KLINIKEN Tod am Tropf
Irgendwann, in den frühen Abendstunden des 28. Mai 2003, fing es an: Die Lebensuhr des Emil H. lief nicht mehr langsam, sie begann zu rasen, aufs Ende zu.
Um 17 Uhr war seine Frau bei ihm gewesen. Der Krebspatient hatte keinen guten Tag gehabt, doch als sie ging, hatte er sie noch zum Aufzug gebracht, wie man das eben so tut in Krankenhäusern, wenn man nicht bettlägerig oder ausgezehrt ist. Dann aber, um 19.55 Uhr, sprach die behandelnde Ärztin Mechthild Bach mit der Ehefrau und eröffnete ihr, dass Emil H. nun schon im Sterben liege, dass es wahrscheinlich nur noch Stunden dauern werde. Nicht einmal mehr fünf, wie die Nacht zeigen sollte: Nach Morphiumspritzen und Valium-Infusionen war um 0.50 Uhr die Zeit für den 78-Jährigen abgelaufen.
Eben noch mobil, plötzlich präfinal, und das in weniger als drei Stunden: Emil H. ist einer der merkwürdigen Todesfälle der Mechthild Bach, Belegärztin in der Paracelsus-Klinik im niedersächsischen Langenhagen. Und er ist einer von acht, die der Bochumer Schmerzmediziner Michael Zenz in einem Gutachten für die Staatsanwaltschaft Hannover als so gravierend eingestuft hat, dass Bach nun in Untersuchungshaft sitzt. Wegen des Verdachts auf Totschlag.
Anfang vergangener Woche hatte Bachs Verteidiger Klaus Ulsenheimer erste Wort- und Satzfetzen aus dem Gutachten gestreut, scheinbar Entlastendes im wohl größten Todesermittlungsverfahren der deutschen Medizingeschichte. Erneut wurde danach über die Grauzone Sterbehilfe geredet, über das Leid der Patienten und ihrer Angehörigen, über die Not der Ärzte, die helfen wollen - und denen enge, womöglich zu enge Grenzen gesetzt sind.
Tatsächlich aber, das zeigt das vorliegende Gutachten mit erdrückender Klarheit, taugt der Fall Bach wohl kaum für eine Grundsatzdebatte über das letzte Leben, das letzte Leiden und welche Möglichkeiten ein Arzt dann noch haben sollte. Denn die Expertise des Bochumer Palliativpapstes Zenz ist für Bach geradezu vernichtend; sie attestiert ihr in den elf untersuchten Fällen Fehler in einer Dichte und Deutlichkeit, wie man das im Urteil eines Mediziners über einen Standeskollegen selten gelesen hat.
Bachs Therapie sei »völlig unkontrolliert« gewesen, die Diagnostik »ausgesprochen mangelhaft«, die Dosierungen von Morphium und Valium »völlig unangemessen«. Die Patienten seien vermutlich in keinem der elf Fälle aufgeklärt, die Angehörigen nicht ein einziges Mal eingeweiht gewesen. Und schließlich, so Zenz, »beherrscht« Bach »die Grundlagen der Tumorschmerztherapie« überhaupt nicht - »nicht einmal die einfachsten«.
Von indirekter Sterbehilfe, wie sie in Deutschland erlaubt ist, könne deshalb auch keine Rede sein, stellt Zenz klar. Damit attackiert er schon Bachs Hauptverteidigungslinie, wonach der Tod der Patienten im schlimmsten Fall allenfalls eines gewesen ist: eine unerwünschte Nebenwirkung, wie sie vorkommen kann, wenn kurz vor dem Ende schlimmste Schmerzen zu lindern sind.
Der Professor macht als Todesursache vielmehr fehlende Sorgfalt aus. Bach habe regelmäßig ihr Schmerzprogramm abgespult, immer mit Morphium, oft in Kombination mit Valium, bis dass der Tod eintrat. Ob die Schmerzen stark oder schwach waren, woher sie kamen, warum sie nicht wieder gingen, das habe sie aber offenbar gar nicht erforscht. Mehr noch: In manchen Fällen, etwa bei einer 80-jährigen Frau, die im Februar 2003 starb, gebe es in der äußerst schlampig geführten Krankenakte überhaupt keinen Hinweis auf Schmerzen. Genau das hatten vorher auch schon Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen angeprangert.
Deshalb, so sieht es Zenz, hätten zumindest sieben der elf Patienten die Morphiumspritze gar nicht bekommen dürfen. In zehn Fällen, so der Gutachter, war die Dosis aber auch noch unangemessen hoch, meist 20 Milligramm am Anfang, ganz egal, ob die Kranken nun 50 Kilo wogen oder 80. Auch bei Valium, das laut Zenz vier von sechs Patienten gar nicht hätten erhalten dürfen, habe Bach überzogen - bis hin zum 30fachen.
Ob einer noch zu heilen war, habe sie allerdings nicht immer ausreichend geprüft. Bei Emil H. etwa hält es der Gutachter keineswegs für erwiesen, dass eine Operation aussichtslos gewesen wäre, der Darmverschluss also schon das Todesurteil für H. bedeutete. »Nur für Dr. Bach alleine« habe festgestanden, dass der Mann inoperabel gewesen sei. Richtig untersucht habe sie ihn aber nicht.
Obwohl schwer krank, hatte Emil H. wohl auch keine Ahnung, welchen Weg seine Ärztin stattdessen einschlagen würde. Bei einem anderen Patienten steht dies für Zenz noch klarer fest: Der Mann sprach nur Russisch. Für das Vorstandsmitglied der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, geht es in so einem Fall deshalb auch nicht um Sterbehilfe: »Entscheidend ist nicht, was der Arzt meint, sondern der Patient will. Handelt der Arzt ohne Zustimmung, stellt sich nur noch die Frage: Totschlag oder Mord?«
Zenz, den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), treibt noch etwas anderes um: warum Bach in keinem Fall einen erfahrenen Schmerzmediziner gefragt habe, der sich mit so etwas auskennt. Ihr selbst traut Zenz auf diesem Feld nicht viel zu: Anders als viele Klinikärzte habe sie nie die Zusatzbezeichnung »Spezielle Schmerztherapie« erworben. Und weder auf Fachkongressen noch in Fortbildungskursen der DGSS habe sie sich je blicken lassen.
Für den Bach-Anwalt Ulsenheimer heißt das nicht viel: Gelesen habe seine Mandantin, Fachbücher, neuester Stand. Und dass sie ihre rastlosen, selbstlosen, mitunter aber aussichtslosen Bemühungen im Kampf ums Überleben nicht immer ganz genau dokumentiert habe, bedeute ja nicht, dass es das alles gar nicht gegeben habe. Ansonsten rettet sich der Advokat aber ins Grundsätzliche: Das Gutachten sei einseitig, Zenz offenbar befangen.
Dabei hätte es für Bach sogar noch schlimmer kommen können. Zwar stellt Zenz fest, dass neun von elf Patienten den Todeszeitpunkt ohne die Morphin- und Valiumattacke mit hoher Wahrscheinlichkeit überlebt hätten; wie lange aber, das sagt er nicht. Nur Stunden oder Tage? Oder doch Monate und Jahre?
So lässt auch Zenz, der alle Fälle aus dem Blickwinkel der Schmerzmedizin beurteilt, die vielleicht wichtigste Frage offen: ob - ethische Grenzfälle der Sterbehilfe hin oder her - einige der von Bach in den Tod Geschickten womöglich noch lange hätten leben können, wenn sie rechtzeitig auf eine Intensivstation gekommen wären, die es aber in der Paracelsus-Klinik nicht gab. Patienten wie jene 81-Jährige, die nach einem Sturz mit einem Beckenbruch eingeliefert wurde und starb - nach Morphiumspritze und Valium, dem sanften Totmacher vom Tropf.
Inzwischen hat Bachs Verhaftung Ärzte in ganz Deutschland verunsichert. Der Aachener Schmerzspezialist Lukas Radbruch berichtet von Medizinern, die ihn besorgt anriefen und fragten, was sie eigentlich bei schwer Kranken jetzt noch tun dürften und was nicht. »Der Fall Bach wirft uns um zehn Jahre zurück«, klagt Radbruch.
Daran hat er allerdings selbst seinen Anteil: Der Professor, dessen Lehrstuhl maßgeblich von einer Stiftung des Schmerzmittel-Herstellers Grünenthal finanziert wird, hatte zunächst ein Gutachten mit positiver Tendenz für Bach geschrieben. Das brachte Bach den Ruf einer mutigen Schmerzmedizinerin ein, für die jetzt sogar Hunderte Patienten zu Solidaritäts-Demos auf die Straße gehen. Nur: Radbruch hatte offen gelassen, ob die Toten der Frau Doktor tatsächlich schwere Schmerzpatienten waren - was für die Ärztin erst jene Freiräume begründet hätte, die sie genutzt haben will. Inzwischen, so der Spezialist, wäre sein Gutachten für
Bach wohl anders ausgefallen. Tendenz? »Härter.«
JÜRGEN DAHLKAMP, MICHAEL FRÖHLINGSDORF
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