Vor zehn Jahren starben im Sittenser Restaurant „Lin Yue“ sieben Menschen

Rotenburg/Sittensen - Von Michael Krüger. Der Mann sitzt in dieser Nacht am PC und spielt. Im Fernsehen läuft Super Bowl. Er hat Kopfhörer auf. Nichts von dem bekommt er mit, was sich nur zwei Türen neben seiner kleinen Wohnung an der Hamburger Straße in Sittensen abspielt. Sieben Menschen sterben beim Überfall auf das Restaurant „Lin Yue“. Erschossen, hingerichtet, ausgeraubt. Genau zehn Jahre ist das bis heute vielleicht schwerste Kapitalverbrechen in der Geschichte des Bundesrepublik jetzt her.
Richard Kaufmann ist „Mister 100 Prozent“. Aktuell ist der Leiter des Fachkommissariats 1 der Rotenburger Kriminalpolizei den Todesschützen von Visselhövede auf der Spur. Alle anderen Fälle aber hat er schon gelöst. Keine offene Akte mehr. Fragen aber bleiben auch bei ihm, wenn er sich im Keller der Polizeiinspektion Rotenburg umschaut, wo die Ordner zum Fall „Lin Yue“ einen ganzen Raum füllen. Wie konnte ein schlichter Raubüberfall dermaßen aus dem Ruder laufen, so enden? „Diese Brutalität kann man nicht verstehen“, sagt Kaufmann, der vor zehn Jahren die 100-köpfige Mordkommission zum Fall „Lin Yue“ geleitet hat.

Ein zweijähriges Mädchen liegt auf dem Boden, eine blutige Tischdecke über den Kopf gezogen. Um das Kind herum liegen die Leichen seiner Eltern und deren Angestellter. Ein Mann ringt mit dem Tod, er stirbt wenig später. Während im Nebenzimmer ein Mann Computer spielt, feuern die Räuber in wenigen Sekunden 14 Schüsse ab, drei Frauen und drei Männer werden tödlich getroffen. Der Mann einer Angestellten aus Soltau findet gegen 0.30 Uhr die Opfer, als er seine Frau abholen will. Auch sie ist tot.

„Grausam und unwirklich war es“, sagt Richard Kaufmann heute. Er ist schon vor zehn Jahren ein erfahrener Kriminalist, hat mit der organisierten Kriminalität zu tun. Aber eine „Hinrichtungsstätte“ wie im „Lin Yue“ hat er auch noch nie gesehen. Die Opfer sind teilweise mit Kabelbindern an den Daumen gefesselt, als der Koch flüchten will, eskaliert der Raubüberfall der spielsüchtigen und unter Drogeneinfluss stehenden Täter. Die ersten Kugeln fliegen, es folgen kaltblütige Hinrichtungen. Aufgesetzte Kopfschüsse aus Waffen mit Schalldämpfern, die Köpfe mit rosa Servietten abgedeckt. Die Beute: 5105 Euro Bargeld, zwei Computer und 13 Handys.
Medien aus der ganzen Welt schauen nach Sittensen
Sittensen ist nach der Tat im Ausnahmezustand. Medien aus der ganzen Welt schauen auf die Samtgemeinde, Tausende Menschen wollen zur Trauerfeier in der kleinen Kapelle. Und die Spekulationen zu den Hintergründen der Tat nehmen zum Teil groteske Züge an. Kriminalitätsexperten entwerfen Szenarien, die Brutalität des Vorgehens deuten sie als klare Hinweise auf eine Beteiligung der Mafia, der Triaden. Das Inhaber-Ehepaar Fan soll Spielschulden gehabt haben, die Größe der Koi-Karpfen im Restaurant-Teich oder die Art der Löwen-Figuren am Hauseingang: klare Signale für Zusammenhänge mit Schutzgelderpressungen und weitere Verstrickungen. „Wir hatten am Anfang absolut keine Ahnung“, gesteht Ermittler Kaufmann. Worauf deutet die „Spurenlage einer Hinrichtung“ hin? Eine Familienfehde, organisierte Kriminalität, Schutzgeld? Oder tatsächlich nur ein schlichter Raub?

Ein glücklicher Zufall hilft den Beaten schon 14 Stunden nach der Tat. Bei einer Routinekontrolle der Autobahnpolizei Wildeshausen finden die Beamten Beweise, die im Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen. Im Handschuhfach liegen Schmuck, Bargeld und Kokain, einer der kontrollierten Vietnamesen zerknüllt eilig einen Zettel und wirft ihn in den Fußraum. Darauf: eine Skizze und die Worte „Hamburger Str. 9 Zittensen“. Eine darunter gekritzelte Handynummer gehört einem Koch, der bis vor einem halben Jahr im „Lin Yue“ gearbeitet hatte – dem Tippgeber. Die Männer, es ist das Haupttäter-Bruderpaar, bleiben bei der Kontrolle cool, aber sie werden fortan überwacht und schließlich festgenommen. In Verhören schweigen die Verdächtigen, erst viel später beschuldigt man sich gegenseitig

Ein halbes Jahr lang bleibt das 1997 eröffnete Restaurant am Ortsrand von Sittensen ein Tatort. Die Mordkommission unter Richard Kaufmanns Leitung bekommt Hilfe vom Bundeskriminalamt, erstmals werden sogenannte Spheron-Kameras für die Rekonstruktion des Geschehens eingesetzt. Nach der „Chaos-Phase“ am Anfang habe sich eine vorbildliche Zusammenarbeit der Behörden entwickelt, sagt Kaufmann. Das Vorgehen damals sei heute in vielen Lehrgängen Thema. So akribisch, wie die Ermittler vorgegangen sind, ist er sich sicher: „Auch ohne die späteren Geständnisse im Prozess hätte es für die Verurteilung gereicht.“
Heute deutet nichts mehr auf die Bluttat hin
Dort, wo das grausame Verbrechen vor zehn Jahren seinen Lauf nahm, deutet heute nichts mehr auf die Bluttat hin. Das Restaurant hat nie wieder eröffnet, im Gebäude sind mittlerweile eine Videothek und ein Frisör. Auch wenn die Erinnerung immer noch „eklig“ sei und „berührt“, sagt Sittensens Samtgemeindebürgermeister Stefan Tiemann, so sei doch wenig geblieben. Die Angehörigen der Familien sind weggezogen, nur die Freunde von damals trauern noch. „Das Verbrechen ist nicht mehr präsent.“ Eine Gedenkveranstaltung wird es in diesen Tagen nicht geben.

25.000 Euro soll ein Mord kosten. Dieses „Blutgeld“ sei den Opfer-Familien gezahlt worden, heißt es. Nachprüfen kann das niemand. Ihre lebenslange Schuld sitzen derweil nur noch die beiden Haupttäter wegen Mordes ab. Die Helfer sind bereits wieder auf freiem Fuß. Die einzige Überlebende, die Tochter der Inhaber, wurde ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen, hat Sittensen mit ihrer Großmutter verlassen. Sie leben im europäischen Ausland. Details nennen die Behörden nicht. Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas: „Eine Gefährdungslage ist weiter nicht ausgeschlossen.“ Ermittler Kaufmann hofft, dass wenigstens sie in diesen Tagen nicht an Sittensen denkt – und nie eine Erinnerung an den 5. Februar 2007 hat.
Nur noch zwei Täter sitzen in Haft |
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Nach 107 Verhandlungstagen geht der Prozess gegen die fünf Täter am Landgericht Stade am 13. Mai 2009 zu Ende. 40 000 Seiten Aktenmaterial sind abgearbeitet, die Urteile stehen. Mit dem Strafmaß folgt die Kammer weitgehend den Anträgen der Staatsanwaltschaft: Der Haupttäter ist demzufolge der damals 31-jährige Phong Dao Cao. Er muss für Mord in sieben Fällen lebenslang in Haft, zudem wird die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Sein Bruder Trong Duong Dao gilt als Rädelsführer der Tat, er muss für Mord lebenslang hinter Gitter. Der 33-jährige Van Hiep Vu wird für Raub mit Todesfolge zu 14 Jahren Jahren Gefängnis verurteilt, sein Bruder Van Phuong Vu als Fluchtwagenfahrer wegen Beihilfe zu den Taten zu vier Jahren und neun Monaten. Tippgeber Quoc Thanh Nguyen muss wegen Anstiftung zu schwerem Raub fünf Jahre in Haft.Mit dem Urteil endet ein zum Teil chaotischer Prozess, der wegen der Erkrankung einer Richterin kurzfristig sogar unterbrochen werden muss. Intern muss wegen der Dringlichkeit der Abarbeitung am Landgericht die Wirtschaftsstrafkammer einspringen, Richter Hans-Georg Kaemena muss sich mit zehn Pflichtverteidigern auseinandersetzen, die zum keinen Zeitpunkt gewillt sind, einen ordnungsgemäßen Ablauf der Verfahrens mitzutragen. Sie „bombardieren“ die Kammer immer wieder mit Anträgen, manches Mal muss der Vorsitzende Richter regelrecht auf den Tisch hauen, um für Ruhe im Saal zu sorgen. Aussagen werden für Zeugen zur Qual, sie sehen sich einem massiven Widerstand ausgesetzt. Eine Übersetzerin erleidet während der Verhandlung einen Nervenzusammenbruch. Die Sicherheitsvorkehrungen sind immens, zwischenzeitlich heißt es, es seien Vergeltungsaktionen im Gerichtssaal geplant. „Es war einer der größten Prozesse hier“, sagt die Sprecherin des Landgerichts Stade, Petra Baars, über die Dimension des Verfahrens. Vergleichbar vom Medieninteresse vielleicht noch mit dem Prozess gegen den sogenannten Maskenmann – dem vor fünf Jahren verurteilten Kindermörder. Mittlerweile sitzt nur noch das hauptverantwortliche Brüderpaar in Haft. Das bestätigt Kai Thomas Breas von der Staatsanwaltschaft Verden. Wegen der besonderen Schwere der Schuld kann der Siebenfach-Mörder Phong Dao Cao auch nicht auf eine Entlassung nach 15 Jahren hoffen. Van Hiep Vu wurde im Juli vom Landgericht Bremen die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt, er ist wie die beiden Helfer wieder frei. Fluchtwagenfahrer Van Phuong Vu wurde im Oktober 2010 wegen guter Führung entlassen, Tippgeber Quoc Thanh Nguyen im Mai 2011. Anders als mit dem Urteil 2009 angekündigt, wurde bislang keiner der Männer nach Verbüßung der Tat in sein Heimatland abgeschoben. |