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Der Grenzgänger

von Tommy Heyn / 0 Kommentare
16.02.2011 um 21:29 Uhr

Der erste Eindruck: Das Foto eines älteren, lässig wirkenden Typs in Polizei-Voll- montur, Zigarette im Mundwinkel, Maschinenpistole im Anschlag. Richard Hebstreit könnte wohl ganz gut mit der Waffe umgehen, wäre sie echt. Denn neben einer be- ständigen Karriere als Kleindarsteller war er einmal Grenzsoldat der Nationalen Volksarmee. Ferner: Designer, Berufsberater, Dozent und Internetpionier. Heute ist er 64, und immer noch bestens vernetzt. Das Bild mit der Maschinenpistole war Heb- streits Wettbewerbs-Beitrag im Rahmen unseres Facebook-Titelfoto-Contests! Es wurde zwar nicht das Cover der ersten feed-Ausgabe, führte uns aber zu einer außergewöhnlichen Lebensgeschichte.

Richard Hebstreit wird 1946 in Melsungen bei Kassel geboren. Zwei Jahre später zieht seine Familie nach Bad Salzungen in die damalige sowjetische Besatzungszone. Hebstreit verbringt den Großteil seines Lebens in der DDR. Die Grenze zum Westen wird für ihn aber sehr bald eine besondere Bedeutung erhalten. Im Sommer 1962 will er mit seinem Freund Eberhard an die Ostsee, Urlaub machen. Die beiden kommen nur bis Löwenberg. Dort regnet es tagelang, also fahren sie per Anhalter zurück nach Berlin. Es ist Nacht, umsonst geht es erst mal nicht weiter. Der Plan, im Wartesaal des Ost- bahnhofs zu schlafen erweist sich als folgenschwer. Sie verirren sich im Grenzgebiet und laufen einer Streife des Grenzregiments 35 in die Arme. „Dringender Tatverdacht auf Republikflucht“ heißt es. In Hebstreits Campingbeutel: eine Schreckschusspistole tsche- chischen Fabrikats. Als die Waffe, eingebettet in eine Marmeladensemmel, von den Grenzern am Ostbahnhof entdeckt wird, sieht es ernst aus. Wegen versuchtem, beabsichtigtem und bewaffnetem Grenzdurchbruch landet Hebstreit in einem Jugend- werkhof-Durchgangslager und vor dem Staatsanwalt. Ein paar glückliche Umstände, sowie die Tatsache, dass die jungen Männer keinerlei Munition für die Waffe besaßen, lässt das Ganze glimpflich ausgehen. Das Verfahren wird ausgesetzt, Hebstreit und sein Kumpel können mit dem Hinweis, nun ständiges Hauptstadtverbot zu haben, die Heimreise antreten.

Wehrdienst in der NVA

Vier Jahre später, der Wehrdienst bei der NVA steht an, landet er ausgerechnet in derselben Grenzeinheit, die ihn damals verhaftet hatte. Dass er mit dieser Vorgeschichte überhaupt zum Grenzregiment 35 nach Berlin-Rummelsburg geschickt wurde, ist einem Zufall geschuldet. Eine Schludrigkeit der Behörden, die es einige Jahre später wahrscheinlich nicht mehr gegeben hätte. Über seine Zeit bei der NVA hat Hebstreit das Buch „Grenzsoldat“ geschrieben, das im März 2007 im Ronald Hande Verlag erschienen ist. Auf 150 Seiten berichtet er über Armeealltag, Fluchtpläne, und Schießbefehl. Lesenswert ist das Buch nicht nur wegen der unterhaltsam-authentischen Sprache, in der Geschichten erzählt werden, die sich so wohl in jeder anderen Armee ähnlich abspielen. Interessant sind vor allem die Reflexionen über den Umgang mit der unmittelbaren Bedrohung, tatsächlich abdrücken zu müssen. Hebstreit dokumentiert einen Alltag gelebten Widerspruchs. „In den Schulungen und der gesamten agitatorischen Einflussnahme wurde die Grenze zwar als antifaschistischer Schutzwall definiert, welcher als Bollwerk nach außen dienen sollte. Selbst aber der bescheuertste Soldat konnte sehen, dass die Anlagen dazu da waren, die eigenen Bürger die Grenze nicht überwinden zu lassen“, erinnert er sich.

Der Westen in Sichtweite: Hebstreit als NVA-Grenzsoldat.

Nach dem Wehrdienst arbeitet Hebstreit als Dreher und Werkzeugmaschinenschlosser in Leuna und Schkopau. Die Arbeit ist müßig, „zu laut, zu dreckig, zu schlecht bezahlt“. Hebstreitwill mehr, fragt nach und kommt zu den „Aufmachern“, quasi eine Spe- zialabteilung der BUNA-Werke, die eben alles „aufmacht“. „Getriebedeckel, Pum- pengehäuse, Tresore, Aktenschränke, Bürotüren. Jeder, der seinen Schlüssel im Werk versiebt hat, oder abgebrochen, ruft uns an. Es gibt nichts, was wir nicht aufbekommen“, erklärt man ihm. Ein Jahr arbeitet er dort.  Schade eigentlich, dass die so erworbenen Fähigkeiten später keine Anwendung mehr finden. Denn: „Jemand, der mit links und vierzig Fieber jede Tür und jeden Tresor knacken kann, ist nur bei einem Schlüsseldienst oder bei der Geldschrankknackergilde optimal qualifiziert.“

1972 beginnt Hebstreit ein Studium zum Ingenieurpädagogen in Karl-Marx-Stadt. Im heutigen Chemnitz ist das Studentenleben unbeschwert:  Der Wohnheimplatz kostet 9,00 DDR Mark. Das einheitliche Stipendium beträgt 180 Mark. Inhaltlich ist die Lehre auf dem neuesten Stand. Nervig nur: „Die Wertigkeit der ML(marxistisch-leninistischen)- Fächer lag vor den naturwissenschaftlichen.“ Aber: „Wenn man nach den Lehrveranstaltungen mit den Dozenten bei einem Glas Bier saß, bekam man auch mal eine total andere Sichtweise auf die „sozialistischen Realitäten“ vermittelt, als einige Stunden zuvor doziert wurde.“ Nach dem Studium geht Hebstreit als Lehrausbilder zurück zu den BUNA-Werken und arbeitet knapp zehn Jahre im Berufsberatungszentrum in Bad Salzungen. Dann zieht es ihn zum Design, er wird Musterbauer beim VEB Kunstgewerbe Pappenheim. Kurz vor dem Mauerfall vollzieht sich noch eine ganz andere Wende. Hebstreit hat im Betrieb erstmals Zugriff auf einen PC, kommt privat „zufällig“ an einen Atari. Wir schreiben das Jahr 1987.

Das erste PC-Netzwerk der DDR

Der Umgang mit dem Computer liegt ihm, die Arbeit, für die seine Kollegen mit Kurbelrechenmaschinen und Papiertabellen einen ganzen Tag brauchen, erledigt er in einer halben Stunde. Plötzlich sind die Grenzen offen. Die DDR wird abgewickelt. Nun soll deren gesamte Administrative an westdeutsche Standards angepasst werden. In diesem Prozess nimmt Hebstreit eine neue Herausforderung an: 1990 wird er Chef des Hauptamtes der Stadtverwaltung Bad Salzungen. Besonders überzeugend: Seine Behauptung, „die Weiterbildungsaufgaben der Mitarbeiter der Verwaltung gleich so nebenbei mit zu organisieren“, und das, „in einer Verwaltung, in der es zwei elektrische Schreibmaschinen gab und wo man von EDV nur in der Zeitung gelesen hatte.“  Es folgt eine Phase, in der Hebstreit mit seiner Stadtverwaltung technisch ganz vorne mitspielen will. Er traut dem normalen Stand der Entwicklung in Westdeutschland nicht. Es muss doch noch etwas anderes geben als die damals üblichen Großrechnersysteme der kommunalen Gebietsrechenzentren. Er fragt an der Universität Kassel nach. Dort sagt man ihm: „Organisiere ein PC Netzwerk unter Novel, verbinde es mit Glasfaserkabeln!“ Man schickt ihn nach Nordhorn, die „hätten da sowas“. Ein paar Wochen später stellt er seinen Projektplan den Abgeordneten vor. Die nicken das Ganze ab, den Unterschied zwischen Zentralrechner und PC kennen sie nicht.

Hebstreit hat damit nicht weniger als das erste kommunale PC-Netzwerk in den neuen Bundesländern geschaffen. Und einen Krieg gegen sich selbst ausgelöst. Äußerlich heuchelt man Begeisterung: „Man kann sich doch nicht der neuen Zeit verschließen“, heißt es. Intern sind alle gegen ihn. „Die EDV war für die Teufelszeug. Denen musste ich dann leider sagen, „Wenn die EDV funktioniert, muss die Hälfte von euch nach Hause gehen. Wenn ich diesen Kollegen in der Stadt begegnete, sind die auf die andere Straßenseite gegangen. Man mied mich wie die Pest“.“ Schließlich feuern sie ihn. Heb- streit nimmt es locker. „Am Lernprozess Spaß zu haben, sich die neuesten Ent- wicklungen zu eigen machen“, das war ihm wichtiger. Auch privat spielt das „Netzwerken“ eine immer größere Rolle. Freunde experimentieren mit den ersten Modems. 1991, zu einer Zeit, als das Wort „Internet“ in Deutschland fast gänzlich unbekannt ist, stellt Hebstreit seine erste eigene Netzwerkverbindung her, zwischen Breitungen und Bad Salzungen. Die Daten, die empfangen werden, sind Witze und Aktfotos.

Internetpionier Hebstreit nach der Wende

1993 macht Hebstreit sich als Produkt-und Grafikdesigner selbstständig. Seine Agentur nennt er „rhebs design“. Das Hauptgeschäft ist Werbung. Durch den Verkauf und die Vermittlung sogenannter Stockfotos („to have in stock“ – „auf Lager haben“) wird das Internet zwangsläufig zum Arbeits-Werkzeug: Spezielle Motivanfragen werden damals noch aus zwei gescannten Diapositiven via Photoshop montiert. Hebstreit: „Jemand konnte das aber über das Compuserve-Netzwerk schneller und billiger. Es wurden da keine Negative mehr hin und her geschickt. Es waren jpg-Daten aus Kanada. Ohne dass ich es eigentlich merkte, war ich damit, als ich das selber praktizierte, im Internet gelandet.“ Und er verbreitet die Kunde, hält öffentliche Vorträge über die Möglichkeiten der neuen Technik. Viele halten ihn damals für einen Spinner. Hebstreit lässt sich nicht beirren.

Eine Zeit lang organisiert er via Callback Telefonvolumen per Internetseiten über eine kleine Telefongesellschaft in Phoenix, Arizona. „Da stand ich mal einen Monat in der CONNECT mit dem billigsten Telefontarif in die USA von Europa aus. Meine Bank fragte dann, wie es kommt, dass ich regelmäßig so dicke Schecks aus den USA bekomme, wo ich doch ersichtlich in Bad Salzungen arbeite. Antwort: „Internet-Spinner können halt sowas!“.“ Nicht alle Projekte werden ein Erfolg. Der scheinbar unstillbare Drang technische Innovationen zu erproben führt auch zu Niederlagen: Als der DAB-Standard (Digital Audio Broadcasting) kommt ist Hebstreit wieder mit dabei. Er hat quasi seinen eigenen Radiosender, auf dem jahrelang rund um die Uhr der gleiche Song dudelt: „Stand by your man“ von Tammy Wynette. Dazu Stadtinformationen per Text und Bild über Meiningen, Eisenach und Suhl. In ganz Thüringen gibt es knapp 10 Radios, die die DAB-Signale überhaupt empfangen können. Hebstreit ist wieder zu früh dran. „Der hat einen Radiosender und ist jetzt größenwahnsinnig geworden“, heißt es in Bad Salzungen. „Im Ergebnis solcher Aktivitäten habe ich meine kleine Agentur dann gegen die Wand gefahren.“

„Viren, Extremistenpropaganda und Cracker“ – die regionale Presse berichtet über Hebstreits Informationsveranstaltungen.

EDV-Berater, Pressefotograf, Film-Komparse…

Wieder ein Neustart, diesmal in Berlin. Als freiberuflicher Dozent und Berater arbeitet er weiter im Bereich EDV und Grafik. Nebenbei konnektiert er Domains, füllt sie mit Content und wartet einfach ab, was passiert. So zum Beispiel berlinlinks.de. Da meldet sich eine Entwicklungsgesellschaft, es geht um den Stralaukiez. Hebstreit liefert Texte und Bilder, jubelt den Kiez kräftig mit hoch. „Heute ist es dort ganz fein und fein war auch damals das Honorar. Tausend Mark gab es für eine DIN A4 Seite Text. Ich hab mir die Finger wund getippt und vom Salär einen Jollenkreuzer, das  Segelboot „Maria“ gekauft. Es waren paradiesische Zeiten“, erinnert er sich. Nach vier Jahren sind die Entwicklungs- gesellschaftsgelder verbraten, berlinlinks.de und „Maria“ verkauft.

Hebstreit wird älter, aber zur Ruhe setzt er sich nicht. In seiner Studentenzeit hatte er nebenbei als Pressefotograf gearbeitet, die Lust am Fotografieren kehrt zurück. Für einen Komparsenjob soll er einen Papparazzo spielen. „Da waren auch echte arme Pressefotografen dabei und in den Drehpausen hab ich die ausgefragt, wie ihr Job funktioniert.“ Wenige Tage später ist er mit www.oparazzi.de online. „Anfangs waren meine Fotos grauenhaft. Langsam werde ich besser.“ Das ist leicht untertrieben. Die „Zeit“ hat angebissen für ein erstes Foto. Eines von Hebstreits Bildern ziert die Titelseite einer Wochenzeitung in Bayern. Er ist jetzt 64 Jahre alt.

NACHTRAG

Die Geschichte von Richard Hebstreit ist damit längst nicht erzählt. Googelt man den Begriff „rhebs“ (ein Kunstwort, das Hebstreit seit den Anfängen des Internets benutzt), findet sich ein schier endloser Schatz an Anekdoten und Zeitdokumenten. Dass all das in einem einzigen Leben passiert sein soll, ist mitunter kaum zu glauben. Hebstreit entspricht dem Idealtypus des modernen, Arbeitskraftunternehmers, und das lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Als Hebstreits Arbeitsleben begann, lautete die Losung noch: Ausbildung, Anstellung(-en) im erlernten Beruf, Rente. Was treibt einen Menschen an, immer wieder neue Wege zu gehen, Privates und Arbeit gedanklich nicht zu trennen? Nicht zu resignieren, wenn Arbeitsmarkt und Ausbildung in keinem guten Verhältnis zueinander stehen? Sicher, gewisse Talente waren vorhanden, Zufälle spielen in Heb- streits Leben eine große Rolle, genauso aber Strategie und Cleverness. Fragt man ihn selbst, führt er seine Kindheit an. Seine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern waren Unternehmer (Bahnspediteure), bis zur Enteignung. Egal ob Stückgut nach Rostock oder hunderte Tonnen Weintrauben aus Rumänien. Man brauchte ein europaweites Bahnnetz, funktionierende Telefone und viele, viele Speditions-Partner. „Als Kind war mein Spielplatz der Güterbahnhof, wo ich mitbekam, dass mein Vater das Geld mit Telefonieren verdiente. Meine Mutter arbeitete als junge Frau in Budapest, Wien, Paris, Guernsey und erzählte mir was von der Welt. Opa handelte mit Hunden und Zirkuspferden. Da hat man gelernt, wie man sich auf neue Bedingungen einstellen muss. Gingen keine Wein- trauben, dann waren es halt Thermometer. Die Abläufe sind oftmals dieselben.“

Das Logo des Familienunternehmens: Ein fliegender, dampfschnaubender Teufel mit einem Güterwaggon auf dem Rücken und den Reichsbahnflügeln an den Füßen.

In seiner Zeit als Berufsberater musste er sich zudem mit dem Begriff „ARBEIT“ ausgiebig wissenschaftlich-theoretisch und praktisch beschäftigen. „Da habe ich die damals gewonnen Erkenntnisse einfach rabiat für mich genutzt“, sagt Hebstreit. Und: „Egal was ich auch gemacht habe, ständig was neues dazu zu lernen macht Spaß und eröffnet Freiräume zu ganz anderen Möglichkeiten, an die man vorher nie denken konnte. Das lebenslange Lernen ist keine Last, sondern Extrapolieren der Chancen, das zu tun was Spaß macht und Zufriedenheit mit dem Alltag erzeugt. Arbeit wird erst pfiffig, wenn es keine Grenzen mehr zu Neigungen und Hobbys gibt.“ Derzeit sucht Hebstreit nach einem Verlag für sein zweites Buch, das er „Salzzungen“ nennen will. Ein Schelmenroman sei es geworden, sagt er. Er wird weiter schauspielern, schreiben, online wie offline, und wenn sich eine neue, spannende Gelegenheit ergibt, wozu auch immer, dann wird er sie sich sicher nicht entgehen lassen. Ich selbst bin 25 Jahre alt. Ich studiere Soziologie. Hebstreits Geschichte lässt mich ein bisschen entspannter in die Zukunft sehen.




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