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Chefärztin fordert Umdenken bei der Organspende: „Wir akzeptieren den Tod auf der Warteliste“

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Das Thema Organspende liegt Dr. Doris Gerbig sehr am Herzen. An der Fachklinik Bad Heilbrunn ist sie als Chefärztin unter anderem für das Thema Transplantationsnachsorge zuständig.
Das Thema Organspende liegt Dr. Doris Gerbig sehr am Herzen. An der m&i Fachklinik in Bad Heilbrunn ist sie als Chefärztin unter anderem für das Thema Transplantationsnachsorge zuständig. © Arndt Pröhl

Dr. Doris Gerbig von der Fachlinik Bad Heilbrunn spricht im Interview über neue Gesetzesvorstöße zur Organspende. Sie fordert ein Umdenken der Gesellschaft.

Bad Heilbrunn – Das jahrelange politische Ringen ums Thema Organspende geht weiter. Aktuell gibt es eine Bundesrats-Initiative mehrerer Bundesländer, zum anderen einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag verschiedener Bundestags-Abgeordneter. Ziel ist in beiden Fällen die Einführung der Widerspruchslösung. Die besagt: Jeder, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat, kommt als Organspender infrage. Aktuell gilt die „erweiterte Zustimmungslösung“: Um Organspender zu werden, muss man zuvor zugestimmt haben, etwa auf einem Organspendeausweis. Wenn nicht, werden die Hinterbliebenen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen gefragt. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt die aktuelle politische Debatte Dr. Doris Gerbig. Sie ist Chefärztin der Abteilung Innere Medizin, Nephrologie und Transplantationsnachsorge an der m&i Fachklinik Bad Heilbrunn – und entschiedene Befürworterin der Widerspruchslösung.

Frau Dr. Gerbig, nach 2020 gibt es nun zum wiederholten Mal einen Vorstoß zur Einführung der Widerspruchslösung. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die aktuellen Initiativen?

Mit großer Hoffnung – allein schon aufgrund der Tatsache, dass es diese Initiativen gibt, obwohl das Thema im Koalitionsvertrag der Bundesregierung meines Wissens nicht einmal erwähnt ist. Das hat sicher den Hintergrund, dass die Grünen zuletzt 2020 stark daran beteiligt waren, die Widerspruchslösung zu verhindern. Damals hat man gehofft, dass verstärkte Information und ein Organspenderegister zu mehr Spenden führen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Im vergangenen halben Jahr ist die Zahl der Organspenden, die schon seit zehn Jahren auf niedrigem Niveau stagnieren, wieder rückläufig. Es tut sich leider gar nichts. Das bedeutet, dass wir täglich den „Tod auf der Warteliste“ akzeptieren. Im Jahr 2023 wurden in Deutschland nur 965 Organspenden realisiert und 2877 Organe transplantiert. Demgegenüber stehen knapp 8500 Patientinnen und Patienten auf der Warteliste zur Organtransplantation. Jeden Tag sterben drei davon.

Wie erklären Sie sich diese Einstellung?

Das Thema betrifft nur einen geringen Anteil der Bevölkerung. Die 8500 Menschen auf der Warteliste sind nicht viel im Verhältnis zu 85 Millionen Einwohnern in Deutschland. Trotzdem hat der Staat die klare Pflicht, das Leben des Einzelnen zu schützen. Wenn der Tod auf der Warteliste in Kauf genommen und für diese Minderheit nicht genug getan wird, finde ich das schlimm.

Chefärztin: „Die Organspende ist ein etabliertes und gutes Verfahren, um Leben zu retten“

Viele transplantierte Patienten kommen zur Reha in die Fachklinik Bad Heilbrunn. Sie sehen in Ihrem Job also täglich, was eine Organspende Positives bewirken kann.

Es ist genau das, was ich seit vielen Jahren täglich beobachte. Die Organspende ist ein etabliertes und gutes Verfahren, um Leben zu retten beziehungsweise die Lebensqualität und Lebenserwartung der Patienten zu erhöhen. Wir haben Patienten, die zum Teil zehn, zwölf oder 13 Jahre auf eine Spenderniere gewartet haben. Sie mussten in dieser Zeit dreimal wöchentlich zur Dialyse oder jeden Tag selbst eine Bauchfelldialyse durchführen. Die Dialyse ist als Therapie aber nicht ausreichend, damit man sich gut fühlt. Sie schafft es allenfalls, eine Nierenfunktion von 20 Prozent herzustellen, und muss durch viele Medikamente ergänzt werden. Man fühlt sich nie richtig gut, es ist ein Leben mit angezogener Handbremse. Nach der Dialyse ist man oft erschöpft, vor der nächsten Dialyse in einem Zustand einer fast vollständigen Harnvergiftung. Das heißt, man ist beruflich nicht mehr so einsatzfähig, nicht gut in der Lage zur sozialen Teilhabe, man kann nur unter erschwerten Bedingungen reisen, die Freizeitgestaltung ist eingeschränkt. Für Frauen ist es sehr schwer, sich einen Kinderwunsch zu erfüllen. Das heißt, alles, was für gesunde Menschen ganz normal ist, ist schwer oder gar nicht möglich. Von Patienten, die eine Lunge, ein Herz oder eine Leber benötigen, gar nicht zu sprechen. Sie können ohne eine Organspende nicht überleben. Nach einer Organtransplantation dagegen ist für die Patienten ein fast völlig normales Leben in jeder Hinsicht möglich.

Sie selbst sind sehr aktiv, um fürs Thema Organspende zu werben. Mit welchen Gegenargumenten zur Widerspruchslösung sind Sie dabei konfrontiert?

Kürzlich habe ich einen Zeitungskommentar gelesen, der besagte: Menschen sterben nicht, weil Spenderorgane fehlen, sondern weil sie schwer krank sind. Mit einem solchen Argument kommen wir aber in der modernen Medizin nicht weiter. Nein, wenn Menschen sterben, weil man ihnen eine Möglichkeit vorenthält weiterzuleben, ist das für mich nicht hinnehmbar. Ein anderes Argument ist, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen verletzt würde. Das sehe ich anders. Wir leben in einer Welt, in der wir ständig aufgefordert werden, zu etwas eine Willenserklärung abzugeben. Wir müssen im Internet Cookies akzeptieren, einer Datenschutzrichtlinie zustimmen und bei Abschluss einer Hausratversicherung etliche Erklärungen abgeben. Das ist in unserem Land etwas ganz Normales. Aber sich einmal zum Thema Organspende zu äußern, das kann man von der Bevölkerung nicht verlangen?

Aber sollte man Menschen wirklich zwingen, sich zu einer möglichen Organspende zu äußern?

Ein Widerspruch muss äußerst niederschwellig möglich sein. Idealerweise im Organspendeausweis oder in der Patientenverfügung. Es muss aber auch ausreichen, sich mündlich vor Zeugen geäußert zu haben. Es ist auch völlig okay zu sagen, dass ich mich jetzt nicht mit dem Thema auseinandersetzen möchte, und deswegen vorläufig Nein sage. Diese Niederschwelligkeit wurde bei der Gesetzesinitiative 2020 nicht genug herausgearbeitet. Ganz wichtig ist auch, dass keiner wegen seiner Meinung schräg angeschaut wird. Wie auch immer man sich entscheidet: Niemand darf als besserer oder schlechtere Mensch hingestellt werden, weil er bereit ist, Organe zu spenden oder eben nicht.

Chefärztin deckt Mythen über die Organspende auf

Manche Skeptiker führen auch ins Feld, man wisse ja nicht, wann ein Mensch, dem Organe entnommen werden sollen, wirklich tot ist.

Wenn jemand sagt, nach dem Hirntod würden die Organe weiterleben, hat er sich nicht mit den wissenschaftlichen Fakten eines Hirnfunktionsausfalls beschäftigt. Es geht hier um eine sehr seltene Situation. Eine Organentnahme kommt nur infrage, wenn ein Patient auf der Intensivstation liegt und dort am Hirntod verstirbt, etwa nach einem Unfall, durch Hirnblutungen oder eine Ischämie im Hirn. Der Hirntod bedeutet klar den Tod eines Menschen. Der Arzt ist in diesem Fall angehalten, die Maschinen abzustellen, und der Totenschein wird ausgestellt.

Andere haben Angst, man lasse sie im Krankenhaus vorzeitig sterben, um an die Organe zu kommen.

Das ist ein weiterer Mythos: Man behauptet, ein Mensch, der einen Organspendeausweis hat, bekomme nicht dieselbe Therapie wie ein anderer. Ich selbst habe lange auf Intensivstationen und in der Notaufnahme gearbeitet und kann sicher sagen: Dort ist das erste Ziel, den Patienten zu retten, und nichts anderes. Kein Mensch würde hier einen Patienten sterben lassen, um an seine Organe zu kommen. Erst wenn trotz aller Rettungsmaßnahmen der Sterbeprozess unumkehrbar in Richtung Hirntod voranschreitet, wird eine Organspende möglicherweise überhaupt zum Thema.

„Wir brauchen in Deutschland eine Kultur der Organspende“

Was gibt es noch für Vorbehalte?

Manche sagen auch, dass sie möchten, dass ihr Körper nach dem Tod unversehrt bleibt. Sie haben sich offenbar nicht damit auseinandergesetzt, was mit dem toten Körper passiert. Wenn er im Sarg unter der Erde liegt, kann von Unversehrtheit schon nach kurzer Zeit keine Rede mehr sein. Und bei einer Einäscherung ohnehin nicht.

Was halten sie von den milderen Mitteln, auf die man bisher gesetzt hat: Aufklärungskampagnen und ein Organspenderegister. Es gibt sogar Tätowierungen, die anzeigen, dass man mit einer Organspende einverstanden ist.

Das sind alles richtige Schritte. Sie haben aber nicht zu einem Paradigmenwechsel geführt. Wichtig wäre, dass wir in Deutschland das Thema Organspende positiv besetzen, dass sie das Normale wird und nicht das Außergewöhnliche, so wie es in anderen Ländern der Fall ist. Widersprüchlich finde ich übrigens, dass wir Organe aus anderen Ländern annehmen, in denen die Widerspruchslösung gilt. Das passt nicht zusammen. Wir sollten die Widerspruchslösung aber nicht als Allheilmittel sehen. Wir brauchen in Deutschland eine „Kultur der Organspende“. Dazu gehören auch klare Strukturen in den Krankenhäusern, die es zwar gesetzlich mittlerweile gibt, die aber noch nicht überall gelebt werden. Transplantationsbeauftragter einer Klinik darf nicht derjenige sein, der nicht schnell genug auf dem Baum ist, sondern es muss eine Person sein, die dahintersteht und dafür gut ausgebildet ist und dann auch von der Klinik unterstützt und für die Aufgabe freigestellt wird. Das gesamte Klinikpersonal muss gut zu dem Thema informiert sein. Wenn ein Patient am Hirntod verstirbt, kommt es leider vor, dass dies nicht gemeldet wird, statt dass aktive Schritte in Richtung Organspende eingeleitet werden. Für jedes Krankenhaus ist das ein richtig großer Aufwand, das geht nicht mal eben so. Das muss in den Kliniken aber zu Alltag und Routine werden. Dazu braucht es die personellen Kapazitäten und das klare Bekenntnis pro Organspende. Das Thema Organspende muss raus aus der Schmuddelecke.

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