In einer Zeit der Umbrüche, wie wir sie aktuell durch Pandemie, Kriege und Klimawandel erfahren, müssen wir uns dringender denn je die Frage stellen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Denn nun werden die Weichen für künftige Generationen gestellt. Doch statt sachlich zu diskutieren, nutzen Populisten die Frage, um die Grundlagen unserer Demokratie aufzuweichen. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit den verletzlichsten Gruppen unserer Gesellschaft, vor allem in Bezug auf Armut. Der Populismus zeigt sich mehr denn je in den Diskussionen um Kindergrundsicherung, Bürgergeld und den Umgang mit Geflüchteten.

Der Kern unseres Gesellschaftsvertrags ist die soziale Marktwirtschaft. Sie ist die Grundlage für den Erfolg und den großen Wohlstand, den wir heute genießen, und beruht auf drei Grundpfeilern: Die Chancengleichheit soll garantieren, dass alle Menschen von Geburt an die gleichen Chancen haben, ihre Talente und Fähigkeiten zu entwickeln und zu nutzen. Die soziale Teilhabe stellt den Menschen als soziales Wesen in den Mittelpunkt, dem alle Möglichkeiten offenstehen, an gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben und diese mitzugestalten; die Grundsäule der Solidarität soll jedem ein menschenwürdiges Dasein gewähren, indem die stärksten Schultern der Gesellschaft mehr Verantwortung übernehmen als die schwächsten.

Doch die Armut untergräbt diese gesellschaftliche Basis unseres Zusammenlebens. Ihr Ausmaß und der Umgang mit ihr ist ein frappierender Bruch dieses Gesellschaftsvertrags. Armut raubt den betroffenen Menschen ihre Würde und die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Sie verwehrt ihnen die Möglichkeit, Teil der Gesellschaft zu sein und sich einbringen zu können. Und sie bedeutet für viele ein Trauma, weniger Lebenszufriedenheit und Glück, eine schlechtere Gesundheit, Ausgrenzung und Abhängigkeit vom Sozialstaat.

Armut schwächt die Demokratie

Armut schadet aber nicht nur den jeweiligen Betroffenen erheblich, sondern der gesamten Gesellschaft: Sie spaltet die Gemeinschaft und entzieht ihr viele Menschen, die sich engagieren wollen, aber armutsbedingt nicht können. Unternehmen und Wirtschaft entgehen potenzielle Fachkräfte, die heute dringender denn je benötigt werden und die einen wichtigen Beitrag zum Erfolg eines Unternehmens, der ökologischen Transformation oder in der Pflege und im Gesundheitssektor leisten.

Armut belastet zudem die Sozialsysteme. Es bindet finanzielle und personelle Ressourcen, die viel zielführender für ein leistungsfähiges Bildungssystem, für sozialen Frieden oder ein effektives Gesundheitssystem zur Verfügung stehen könnten. Und Armut schwächt die Demokratie, weil fehlende soziale Teilhabe auch immer die politische Teilhabe erodieren lässt.

Die Bekämpfung der Armut spaltet Politik und Gesellschaft wie nie zuvor. Der Streit um die Kindergrundsicherung oder das Bürgergeld zeigt die Perversität der Debatte und das falsche Verständnis von Armut und deren Ursachen und Konsequenzen. Es setzt sich zunehmend ein Narrativ im öffentlichen Diskurs durch, das Armut als ein von den Betroffenen selbst verursachtes Phänomen dargestellt: Menschen seien faul und wollten nicht arbeiten, sie wollten sich in die soziale Hängematte legen und auf Kosten anderer leben. Das Lohnabstandsgebot sei nicht groß genug, sodass Menschen mit Bürgergeld schlichtweg eine rationale und richtige Entscheidung für sich träfen, indem sie lieber Leistungen bezögen, als zu arbeiten.

Bei der Bekämpfung der Kinderarmut durch die Kindergrundsicherung hieß es von mancher Seite, Armut hätte etwas mit Migration zu tun und ihre Bekämpfung sei daher weniger dringlich. Der einzige Weg aus der Armut, so lautet manche politische Stimme in diesem Diskurs, sei es, Eltern zur Arbeit zu zwingen, indem soziale Leistungen gekürzt und harte Sanktionen auferlegt werden.

Diese Beispiele zeigen, dass sich der Armutsdiskurs in Deutschland stark auf populistische Ideen und Narrative mit falschen Fakten stützt. Der Diskurs zeichnet ein Menschenbild, das dem Ideal der sozialen Marktwirtschaft nicht stärker widersprechen könnte. Von Armut bedrohte Menschen werden als unsoziale Wesen dargestellt, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören oder gehören sollten. Dabei hat Armut weder Hautfarbe noch Religion noch Herkunft.

Geschäftsmodell der AfD

Der Populismus liegt darin, dass einige wenige Menschen, die die Sozialsysteme missbrauchen, als repräsentativ für alle von Armut betroffenen Menschen dargestellt werden. Die überwältigende Mehrheit derer, die von Armut betroffen sind und ihr Möglichstes versuchen, um wieder Fuß zu fassen, werden in Kollektivhaftung genommen. 

Das Perfide dieser populistischen Armutsdebatte ist, dass verletzliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Der Staat gebe zu viel Geld für die Sozialsysteme aus, daher müssten soziale Leistungen gekürzt werden, heißt es dann. Oder: Die Armut der einen sei verantwortlich für die Probleme der anderen. Solche Narrative sind mächtig und effektiv, weil sie bei vulnerablen Gruppen Ängste schüren und ihnen suggerieren, die Verantwortung für ihre schwierige Lage liege bei den Menschen, denen es noch schlechter geht. Die AfD hat dieses Narrativ zu ihrem Geschäftsmodell gemacht – mit beachtlichem politischem Erfolg an der Wahlurne. Zahlreiche Politiker und Politikerinnen auch demokratischer Parteien folgen diesem Beispiel, um auf Stimmenfang zu gehen.

Wir brauchen dringend einen ehrlichen, sachlichen Diskurs zu Armut und zur Armutsbekämpfung in Deutschland. Ein solcher Diskurs muss mit harten Zahlen und Fakten geführt werden, um die perfiden und falschen Argumente der Populisten zu entlarven. Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft sind gemeinsam in der Pflicht, den Kurs dieser Debatte zu korrigieren, mit falschen Narrativen aufzuräumen und konkrete Lösungen anzubieten.