Zum Inhalt springen
Fotostrecke

"Nachts im Paradies": Tag wie Nacht derselbe Horror

Comic übers Oktoberfest Wiesn zum Würgen

In seinem Comicband "Nachts im Paradies" verdichtet Frank Schmolke die grauenhaften Erlebnisse eines Taxifahrers rund ums Oktoberfest. Ein eindrucksvoller Bavaria noir - der aber selbst seine Schattenseiten hat.
Von Jan-Paul Koopmann

Es gibt eine Passage in diesem Comic, da wäre man kaum überrascht, sich nach dem Umblättern selbst auf dem nächsten Bild zu entdecken. Im Zeitraffer geht's durch die Nachtschicht eines Taxifahrers: Zwölf seitenbreite Panels porträtieren die wechselnden Fahrgäste. Da wären die Schnapsleiche auf der Rückbank und der überdrehte Quasselkopf auf dem Beifahrersitz. Ein nachdenklicher Stiller, der etwas verkrampft aus dem Fenster starrt. Und so ein Übergriffiger, der sich mit den Händen an der Kopfstütze nach vorne zum Fahrer wuchtet, um ihm irgendeinen Vortrag zu halten.

Mit diesen wenigen stillen Seiten - ohne eine einzige Sprechblase - beweist Zeichner Frank Schmolke eine wirklich außergewöhnliche Beobachtungsgabe. Und man nimmt seine Erzählung auf einmal deutlich ernster, obwohl sie genau an dieser Stelle zur Räuberpistole wird.

Schmolke weiß, wovon er spricht. Der Comiczeichner und Illustrator hat selbst viele Hundert Stunden Taxen durch München gefahren und dabei diese Geschichten gesammelt, die sein soeben bei Edition Moderne erschienener Band "Nachts im Paradies" auf drei Oktoberfest-Nächte verdichtet erzählt. Naja, oder die sie mindestens inspiriert haben.

Fotostrecke

"Nachts im Paradies": Tag wie Nacht derselbe Horror

So ganz wahr ist die Geschichte von Taxifahrer Vincent (und eben nicht Frank) dann vermutlich doch nicht: Dafür ist sie erstens viel zu spannend, und zweitens spielt sie auch sehr lustvoll mit den vertrauten Bildern des Film noir. Ein bisschen von Jim Jarmuschs "Night on Earth" mag man auch wiedererkennen. Und in einem besonders schönen Moment lehnt sich Vincent so weit in den Schatten zurück, dass jenseits seiner Geheimratsecken Robert De Niros legendärer Irokesenschnitt aus "Taxi Driver" aufzuschimmern scheint.

"Nachts im Paradies" ist ein dickes Buch mit wenig Farbe. Schwarz getuscht entwirft Schmolke eine finstere Gegenwelt zum Oktoberfest-Spektakel, in der sich die Schatten unheilsschwanger zu undurchdringlichen Wänden verdichten. In traumhaften Sequenzen werden ums Taxi streitende Trinkerhorden wortwörtlich zu Zombies. Manchmal ist das witzig, ja, dabei aber von einer melancholischen Schwere, die einen auch über die gut 350 Buchseiten hinaus so schnell nicht wieder loslässt.

Ein quälender Lohnarbeitsalptraum

Schmolkes Bavaria noir ist keine schöne Welt, auch bei Tag nicht, wo der Zeichner an Tusche spart und sich auf die Konturen dieser fahlweißen Tristesse beschränkt. An Romantik ist hier jedenfalls nicht viel zu holen, auch wenn es irgendwie die ganze Zeit darum geht. Das Schickeria-Schaulaufen im Trachtenzauber ist spätestens im Taxi nach Hause vorbei, wo die Menschen ihre vulgäre Hässlichkeit ungehemmt rauslassen.

Aber auch für den Fahrer selbst entpuppt sich die frische Luft der freien Straße bald als quälender Lohnarbeitsalbtraum. Es ist ein wirklich deprimierendes Bild, wie Vincent da zum Einkauf an den Nachtschalter der Tankstelle stapft: "Eine Packung Küchenrollen, einen Schwamm, ein Küchentuch, ein Cockpitspray, Spülmittel, die Dreierwäsche - und einen Wunderbaum mit Tannenduft." 86 Euro legt er dafür in die Durchreiche, bevor Vincent würgend Kotze aus dem Auto schrubbt. Und das mit langsam zuschwellendem Auge, weil er vom letzten Fahrgast auf die Fresse bekommen hat.

Anzeige
Schmolke, Frank

Nachts im Paradies

Verlag: Edition Moderne
Seitenzahl: 350
Für 29,80 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

20.04.2024 17.05 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Wirklich beklemmend an dem Comic ist jedoch erst die brutale Frauenverachtung dieser versoffenen Nachtwelt. Eine Frau torkelt mit verrutschtem Ausschnitt aus dem Taxi und wird umgehend von zwei Männern in die Zange genommen. Vincents Tochter Anna, die parallel zu ihrem Vater auf eigenen Wegen durch die Nacht streift, bekommt im Club K.-o.-Tropfen verabreicht. Später wird sie von einer Gruppe junger Männer mit "Ficki Ficki"-Rufen durch ein Parkhaus gehetzt.

Hart, aber gutherzig?

Schmolkes Darstellung ist eine Zumutung im doppelten Sinne. Einerseits, weil sie den Volksfesthorror erheblich drastischer sichtbar macht, als es die Jahr für Jahr von der Polizei erhobenen Zahlen von Sexualstraftaten auf dem Oktoberfest tun. Skeptisch macht das aber auch, weil die allgegenwärtige sexualisierte Gewalt gerade im zweiten Teil der Geschichte Spannung und Atmosphäre stiften soll.

"Taxler" Vincent lässt sich von einem Zuhälter als Chauffeur und Teilzeit-Bodyguard für eine Sexarbeiterin anwerben und mimt an der Bordellbar den Geheimagenten. Im Gangstergenre angekommen, wird die Gewalt auch in den Zeichnungen explizit: Zuhälter würgen knapp bekleidete Frauen, reißen an Haaren und kommandieren sie herum. Und mittendrin: Vincent als hart-, aber doch gutherziger Retter in der Not.

Dass Vergewaltigung als Handlungsmotor selbst frauenverachtend ist, wird dank feministischer Interventionen seit Jahren breit diskutiert. "Nachts im Paradies" ist nun sicher kein besonders schlimmer Ausdruck der "rape culture" (der Normalisierung sexueller Gewalt als irgendwie normales Hintergrundrauschen) - nicht zuletzt, weil sich in lichten Momenten der Geschichte einige Frauen auch selbst handgreiflich zur Wehr setzen.

Aber so ambivalent die Geschichte mitunter sein mag, und so verdienstvoll es ist, die Allgegenwart misogyner Gewalt aufs Pulp-Tableau zu bringen: Klar ist auch, dass Genre-Literatur in Sachen Gesellschaftskritik an ihre Grenzen stößt, so lange sie weiter heroische Männerbilder reproduziert.