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Morgenthau 2.0 - Deutschland muss Agrarland werden

Der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau, der 1944 einen 14-Punkte-Plan für die deindustrialisierte Zukunft Deutschlands aufstellte Der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau, der 1944 einen 14-Punkte-Plan für die deindustrialisierte Zukunft Deutschlands aufstellte
Der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau, der 1944 einen 14-Punkte-Plan für die deindustrialisierte Zukunft Deutschlands aufstellte
Quelle: picture-alliance / dpa/UPI
Deutschland verfügt über den wichtigsten Rohstoff des 21. Jahrhunderts: Wasser. Das ist die ideale Voraussetzung für eine ganz neue Vision.

Arun Gairola stammt aus einem kleinen Bergdorf im Norden Delhis, heute ist er Professor an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt. Der Kosmopolit fröstelt im kalten Deutschland. Beim Fototermin freut er sich darüber, dass es im Gewächshaus von Christian Geyer so schön warm ist. Der Landwirt ist Inhaber des landwirtschaftlichen Betriebes „Schweizerhof“ im Schweinfurter Stadtteil Sennfeld. Auf dem fruchtbaren Land unten am Schweinfurter Mainufer reiht sich ein Gewächshaus an das andere.

Der Professor der Betriebswirtschaft, Unternehmensführung sowie des International Management und der Bauer mit dem Spezialgebiet Gemüseanbau verstehen sich auf Anhieb. „Die Deutschen behaupten immer, sie besäßen keine Bodenschätze“, sagt Gairola, „aber das ist ein riesiger Irrtum.“ Und dann fügt er nach einer Kunstpause hinzu: „Deutschland hat Wasser im Überfluss, also einen der entscheidendsten Rohstoffe des 21. Jahrhunderts.“

Bauer Christian Geyer sitzt insofern nicht weit von einer Goldmine. Die Gemüseproduzenten der Region beziehen ihr Wasser für die Felder aus dem sogenannten Sennfelder Seenkranz. „Durch unterirdische Kalkschichten fließen alleine hier vor unserer Haustur jeden Tag über zwölf Millionen Liter erstklassiges Wasser aus dem höher gelegenen Steigerwald nach“, rechnet der Gemüseanbauer vor, „das entspricht einem Liter für jeden Bayern pro Tag.“

Arun Gairola verblüfft seine Studenten ab und zu mit der Frage: „Kann man Wasser eigentlich exportieren?“ Nach einigem Nachdenken werden dann Vorschläge gemacht, Tankschiffe etwa. Dabei es geht auch einfacher: Über den Daumen gepeilt, kostet jede pflanzliche Kalorie in der Herstellung einen Liter Wasser, jede Kalorie aus tierischen Produkten sogar das Zehnfache. Wenn Bauer Geyer also eine Möhre nach Indien exportieren würde, dann exportierte er Wasser in einem anderen Aggregatzustand.

Je höher veredelt ein Nahrungsmittel ist, desto mehr Wasser hat es im Gepäck. Eine Scheibe Brot kostet 40 Liter Wasser, und in einer Scheibe Käse stecken 50 Liter. Für die Produktion einer Portion Eis werden 135 Liter Wasser verbraucht, für eine Tüte Kartoffelchips 185 Liter – das ist mehr, als in eine Badewanne passt.

In Indien herrscht in vielen Regionen akute Wasserknappheit. Fast alle Oberflächengewässer werden bereits für Bewässerungszwecke genutzt. Es kann nur noch auf eine beschränkte Menge Grundwasser zugegriffen werden. Nimmt die Bevölkerung bis ins Jahr 2025 weiterhin wie bisher zu, so dürfte der Wasserbedarf sich fast verdoppeln. In Delhi, Bangalore, Mumbai, Chennai und Kalkutta ist es schon gang und gäbe, dass Wasser nur für ein paar Stunden am Tag geliefert wird. Der Wasserspiegel sinkt ständig, und die Verschmutzung steigt: Indien nimmt bei der „water quality“ den vorletzten Platz im Weltwasserbericht ein.

„Wasser ist das Öl des 21. Jahrhunderts“, glaubt Arun Gairola. Wassermangel macht erfinderisch. Das beweisen beispielsweise die Israelis, die die Welt mit immer neuen ausgeklügelten Wasserspar- und Bewässerungstechniken verblüffen. Und er fügt hinzu: „Öl macht faul und korrupt.“ Außer Norwegen sei kaum ein Öl exportierendes Land demokratisch regiert. Wasser sei im Gegensatz zum Öl ein Segen. „Das könnte eure Zukunft sein“, versucht Gairola seine Studenten für unkonventionelles Denken zu begeistern, „Deutschland könnte führender Wasserexporteur und eine landwirtschaftliche Großmacht werden.“

Die Studenten sind dann ein wenig erschrocken, so hatten sie sich ihre Zukunft eigentlich nicht vorgestellt. Bei der Vorstellung von Deutschland als Agrarland schwingt immer noch der Gedanke an den berüchtigten Morgenthau-Plan mit, der vom amerikanischen Finanzministerium für die Zukunft nach dem Zweiten Weltkrieg ersonnen wurde. Er sah eine Deindustrialisierung und Umwandlung des Landes in ein Agrarland vor. Und jetzt kommt über 50 Jahre später ein indischer Professor mit der gleichen Idee? Nur unter anderen Vorzeichen?

Arun Gairola frönt durchaus einer gewissen Lust an der Provokation. Er nennt das „Out-of-the-box-Denken“, was man frei mit „ohne Scheuklappen“ übersetzen könnte. „Wir brauchen weltweit eine intelligente Arbeitsteilung entsprechend den jeweiligen Kernkompetenzen der Länder.“ Der Trend in diese Richtung habe schon begonnen. Indien, wo bis vor 30 Jahren Rikschas, Ochsenkarren und Pferdewagen das Straßenbild in den meisten Städten des Landes prägten, sei bereits heute zweitgrößter Produzent der Welt für kleine Autos.

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Und außerdem der größte Produzent englischsprachiger Techniker, Ingenieure und Naturwissenschaftler außerhalb der USA. „Die Schwellenländer werden Autos in absehbarer Zeit genauso gut bauen wie die Deutschen“, ist sich Gairola sicher. Der Technologie- und Knowhow-Transfer aus den in der Autoindustrie führenden Ländern wie Deutschland nach Indien sei in vollem Gange und werde auch nicht zu stoppen sein.

Während die Automobilindustrie sich in einem beinharten Verdrängungswettbewerb befindet, tun sich in der Landwirtschaft gewaltige neue Zukunftschancen auf. Alles spricht dafür, dass die Nahrungsmittelpreise in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen, weil die weltweite Nachfrage nach Agrargütern schneller wächst, als das Angebot gesteigert werden kann.

„Ein Land wie Deutschland könnte sich auch als ein zukünftiges Hightech-Agrarland sehen, das in der weltweiten Nahrungssicherung eine größere Rolle spielt“, erklärt Gairola. Davon abgesehen habe die Agrarwirtschaft genauso viel Potenzial wie Autoindustrie, Maschinenbau, Chemie oder der Dienstleistungssektor, Millionen von neuen Arbeitsplätzen zu schaffen.

Henry M. Morgenthau habe aus Deutschland ein Agrarland ohne Industrie machen wollen, er meine genau das Gegenteil: „Die Konzentration auf die hervorragenden Kernkompetenzen, die das Land bei Nahrungsmittelproduktion, -verarbeitung und -transport besitzt.“ Als Beispiele nennt er Maschinenbau, Elektrotechnik, Fahrzeugbau, Werkzeugbau, Chemie, Pharmakologie, Informationstechnologie, Biotechnik, Automation und Verfahrenstechnik. Gairola versteht seinen Vorschlag nicht als Empfehlung zurück, sondern als einen großen Schritt vorwärts. „Mit Agrarwirtschaft verbinden wir die Vorstellung, das sei eine minderwertige und archaische Tätigkeit, dem ist nicht mehr so.“

Agrarwirtschaft habe sich zu einem hoch technologisierten Arbeitsfeld mit komplexer Wissenschaft entwickelt. „Deutschland hat eine hoch effiziente Landwirtschaft“, lobt der Inder, das Land habe seine Kompetenz durch enorme Produktivitätssteigerung demonstriert. 1950 ernährte ein Landwirt in Deutschland zehn Menschen, im Jahr 2007 waren es 133. „Wenn die deutsche Landwirtschaft die Herausforderungen rechtzeitig annimmt, kann sie zu einer Schlüsselindustrie des 21.Jahrhunderts werden“, ist sich Gairola sicher. „Ihr habt Flächenreserven, Wasser im Überfluss, eine hervorragende Infrastruktur, die besten Lebensmittel- und Umweltgesetze der Welt.“

Bedarf an Nahrungsmitteln steigt

Der Bedarf an Nahrungsmitteln nimmt nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu. Die Menschen gehen von einer rein pflanzlichen Nahrung zu mehr Fleisch und Milchprodukten über. „Bisher war neben religiöser Überzeugung der hohe Preis der Grund für den geringen Verbrauch“, weiß Gairola, „seit es den Indern zunehmend besser geht und ihre Kaufkraft steigt, wächst auch der Fleischbedarf und die Zahl derjenigen, die gerne Fleisch essen.“

Deutschland als Agrarland bedeute nicht, dass es sich um alle Arten von Lebensmitteln kümmern müsse, sondern nur um die, die hier mit hoher Leistung und Qualität produziert werden können. „Getreide, Tierhaltung, Fleischproduktion und Verarbeitung, Milchwirtschaft, aber auch andere spezialisierte Bereiche“, zählt Gairola auf. Dass es möglich sei, zeige beispielsweise Bayern. „Bayern ist Hightech-Land, aber auch das wichtigste Agrarland und der größte Nahrungsmittelproduzent in Deutschland“, sagt er und betont als bekennender Bierliebhaber: „Ein Viertel des weltweiten Bedarfs an Hopfen liefert Bayern, in der Hallertau zwischen Landshut und Ingolstadt liegt das größte Hopfenanbaugebiet der Welt.“

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Ein gutes Beispiel liefern nach seiner Ansicht die niederländischen Landwirte. Das winzige Land an der Nordsee ist nach den USA der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt (!). Und dies, obwohl die Niederlande mit 484 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten Ländern der Welt gehören (Indien kommt „nur“ auf 343 Einwohner pro Quadratkilometer). Die Exportpalette der Holländer umfasst fast ausschließlich Produkte mit hohem Verarbeitungsgrad und intensiver Produktionsweise wie Gartenbau und Viehzucht.

Von den Niederländern lernen heißt für Bauern, auch wieder mehr unternehmerisch zu denken, anstatt auf staatliche Subventionen zu schielen. Und sollte für Morgenthau 2.0 der deutsche Nachwuchs fehlen, weiß Arun Gairola ebenfalls Rat: „Es gibt eigentlich nur ein Land, in dem entsprechend motivierte Fachleute und potenzielle Unternehmer millionenfach heranwachsen und ausgebildet werden. Und dieses Land heißt Indien.“

Auszug aus der neuen Zeitschrift „Neugier.de“ ( hier ), ein Projekt des Autoren-Blogs „Die Achse des Guten“ ( hier ) unter anderen mit Henryk M. Broder, Dirk Maxeiner und Michael Miersch. Die erste Ausgabe wurde komplett in Indien erstellt.

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