicht ausreichend sind, fühlen sich einige Befragte existenziell
bedroht. Dies kann dazu führen, dass queere Geflüchtete auf so genannte "Survivor-Sex" oder
Sexarbeit zurückgreifen müssen, um bessere Ernährung und Annehmlichkeiten finanzieren zu
können. Schems verfolgt diese Überlebensstrategie trotz der Risiken der Illegalisierung und
Kriminalisierung, was negative Auswirkungen auf sein seit 20 Monaten andauerndes
Asylverfahren haben könnte.
4.2 Diskriminierung und Antidiskriminierung
Das Leben von queeren Personen im Allgemeinen, insbesondere von geflüchteten queeren
Menschen, ist von Diskriminierungen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens geprägt. Die
Mehrheit der interviewten Personen berichtete, dass sie in der Anhörung und während des
Asylverfahrens durch Behördenmitarbeitende, Sozialarbeiter*innen und Sicherheitskräfte
diskriminiert wurden. Einige erzählten beispielsweise, dass ihr Geschlecht durch die
Behördenmitarbeitenden konsequent falsch registriert wurde, was wiederum Konsequenzen in den
nächsten Schritten des Asylverfahrens nach sich zieht (vgl. Interviews mit Ati, Harun*, Ali und
Cem). Eine weitere interviewte Person berichtete, dass das Interview im Asylverfahren fast fünf
Stunden dauerte, in denen sie den Anhörer*, der sonst freundlich wirkte, von ihrer Queerness
überzeugen musste. Ein schwules Paar kämpft noch immer um die Anerkennung ihrer
Partnerschaft, andernfalls würden sie an verschiedenen Orten verteilt (vgl. Interview mit Ali und
Cem). Queere Geflüchtete aus sogenannten sicheren Herkunftsländern sind regelrecht von
Abschiebung bedroht (vgl. Interview mit TBB). Der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung,
vor allem für TIN-Personen, ist äußerst problematisch. Ein weiteres Problem existiert beim
Zugang zur Arbeit aufgrund der fehlenden Arbeitserlaubnis oder der Nicht-Nachweisbarkeit der
vorhandenen Qualifikationen oder mangelnden Sprachkenntnisse.
Wenn Studieninteressierte die zahlreichen und anspruchsvollen Zulassungsbedingungen erfüllen
können, können sie einen Studienplatz wahrnehmen, wobei die meisten Hochschulen noch nicht
auf die komplexen Lebensrealitäten von queeren geflüchteten Studierenden eingestellt sind
16
(Interview mit Schwulenberatung). Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass viele
Diskriminierungen gegenüber queeren Geflüchteten auf der institutionellen Ebene stattfinden.
Die Studie hat gezeigt, dass Diskriminierungen in allen bisher untersuchten Bereichen sehr
präsent sind. Man kann bereits erkennen, dass diese Bereiche – Wohnraum, Gesundheit, Bildung
und Arbeit – durch das Asylsystem miteinander verwoben sind. Zudem erfahren die Interviewten
Diskriminierungen innerhalb der queeren Communities sowie inner- und außerhalb der
Unterkünfte. Auch die Diskriminierung durch die eigene ethnische Community kommt vor,
weshalb sie sich oft in einer Situation der Schutzlosigkeit und Angstzustände befinden.
Beispiele für die Diskriminierung4 in der queeren Community können die Fetischisierung oder
sexualisierte Gewalt gegenüber geflüchteten queeren Männern sein (vgl. Interview mit Schems).
Ati erfährt transphobe Gewalt durch Mitbewohner*innen in einem Ankunftszentrum. Da das
Sicherheitspersonal verspätet zu Hilfe kam, unterlag Ati Retraumatisierungen. Durch
Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in Deutschland wird die betroffene Person in die alten
Zeiten zurückversetzt und ihre Traumata werden reaktiviert (Interview mit Ati). Vor allem TINPersonen haben ein großes Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor Gewalt und Diskriminierung
jeglicher Art (vgl. Ati und Harun*).
4.3 Communitystrukturen
Der Begriff "Community" erscheint einigen Befragten als unklar oder irreführend, da sie sich
gleichzeitig als Teil der (allgemeinen) Geflüchteten zählen, aber auch als Mitglieder der
LSBTIQ+-Communities. Die Verbindung von Flucht und Queersein wird von vielen als wichtig
und essentiell betrachtet, wobei der Kontakt zu verschiedenen Communities unterschiedlich erlebt
wird. Einige interviewte Personen berichten, dass sie sich sicherer fühlen, wenn sie auf Menschen
treffen, die ähnliche (Flucht oder Migrations-)Erfahrungen gemacht haben oder noch machen. Mit
ihnen können sie sich über verschiedene Angelegenheiten im Zusammenhang mit ihrem
Asylprozess austauschen. Es wird oft betont, dass das Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit in
der "eigenen" (geflüchteten) Community stärker ausgeprägt ist, auch wenn der Begriff der
Community für manche Interviewten unklar ist. Daher empfehlen einige, Menschen an Orte zu
bringen, an denen sie ähnliche Erfahrungen teilen können, sich austauschen und gelegentlich
entspannen können. Es gibt bereits Projekte für geflüchtete queere Personen, die solche sicheren
Räume anbieten und den Zugang zu Unterstützungsgruppen ermöglichen. Interviewte
4
Aufgrund des begrenzten Rahmens dieses Berichtes werden einige Beispiele für Diskriminierungserfahrungen
ab dieser Stelle nur skizzenhaft dargestellt.
17
Expert*innen unterstreichen die Relevanz dieser Projekte, die dauerhaft gefördert werden sollten,
da sie auch die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen.
Da Behörden in festen, vorgeschriebenen Strukturen agieren sind und dort die Sensibilisierung für
komplexe Lebensrealitäten nicht verankert ist, handeln ihre Beschäftigten zum großen Teil nach
binärer Geschlechterordnung. Weil auch die zuständigen Institutionen von Machstrukturen wie
Heteronormativität und Rassismus durchdrungen sind, fühlen sich queere Geflüchtete nicht
aufgehoben und suchen Unterstützung durch community-basierte Organisationen. Diese
Organisationen erreichen sie durch eigene Recherchen oder Netzwerke nach einem besonderen
Anlass, wie z.B. aufgrund einer Gewalterfahrung, Bedarf nach medizinischer Versorgung oder
auch drohender Abschiebung.
Community-basierte Organisationen und Projekte sind in vielerlei Hinsicht wichtige Anlaufstellen
für queere Geflüchtete, um Zugänge zu ihren Communities zu finden oder zu schaffen, wo auch
Themen wie Coming-out, Selbstakzeptanz oder Diskriminierungen besprochen werden. Auch
Themen wie Familie, Religion und sexuelle Identität können in geschützten Räumen der
Communities diskutiert werden. Solche Schutzräume sind vor allem für queere Personen mit
Fluchterfahrung essentiell, wo sie sich sicher, verstanden oder nicht in Frage gestellt fühlen. Weil
community-basierte Organisationen oder Projekte meist einen parteilichen Ansatz verfolgen und
sich an der Seite der Hilfesuchenden positionieren, tragen sie auch in einem vertraulichen Klima
zum Empowerment der queeren Geflüchteten bei.
Community-basierte Organisationen und Projekte ermöglichen durch Verweisberatung auch
Zugänge zu geeigneten Beratungsstellen, die die Hilfesuchenden u.a. zu rechtlichen,
medizinischen oder antidiskriminierungsspezifischen Fragen beraten und unterstützen. Auch die
Peer-to-Peer-Beratung ist ein wesentlicher Beitrag der community-basierten Organisationen zum
Empowerment und gewisser Teilhabe der queeren Geflüchteten.
Beispielsweise erlebt Ati die Unterstützung der community-basierten Organisationen, wie TBB
positiv. Im Gegensatz zu der Erfahrung mit dem LAF fühlte sie sich durch Migrant*innen- und
Transorganisationen angemessen unterstützt (vgl. Ati). Sowohl die Support-Groups des TBB als
auch die Unterstützung von einer queeren Organisation bei der Möglichkeit der Hormontherapie
empfindet sie als eine große Hilfe, die sie nicht durch die staatlichen Strukturen genießen konnte.
Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Communities, die durch die Interviewten als solche
betrachtet werden, betroffenen Personen sowohl ein physisches als auch ein mentales
Sicherheitsgefühl vermitteln, das in der Anfangsphase des Asylverfahrens dringend notwendig ist,
um sich im Ankunftsland und in der Mehrheitsgesellschaft angemessen orientieren zu können. Da
fast alle (Handlungs-)Bereiche monolingual und noch nicht ganz queersensibel sind, übernehmen
18
die community-basierten Organisationen die Verantwortung, unterschiedliche Bedarfe der
queeren Menschen und queeren Geflüchteten zu bedienen. Community-basierte Organisationen
sind zusätzlich bemüht, diesen Bedarfen der Klient*innen nachzugehen, um die Teilhabechancen
zu verbessern und einen gewissen Nachteilausgleich zu ermöglichen. In Berlin existieren diverse
community-basierte Organisationen, die miteinander vernetzt sind und gemeinsam gegen
verschiedenste Formen von Diskriminierung vorgehen, darunter rassistische, queer- und
transfeindliche Diskriminierungen. Durch dieses Netzwerk der Communities können
communityspezifische Angebote, Beratungen und Anlaufstellen relativ leicht gefunden werden.
5. Fazit und Handlungsempfehlungen (Ausblick)
Die vorliegende Studie, durchgeführt in Zusammenarbeit mit Expert*innen und queeren
Geflüchteten, verdeutlicht, dass die Teilhabechancen der untersuchten Zielgruppe in sämtlichen
gesellschaftlichen Bereichen erheblich eingeschränkt sind. Es zeigt sich ein dringender
Handlungsbedarf in allen Lebensbereichen, die in der Studie angesprochen werden. Die Gründe
für diese Ungleichheiten in den Teilhabechancen sind vielfältig, doch primär institutionalisiert
und strukturell begründet.
Im Folgenden werden zunächst allgemeine und daraufhin spezifische Handlungsempfehlungen
aus der Perspektive der Interviewten formuliert. Die Realisierbarkeit dieser Empfehlungen kann
aufgrund der begrenzten Rahmenbedingungen dieses Forschungsberichts jedoch nicht vertieft
erörtert werden.
Für sämtliche Handlungsfelder wird die Diversifizierung des Personals in Einrichtungen,
Institutionen, Behörden und auch communitybasierten queeren Organisationen als wesentliche
Voraussetzung für die Erhöhung der Teilhabechancen betont.
Eine zentrale Problematik besteht darin, dass neu ankommende queere Geflüchtete sowie
Asylsuchende unzureichend über ihre Rechte und Möglichkeiten im Asylprozess informiert
werden. Die Mehrheit von ihnen kennt ihre Rechte nicht, da keine staatlichen Stellen existieren,
die sie unmittelbar über ihre Rechte als besonders schutzbedürftige Gruppe informieren. Daher
wird empfohlen, verschiedene Zugänge zu Informationen über allgemeine Rechte, Möglichkeiten,
Beratungs- und Hilfsangebote etc. mehrsprachig sowohl online als auch in ausgedruckter Form
bereitzustellen. In diesem Kontext ist es erforderlich, die in Berlin gesprochenen Sprachen
systematisch zu erfassen.
Zusätzlich zu mehrsprachigen Informationsmaterialien (Flyer, Broschüren, etc.) könnten auch
mehrsprachige LSBTIQ+ und fluchtbezogene Beratungen angeboten werden. Dabei sollten
Mehrsprachigkeit und Interdisziplinarität als Qualitätsmaßnahmen für insbesondere
19
communitybasierte Organisationen gefördert werden. Positive Maßnahmen im Sinne von
affirmative action könnten in der Personalpolitik von Ämtern, Institutionen, Organisationen und
Projekten verstärkt implementiert werden.
Die queeren Geflüchteten beklagen mehrheitlich das überbürokratisierte Asylverfahren, in dem
häufig Othering, Pathologisierung, Psychiatrisierung und andere Diskriminierungspraktiken
vorkommen. Der Status als besonders schutzbedürftige Gruppe wird nicht ausreichend
berücksichtigt, was zu Unklarheit, Perspektivlosigkeit, Desorientierung und Retraumatisierung bei
queeren Geflüchteten führt. Daher spricht sich die Mehrzahl der Interviewten für eine
Ausnahmeregelung für queere Geflüchtete aus, um den Asylprozess zu vereinfachen, ähnlich den
Geflüchteten aus der Ukraine, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine 2022 einen zügigen und
vereinfachten Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis, zu Arbeit, Bildung und Gesundheit haben.
5.1. Handlungsempfehlungen für sichere Unterbringung
Die Interviewten* sind sich einig, dass es von höchster Relevanz ist, von Anfang an sichere
Räume zu etablieren, insbesondere sichere Unterkünfte für queere Geflüchtete, da diese Gruppe
besonders vulnerabel ist und kontinuierlich einem erhöhten Risiko von Gewalt, Diskriminierung
und Schutzlosigkeit ausgesetzt ist. Eine Möglichkeit besteht darin, spezielle Ankunftszentren oder
Erstaufnahmeeinrichtungen für LSBTIQ+Personen einzurichten oder bereits existierende
Unterkünfte besser auf die Bedürfnisse queerer Geflüchteter auszurichten. Dies erweist sich
insbesondere für Trans*Personen als von existenzieller Relevanz.
Um dieses Ziel zu erreichen, sollten Mitarbeiter*innen, einschließlich Sicherheitspersonal,
Hausmeister*innen, Sozialarbeiter*innen und Sprachmittler*innen der zuständigen oder
involvierten Ämter sowie der Unterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen regelmäßig intensiven
Sensibilisierungstrainings unterzogen werden.
Die interviewten queeren Geflüchteten, die zum Zeitpunkt der Interviews in Unterkünften leben,
berichten häufig von Situationen, in denen ihnen weder Rückzugsmöglichkeiten noch eigene
Erholungsräume oder Privatsphäre zur Verfügung stehen. Auch das Zusammenleben mit
unterschiedlichen Personen, seien es queere oder nicht-queere, gestaltet sich oft als äußerst
schwierig, da es aufgrund der Enge und unzumutbaren Bedingungen in den Unterkünften
regelmäßig zu Konflikten zwischen den Geflüchteten kommt. Um die Sicherheitsrisiken für
besonders schutzbedürftige Gruppen zu minimieren, sollten die Unterbringungskonzepte stärker
auf die Bedürfnisse dieser Gruppen ausgerichtet sein.
Da in den Unterkünften verschiedene Formen von Gewalt und Diskriminierung vorkommen, ist es
ratsam, die Sozialarbeiter*innen dazu zu ermutigen, sich intensiv mit Themen wie
20
Fluchtbezogene Soziale Arbeit, Rassismus, Heteronormativität sowie Diversitäts - und
Privilegienbewusstsein auseinanderzusetzen. In dieser Hinsicht könnten mit community-basierten
Organisationen Kooperationen für Fortbildungen oder Schulungen initiiert werden.
5.2. Handlungsempfehlungen für sicheren Wohnraum
Der Berliner Wohnungsmarkt ist seit mehreren Jahren als nicht belastbar einzustufen. In einer Ära
verstärkter Gentrifizierung sowie Ausschlussmechanismen erweisen sich die Chancen für queere
Geflüchtete im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen als erheblich geringer, adäquaten
Wohnraum zu finden. Auch jene Geflüchteten, die einen positiven Asylbescheid erhalten haben,
stehen in dieser Thematik verschiedenen strukturellen Barrieren gegenüber. Diese Barrieren sind
mit Segregationspraktiken verknüpft, die wiederum Rassismus, Heteronormativität und
Klassismus einschließen.
Zudem sehen sich die Betroffenen mit weiteren strukturellen Problemen konfrontiert, dar unter
mangelnde Vertrautheit mit dem Wohnungsmarkt, noch unzureichende Kenntnisse der deutschen
Sprache sowie Schwierigkeiten bei der eigenständigen Bewältigung bürokratischer
Angelegenheiten. Angesichts dieser Herausforderungen sprechen einige befragte queere
Geflüchtete die Empfehlung aus, ein Mentor*innenprogramm zu etablieren, in dem
wohnungssuchende queere Geflüchtete durch erfahrene Mentor*innen unterstützt werden.
Sollten queere Geflüchtete trotz positivem Asylbescheid weiterhin keinen angemessenen
Wohnraum finden, könnte als Übergangslösung die Schaffung spezieller Wohnhäuser in Berlin
ausgebaut bzw. auf besonders schutzbedürftige Gruppen ausgerichtet werden. Diese Wohnhäuser
könnten kleine Apartments mit eigenem WC/Dusche und Küchenzeile beinhalten. Eine weitere
Handlungsempfehlung besteht darin, Kooperationen oder Verträge mit Wohnungsgesellschaften
LSBTIQ+ sensibel auszubauen. Diese Kooperationen können sicherstellen, dass aus dem Bestand
der Wohnungsgesellschaften Wohnräume für diese besonders schutzbedürftige Gruppe zur
Verfügung gestellt werden.
5.3. Handlungsempfehlungen für Bildung und Arbeit
Die interviewten queeren Geflüchteten betonen die fundamentale Bedeutung des Erwerbs der
deutschen Sprache in sämtlichen Phasen ihres Asylverfahrens. Sie äußern den Wunsch, Sprachund Integrationskurse zu besuchen, was jedoch je nach Aufenthaltsstatus erschwert ist.
Die Bildungsziele variieren entsprechend der Altersgruppe der Geflüchteten. Jüngere Geflüchtete
streben häufig ein Studium an, wobei die Aufnahmebedingungen und finanziellen
Voraussetzungen als herausfordernd betrachtet werden. Es existieren auch Personen, die bereits in
ihrem Herkunftsland ein Studium begonnen hatten, dieses jedoch aufgrund ihrer Flucht abbrechen
21
mussten und nun in Deutschland die Absicht hegen, ihre akademische Laufbahn fortzusetzen. Für
beide Gruppen bedarf es struktureller Maßnahmen, um einen Zugang zum Hochschulstudium zu
ermöglichen.
Bereits existierende Modellprojekte, welche durch die Zusammenarbeit von queeren
Organisationen, Wohlfahrtsverbänden oder Stiftungen ins Leben gerufen wurden, ermöglichen
Geflüchteten den (Wieder-)Einstieg ins Studium. Derartige Projekte könnten ebenfalls durch
staatliche Fördermittel in Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen,
Wohlfahrtsverbänden und Hochschulen etabliert werden. Stipendien könnten den
Studieninteressierten beispielsweise den Zugang zu studienvorbereitenden Sprachkursen und im
Anschluss ein Hochschulstudium mit der Perspektive auf eine anschließende Berufstätigkeit
ermöglichen.
In Anbetracht des unsicheren Aufenthaltsstatus der Mehrheit der befragten queeren Geflüchteten
sind ihre beruflichen Perspektiven begrenzt. Auch hier stehen die Sicherung von angemessenem
Wohnraum, Zugang zu Unterkünften sowie die Erlangung der deutschen Sprache im Fokus ihrer
Prioritäten. Aufgrund dieser Unsicherheiten bezüglich des Aufenthaltsstatus kann in dieser Studie
keine umfassende Handlungsempfehlung für den Zugang zum Arbeitsmarkt formuliert werden.
5.4. Handlungsempfehlungen für den Zugang zur Gesundheitsversorgung
Die interviewten Personen äußern ihre Besorgnis über die erschwerten Zugänge zur
medizinischen und psychiatrischen Versorgung für schutzsuchende queere Geflüchtete im
Gesundheitssystem. Interviewte Expert*innen betonen, dass der Zugang zu queersensibler und
diversitätsbewusster Psychotherapie für queere Menschen mit Fluchterfahrung nahezu unmöglich
ist. Einige Organisationen, wie die Schwulenberatung Berlin, setzen sich aktiv dafür ein,
Therapiemöglichkeiten für diese Zielgruppe zugänglich zu machen, wobei dies nur durch
strukturelle Fördermittel weiter ermöglicht werden kann.
Neben den bestehenden Zugangsbarrieren werden auch Probleme mit dem Gesundheitspersonal,
insbesondere in psychiatrischen Kliniken, identifiziert. Einige Mitglieder des Personals sind
ausschließlich monolingual geschult und verfügen entweder über unzureichende Kenntnisse über
komplexe Lebensrealitäten von queeren Menschen mit Fluchterfahrung oder behandeln und
begutachten die "Patient*innen" nach einer binären Geschlechterordnung und einem westlich
geprägten, privilegienunbewussten Konzept. Expert*innen empfehlen daher
Sensibilisierungstrainings für das Gesundheitspersonal, insbesondere im Umgang mit queeren
Geflüchteten, die Erfahrungen im Bereich Psychiatrie und Trauma gemacht haben.
22
Wie im Bericht deutlich wird, sind geflüchtete TIN-Personen von diesem monolingualen,
heteronormativ geprägten und westlichen Gesundheitssystem mehrfach betroffen. In den
Interviews plädieren geflüchtete TIN-Personen sowie Expert*innen für die sofortige Fortsetzung
einer begonnenen Hormontherapie, unabhängig von Aufenthaltsdauer und -status. Viele
geflüchtete Transpersonen befinden sich z.B. im Transitionsprozess während ihres Asylverfahrens
und sind auf die kontinuierliche Hormontherapie angewiesen.
Ein weiteres Problem im Gesundheitsbereich besteht in queer-insensiblen Sprachmittlungen bzw.
Sprachmittler*innen, die ebenfalls nicht mit den Lebensrealitäten queerer Geflüchteter vertraut
sind und sich einer heteronormativen und queerfeindlichen, wahrscheinlich auch
pathologisierenden Terminologie bedienen. Expert*innen und befragte queere Geflüchtete
befürworten daher Fortbildungsangebote, Schulungen und Trainings für die Sprachmittler *innen,
die in fluchtbezogenen Bereichen eingesetzt werden. Diese Schulungen und Trainings könnten in
Kooperation mit communitybasierten Organisationen durchgeführt werden.
Weitere Handlungsempfehlungen
Im folgenden Abschnitt werden zusätzliche Handlungsempfehlungen von interviewten
Expert*innen und queeren Geflüchteten ohne detaillierte Analyse präsentiert. Diese
Empfehlungen konzentrieren sich insbesondere auf die Themen Sicherheit, Gewalt- und
Diskriminierungserfahrungen sowie Communitystrukturen.
1. Ankunftszentren für besonders Schutzbedürftige: Aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit
von queeren Menschen mit Fluchterfahrung, wie in den EU-Aufnahmerichtlinien vorgesehen,
wird vorgeschlagen, dass Personen, die sexuelle Orientierung oder Identität als Asylgrund
angeben, nicht direkt in den Zuständigkeitsbereich der allgemeinen Ankunftszentren fallen
sollten. Es wird empfohlen, spezielle Ankunftszentren für besonders schutzbedürftige Gruppen,
wie geflüchtete LSBTIQ+, einzurichten.
2. Gewalt- und Diskriminierungsschutz in Unterkünften: Queere Geflüchtete sind nicht nur in
Ankunftszentren, sondern auch in anderen Unterkünften einem erhöhten Risiko von Gewalt und
Diskriminierung ausgesetzt. Insbesondere das Sicherheitspersonal, das für die Sicherheit aller
Bewohner*innen verantwortlich ist, sollte diversitätsbewusst, rassismuskritisch und
queerfreundlich agieren. Regelmäßige Sensibilisierungstrainings für Sicherheitsdienste werden
empfohlen.
3. Gewalt- und Diskriminierungsschutzkonzept: Rassistische und queerfeindliche Ereignisse unter
den Bewohner*innen erfordern die Entwicklung und Umsetzung eines verbindlichen Gew alt- und
Diskriminierungsschutzkonzepts für alle Beteiligten oder Angehörigen von Unterkünften.
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Fachliche Kooperationen mit communitybasierten Organisationen können zur Entwicklung
solcher Schutzkonzepte beitragen.
4. Rechtssicherer Schutz vor Diskriminierung: Queere Geflüchtete sind in allen Lebensbereichen
Diskriminierung ausgesetzt. Es bedarf eines rechtssicheren Schutzes vor Diskriminierung
aufgrund der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, da bestehende Gesetze nicht
ausreichend vor Diskriminierung schützen bzw. ist der Zugang zu bestehendem Recht für
LSBTIQ+ Geflüchtete aufgrund verschiedener auf sie zu treffender
Diskriminierungsdimensionen, von denen z. B. Flucht bzw. Aufenthaltsstatus im AGG und
LADG nicht explizit erfasst sind, erschwert, und bestehende Hürden wie Informationsbeschaffung
und Sprachbarrieren kommen hinzu.
5. Verbesserung der Gesetze für TIN-Personen: Bestehende Gesetze, die TIN-Personen betreffen,
sollten verbessert werden, da sie nicht nur pathologisierend wirken, sondern auch zu
Misgendering führen können. Expert*innen plädieren für eine Überarbeitung dieser Gesetze.
6. Anerkennung queerer Paare im Asylverfahren: Mitarbeiter*innen des BAMF und des LAF
sollten über umfassendes Wissen bezüglich der Situation geflüchteter queerer Paare in den
Herkunftsländern verfügen. Informationsblätter könnten dazu beitragen, die involvierten
Behördenmitarbeitenden zu sensibilisieren und im besten Fall queere Paare auch ohne Papiere, die
ihre Beziehung formalisieren, als solche anzuerkennen.
7. Beschwerdestellen und Peer-to-Peer-Beratung: Unabhängige queersensible und
rassismuskritische Beschwerdestellen können im Kontext von Diskriminierung und Gewalt
eingerichtet werden. Peer-to-Peer-Beratungsangebote werden empfohlen, um queeren
Geflüchteten in vertrauten bzw. sicheren Räumen Unterstützung zu bieten.
8. Förderung von Communitystrukturen: Communitystrukturen, einschließlich Organisationen,
spielen eine essenzielle Rolle für queere Geflüchtete. Netzwerke zwischen communitybasierten
Organisationen sollten verstärkt werden, um die Förderung dieser Strukturen zu ermöglichen.
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Literatur
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Ausländer mit Aufenthaltstitel ab 2005;
Merkblatt zum Integrationskurs für Asylbewerberinnen und Asylbewerber. URL:
https://www.bamf.de/DE/Themen/Integration/ZugewanderteTeilnehmende/Integrationskurse/Teil
nahmeKosten/Titelab2005/titelab2005-node.html (Letzter Zugriff am 21.04.2024).
EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) (o. D.): Wörterbuch der selbstbestimmten
Teilhabe. URL: https://www.teilhabeberatung.de/woerterbuch/partizipation (Letzer Zugriff am
30.11.2023).
Moebius, S., Wetterer, A. Symbolische Gewalt. Österreich Z Soziol 36, 1–10 (2011).
https://doi.org/10.1007/s11614-011-0006-2
Rudolf, Beate: Teilhabe als Menschenrecht - eine grundlegende Betrachtung, in: Diehl, Elke
(Hrsg.): Teilhabe für alle?! Lebensrealitäten zwischen Diskriminierung und Partizipation. Bonn:
Bundeszentrale für politische Bildung 2017, S. 13-37.
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