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  3. Grundgesetz: So viele Änderungen gab es bereits

Geschichte Verfassungsgeschichte

Das Grundgesetz wurde schon erstaunlich oft geändert

Obwohl die Hürden für Änderungen groß sind, wurden viele Artikel des Grundgesetzes umgeschrieben. Das erklärt auch den Unterschied zwischen klaren Formulierungen und kompliziertem Juristendeutsch.
Leitender Redakteur Geschichte
Wie oft wurde das Grundgesetz bislang geändert?

Die Hürden für eine Änderung des Grundgesetzes sind sehr hoch. Dennoch wurden einzelne Artikel seit seiner Verkündung 1949 geändert.

Quelle: WELT/Anna Wagner

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Auch Gutes kann man immer noch verbessern – aber nicht jede Veränderung muss eine Verbesserung sein. Sieben Jahrzehnte ist die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz, inzwischen alt. In dieser Zeit ergingen zahlreiche Änderungsgesetze, denen sowohl zwei Drittel der Bundestags- wie der Bundesratsmitglieder zustimmen mussten. Die Hürden für eine Änderung des Grundgesetzes waren und sind also hoch.

Der Bayreuther Staatsrechtler Heinrich Amadeus Wolff, Herausgeber eines viel genutzten Handkommentars zum Grundgesetz, merkt allerdings zu Recht an, viele dieser Änderungen hätten „die Schlichtheit im Ausdruck, Ästhetik, Lesbarkeit und die Offenheit seiner Rahmen setzenden Ordnung“ geschadet: Das Grundgesetz „regelt stattdessen inzwischen vielfach Details, die besser der ausführenden einfachen Gesetzgebung vorbehalten geblieben wäre“.

Der Parlamentarische Rat in Bonn beschließt 1949 das Grundgesetz
Der Parlamentarische Rat in Bonn beschließt 1949 das Grundgesetz
Quelle: picture-alliance / dpa

Besonders gut nachvollziehen kann man das am ganz wesentlichen Artikel 20 des Grundgesetzes, der die Staatsform festlegt. In der ursprünglichen Fassung von 1949 umfasste er 55 Wörter, mit denen es den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates gelang, die wesentlichen Aspekte eines freiheitlich-demokratischen, föderalen und sozialen Staates zu beschreiben. Große Formulierungskunst. Nicht ohne Grund sind diese 55 Wörter ebenso wie der Artikel 1 von jeder Änderung ausgenommen.

Ergänzt werden durfte und darf dieser Artikel aber. Das geschah zum ersten Mal 1968: Im Zuge der Regelung denkbarer Notstandssituationen wurde ein vierter Absatz hinzugefügt, der das Recht von Bürgern zum Widerstand beschrieb: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Widerstand ist also nur zulässig, wenn jemand die staatliche Ordnung zu beseitigen versucht und wenn zudem andere Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen. Solange also zum Beispiel demokratische Wahlen stattfinden, gibt es kein Recht auf Widerstand.

Der Bundestag beschließt 1968 die Notstandsverfassung mit großer Mehrheit
Der Bundestag beschließt 1968 die Notstandsverfassung mit großer Mehrheit
Quelle: picture-alliance / dpa

Doch auch dieser hinzugefügte Absatz war noch kraftvoll formuliert – ganz im Gegensatz zum Artikel 20a. Er verfügt allein über 38 Wörter und lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Das ist kein kraftvolles Deutsch mehr, das ist gespreizte Juristensprache. Denn man hätte auch schlicht „Umweltschutz“ schreiben können. Das neue Staatsziel wurde 1994 ins Grundgesetz aufgenommen und acht Jahre später um die drei Wörter „und die Tiere“ für das Tierschutzgebot erweitert. Allerdings ist Artikel 20a nicht wie andere Bestimmungen des Grundgesetz vor dem Verfassungsgericht einklagbar und gehört auch nicht zur unveränderlichen Ordnung des Grundgesetzes.

Noch deutlicher wird die Verschlimmbesserung des Grundgesetzes an einem seiner heute längsten Artikel: 435 Wörter umfasst der 1992 neu ins Grundgesetz eingefügte Artikel 23, der die Integration Deutschlands in die Europäische Union regelt. Das sind mehr Wörter, als die ersten sechs Artikel des Grundgesetzes zusammen umfassen.

Von 1949 bis 1990 lautete der Artikel 23 schlicht: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Genau die Hälfte dieses Artikels war die Aufzählung der Länder, in denen das Grundgesetz ab 1949 galt. Politisch wesentlich war der zweite Satz, nach dem 1990 die Wiedervereinigung durch Beitritt der DDR erfolgte.

Im provisorischen Sitz im Bonner Wasserwerk am Rhein beschließt der Bundestag 1990 den Einigungsvertrag mit der DDR
Im provisorischen Sitz im Bonner Wasserwerk am Rhein beschließt der Bundestag 1990 den Einigungsvertrag mit der DDR
Quelle: picture-alliance / dpa
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Dieser Artikel 23 wurde durch den von Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenen Einigungsvertrag abgeschafft, denn es gab nun keine „anderen Teile Deutschlands“ mehr, die dem Geltungsbereich des Grundgesetzes hätten beitreten können. Die Anerkennung der 1990 bestehenden Grenzen in Europa war die Geschäftsgrundlage der Wiedervereinigung.

Da nun die Nummer 23 frei war, fügten Parlamentarier und Ländervertreter hier die verfassungsrechtlich notwendigen Regeln für die Integration Deutschlands in die EU ein. Allerdings in einem Duktus, der dem Wert der Idee Europas eher schadete als nützte. Schlicht in „Ausdruck, Ästhetik, Lesbarkeit“ ist jedenfalls am heutigen Artikel 23 gar nichts mehr.

Im Verlauf der vergangenen 70 Jahre ist ungefähr jeder zweite Artikel des Grundgesetzes verändert worden, einige davon mehrfach – insgesamt wirkten sich die 63 Änderungsgesetze auf 235 einzelne Artikel aus. Große Veränderungen abgesehen vom Einigungsvertrag betrafen 1956 die Aufstellung der Bundeswehr (dafür wurden sieben Artikel geändert und neun neu eingefügt) und 1968 die Notstandsregelungen (elf geänderte Artikel und sogar 16 ergänzte Artikel, vor allem 115a bis 115l). Beides waren Anpassungen, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat nicht vorhersehen konnten, weil 1948/49 einfach noch unklar war, wie sich die weltpolitische Lage entwickeln würde.

Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Abstimmung über die Änderung des Asylrechtes 1993
Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Abstimmung über die Änderung des Asylrechtes 1993
Quelle: picture-alliance / dpa

Typisch allerdings ist, dass die umfangreichsten Grundgesetzänderungen kein zentrales politisches Thema betraf, sondern die Kompetenzverteilung von Bund und Ländern. 2006 mussten im Rahmen der Föderalismusreform I gleich 19 Artikel geändert, vier ergänzt und zwei gestrichen werden.

Der Streit um die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern war nicht nur 1948/49 ein zentrales Thema im Parlamentarischen Rat gewesen. Schon 30 Jahre zuvor, im Dezember 1918 und im Januar 1919, stritt der Vater der späteren Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, mit den Revolutionsregierungen der damaligen deutschen Bundesstaaten darüber, ob das demokratisch Deutschland föderal oder zentral regiert werden sollte.

Seit 2002 genießt der Tierschutz Verfassungsrang
Seit 2002 genießt der Tierschutz Verfassungsrang
Quelle: picture-alliance / dpa

Bis heute schimpfen viele Deutsche auf den Egoismus von Landespolitikern, wollen aber gleichwohl die Eigenheiten ihrer jeweiligen Region bewahrt wissen. In diesem unauflösbaren Zielkonflikt bietet auch das Grundgesetz keine wirkliche Entscheidungshilfe.

Aktuell sicher die umstrittenste Regelung im Grundgesetz (abgesehen von dem verfassungsrechtlichen Irrtum linker Aktivisten über den angeblichen Verstaatlichungsartikel 15) ist das Asylrecht, der Artikel 16a im Grundgesetz. Die originale Formulierung des Parlamentarischen Rates hieß schlicht: „Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Sie gilt zwar heute immer noch, aber ist 1994 durch 271 Wörter ergänzt worden, die einen Vorbehalt im Sinne des Dublin-Abkommens der EU einfügten und faktisch eine Abschaffung des Asylrechts hätten bedeuten sollen. Das hat allerdings, wie sich spätestens 2015/16 zeigte, nicht funktioniert.

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Deshalb fordern Staatsrechtler wie Rupert Scholz inzwischen, das individuell einklagbare Recht, das der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ enthält, durch eine andere Formulierung zu ersetzen. Eine Möglichkeit wäre: „Politisch Verfolgten wird nach Maßgabe der Gesetze Asyl gewährt.“ Ähnliche Regelungen gibt es auch in anderen Staaten der Europäischen Union.

Das deutsche Grundrecht auf Asyl ist weltweit einzigartig

Der Artikel 16a der deutschen Verfassung ist weltweit einzigartig. Er beinhaltet ein Grundrecht auf Asyl und begründet sich in der deutschen Geschichte. Das verbirgt sich hinter dem Gesetz.

Quelle: WELT/ Jana Wochnik

Ob allerdings eine solche Änderung und damit Abschaffung des individuellen Asylrechts gegenwärtig in Deutschland die doppelte Zwei-Drittel-Mehrheit in Parlament und Ländervertretung bekäme, muss wohl bezweifelt werden. Die kommende, schon 64. Grundgesetzänderung wird sicher etwas anderes betreffen.

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Sven Felix Kellerhoff zu 70 Jahren Grundgesetz

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Es wurde zur erfolgreichsten Verfassung in der deutschen Geschichte. Ein Videokommentar von Sven Felix Kellerhoff, leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der WELT.

Quelle: WELT/Sven Felix Kellerhoff/Dominic Basselli

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