Das stärkste Geschütz der Polen

Die feinsinnige Musik Frédéric Chopins kann von starker emotionaler Wirkung sein. In Polen verbanden und verbinden sich mit ihr Gefühle der nationalen Identität. Die Nationalsozialisten haben das gewusst wie gefürchtet.

Gerhard Gnauck
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Jeder Pole weiss davon. Viele können aus der Überlieferung ihrer Familie Geschichten beisteuern: über die Rolle, die Frédéric Chopin im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Der Komponist war erst Hassobjekt der Nazi-Besatzer und verbotenes Kulturgut, zeitweise Gegenstand abstruser Germanisierungsbemühungen. Vor allem war er jener Künstler, der durch sein Werk wie kein anderer den Widerstandsgeist der Polen beflügelte. Noch leben Zeitzeugen, die davon berichten können.

«Heil Chopin»

Ein Blick zurück: Im Frühjahr 1935 hatte das Dritte Reich noch Respekt vor dem Komponisten. Das wirtschaftlich und militärisch geschwächte Deutschland hatte mit Polen einen Nichtangriffspakt geschlossen, dem eine politische Annäherung und kulturelle Aktivitäten folgten. Die polnische Wochenschau berichtet in diesem Jahr von der Enthüllung einer Chopin-Büste an dem Haus in Dresden, in dem der Komponist Station gemacht hatte. Braune Würdenträger in Uniform erheben vor der Büste die Hand zum «deutschen Gruss». Sogar der Ruf «Heil Chopin», vermerkt der Berichterstatter mit einem Anflug von Ironie, sei zu hören gewesen.

Vier Jahre vergingen, da begannen für Chopin und für die Musiker schlimme Zeiten. Mieczysław Tomaszewski, 1921 geboren und damals junger Pianist, kann es bezeugen. «Ich hatte schon 1938 Konzerte mit Rezensionen», erzählt er. Im Krieg wurde er als Soldat in den Osten Polens abkommandiert, wo er wenig später den einmarschierenden Sowjets in die Hände fiel. Tomaszewski fand sich in einem Waggon wieder, der nach Russland rollte. Doch es gelang ihm zu fliehen. Er lief zurück in seine westpolnische Heimatstadt Poznan; 1200 Kilometer seien das gewesen. Scheinbar ohne Rührung, fast heiter, erzählt der alte Mann, wie er unterwegs ein Schild erblickte: «Zelazowa Wola 4 km». Der Geburtsort Chopins, fast am Wegesrand. Der Wanderer unternahm einen Abstecher. Er fand das Gutshaus, wo der Komponist das Licht der Welt erblickt hatte, von einem hohen Zaun umgeben. «Ich bin drübergeklettert. Keine Menschenseele. Im Haus selbst Konservendosen und Papiere auf dem Boden, etwas Durcheinander, Spuren von Soldaten, aber nichts zerstört. Da setzte ich mich an den Flügel und spielte mein Programm. Chopin natürlich. Nur ein Wolfshund war anwesend. Er setzte sich aufrecht neben mich und heulte zu meinem Spiel.»

Fortan arbeitete der junge Mann in der Schweinezucht auf dem Lande. Kein Instrument weit und breit. Tomaszewski hebt seine Hände, als wolle er Wundmale zeigen: «Nach dem Krieg hatte es keinen Sinn, nach fünf Jahren Unterbrechung zum Klavierspiel zurückzukehren. So bin ich in die Musikwissenschaft gegangen.» Heute ist der in Krakau lebende, immer noch rührige und reisende Professor einer der bekanntesten polnischen Chopin-Forscher; mehrere seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt.

Auch der Warschauer Jan Ekier, Jahrgang 1913, hatte vor dem Krieg die pianistische Laufbahn eingeschlagen und sogar am Chopin-Wettbewerb teilgenommen. Er war es, der am 13. September 1939 im Warschauer Rundfunk den letzten Chopin-Abend gab, ehe die deutschen Panzer einrückten (er beschloss ihn mit der «Revolutionsetüde»). Das Schicksal meinte es milder mit ihm: Unter der Besatzung konnte er, wie auch die Komponisten Panufnik und Lutosławski, in den Warschauer Cafés aufspielen. Dazu in konspirativen Wohnzimmerkonzerten. Die deutschen Behörden hatten in ihren «Kulturpolitischen Richtlinien» von 1940 strengste Auflagen erlassen: Im Musikleben im besetzten Polen sei «primitive Unterhaltung» gestattet, auch solche erotischer Natur, jedoch nichts, was «künstlerische Erlebnisse» verheisse. Aus der polnischen Musik seien «Märsche, Volkslieder sowie klassische Werke» verboten. Überhaupt: Der «Geist des Polentums» dürfe auf keiner Veranstaltung in Erscheinung treten.

«Unter Blumen eingesenkte Kanonen»

Das galt offenbar in besonderer Weise für Chopin. Auch für sein berühmtes Denkmal im Warschauer Łazienki-Park, ein Werk des Jugendstils: Dort sass der Künstler unter einer Trauerweide, die vom Sturmwind gezaust wird. Das Denkmal wurde im Mai 1940 gesprengt, die Bronzeteile vermutlich eingeschmolzen. Selbst Kopien des Denkmals in Museen wurden zerstört; es gelang einem Mitarbeiter lediglich, eine verkleinerte Kopie des Kopfes zu verstecken. Die Warschauer schmerzte der Verlust. An der Stelle des Denkmals war wenig später eine Karte mit der Aufschrift zu sehen: «Ich weiss nicht, wer mich zerstört hat, aber ich weiss warum: Damit ich für euren Führer nicht den Trauermarsch spiele.»

Für sich selbst spielten die Polen – illegal, versteht sich – am liebsten die «Revolutionsetüde» sowie die As-Dur-Polonaise. «Am interessantesten war, dass man in den Buchhandlungen noch die Werke unserer grössten Dichter kaufen konnte, aber nicht Chopin spielen durfte», erzählt Ekier und erinnert an Robert Schumanns berühmtes Diktum: Chopins Werke seien «unter Blumen eingesenkte Kanonen». Die Bedrohung, die über jedem Wohnzimmerkonzert schwebte, das Risiko, ins KZ zu kommen und sein Leben zu verlieren, habe jeder dieser Veranstaltungen eine «besondere Stimmung» verliehen.

Als 1944 der Warschauer Aufstand ausbrach und die polnische Heimatarmee einige Stadtteile über Wochen halten konnte, spielte Ekier in der Aula des Polytechnikums die «Revolutionsetüde». «Plötzlich flog eine Gewehrkugel durchs offene Fenster, schlug gegen die Wand und blieb nicht weit von mir liegen. Ich sah es aus dem Augenwinkel, aber ich spielte weiter, ich liess mir nichts anmerken. Der Beifall war gewaltig. Nachdem ich mich verneigt hatte, hob ich die Kugel auf, als sei sie ein herausgefallenes Taschentuch. Ich habe sie bis heute.»

Die Zeit des Aufstands: Musik sei mehr als nur «Ornament», sie sei zu seiner Verwunderung ein «Artikel des täglichen Bedarfs» gewesen, erinnert sich Ekier. Und das Verbot Chopins habe diesen geradezu nobilitiert. Auch für die Juden in Warschau galt das Chopin-Verbot. Wer ihn gespielt hätte, erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki an seine Zeit im Ghetto, «der hätte wahrscheinlich diesen Tag nicht überlebt». Alle möglichen «arischen» Komponisten wurden im Ghetto aufgeführt; Chopin blieb das grösste Risiko. Ein Triumph für einen Komponisten, hundert Jahre nach seinem Tod eine solche Wirkung zu entfalten. Derweil wurden Chopins Werke in den Konzerthäusern Berlins auch im Krieg hundertfach gespielt.

Irgendwann müssen die Besatzer die strategische Bedeutung Chopins erkannt haben. 1942 kommt es, wie die Musikologin Katarzyna Naliwajek-Mazurek jetzt erforscht hat, zu einem Kurswechsel. Das Verbot Chopins wurde nicht nur aufgehoben, die Behörden warben unter kollaborierenden Kaffeehausmusikern geradezu dafür, Chopin zu spielen (offenbar jedoch ohne «Revolutionsetüde»). Die polnische Widerstandsbewegung rief dazu auf, diese Konzerte zu boykottieren.

Der Gouverneur spielt ein Nocturne

Ihren Höhepunkt erreichte die deutsche Aneignung des Komponisten im Oktober 1943 mit einer Chopin-Ausstellung im besetzten Krakau. Hans Frank, Generalgouverneur von Polen, Freund der Künste und der Beutekunst, hatte in Paris einen Flügel aus Chopins Besitz, dessen Totenmaske und weitere Erinnerungsstücke erworben. Frank verehrte Chopin und spielte für seine Gäste gelegentlich ein Nocturne, wie der Krakauer Historiker Andrzej Chwalba berichtet. (Ob auch das Nocturne cis-Moll darunter war, das der jüdische Pianist Władysław Szpilman in den Trümmern Warschaus darbot, muss hier offenbleiben). Der Gouverneur versuchte sogar, Chopin, den Feind des zaristischen Russland, für den antibolschewistischen Abwehrkampf einzuspannen. Noch vor dem Nürnberger Gerichtshof verwies Frank darauf, er habe in Krakau einiges für die polnische Kultur getan. Bis 1945 allerdings stets im Zeichen der These, «Chopin» gehe auf den elsässisch-deutschen Namen «Schopping» zurück, womit der Komponist gleichsam eingemeindet war.

Viele Begebenheiten des Krieges, schöne und schlimme, sind mit Chopin unterlegt. Der Komponist und Jazzgeiger Krzesimir Debski erzählt, wie sein Vater im besetzten Galizien bei einem griechisch-katholischen Priester zu Gast war. Da sei ein SS-Mann hereingekommen. Man habe zu dritt – der Pole, der Ukrainer und der Deutsche – gegessen und getrunken und musiziert; der SS-Mann habe auch Chopin gespielt – welch eine Geste. Dann die Verabschiedung. Noch am selben Tag habe der Deutsche auf dem Marktplatz der Stadt an der Erschiessung jüdischer Kinder teilgenommen.

Ein Herz kehrt zurück

Nur eine Chopin-Geschichte stiftet Trost. Noch einmal Warschau, noch einmal die Zeit des Aufstands. Im Herzen der Stadt, in Sichtweite der Wohnungen, in denen Frédéric Chopin Kindheit und Jugend verbrachte, steht die Heilig-Kreuz-Kirche. Dort ruht seit dem 19. Jahrhundert, getrennt vom Körper, das Herz Chopins – auf Wunsch des Komponisten in seiner Heimatstadt. Im August 1944 betritt ein deutscher Militärseelsorger die Kirche; Schulze oder Schulz muss sein Name gewesen sein. Er spricht den polnischen Pfarrer Niedziela an und gesteht seine Liebe zu Chopin. Bald werde, so sagt er warnend, der Häuserkampf die Kirche erreichen. Er bittet darum, die Urne mit dem Herz herausnehmen und zu Erzbischof Szlagowski ausserhalb der Stadt bringen zu dürfen. So geschieht es denn auch. Zu sehen ist die Szene im Dokumentarfilm «Serce Chopina» (Chopins Herz) von Piotr Szalsza. Der deutsche Offizier, der die Urne überreicht, scheint sich dabei etwas zu genieren.

Und dann das Jahr 1945. Wo die Deutschen abziehen, hält Chopin Einzug: Jede Stadt feiert ihr erstes Konzert mit seiner Musik. Als im zerstörten Warschau die Urne mit dem Herz feierlich in die Kirche zurückgeführt wird, spielt Jan Ekier. In diesem Herbst war der 97 Jahre alte Musiker und Komponist noch einmal Gast des Chopin-Wettbewerbs, in dem er 1937 den 8. Platz belegt hatte. Der schmächtige Mann mit dem feinen Humor verrät auch, was ihm in dem Werk des Komponisten, das er nach dem Krieg ediert hat, am teuersten ist: Wenn er auf eine einsame Insel umziehen müsste, sagt Ekier, würde er die Mazurken mitnehmen, dieses «programmfreie intime Tagebuch» Chopins. Vorausgesetzt, es gäbe auf der Insel einen Flügel.